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Ausgabe 1-2/2024

Kein Haftungsprivileg gemäß § 106 Abs. 3 Variante 3 SGB VII zwischen Bauüberwacher und Baggerführer

Die vom Bundesgerichtshof (BGH) formulierten Definitionen zum Haftungsprivileg bei gemeinsamer Betriebsstätte gemäß § 106 Abs. 3 Variante 3 SGB VII sind sehr komplex. Das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main hat die BGH-Definition präzisiert. Es hat festgelegt, welche Teile der BGH-Definition stets Voraussetzung für das Haftungsprivileg sein müssen und welche nur als zusätzliche Einschränkungen gelten.

§ Grundurteil des Landgerichtes Frankfurt am Main vom 08.05.2023, Az. 2-10 O 273/21, sowie Beschluss des Oberlandesgerichtes Frankfurt am Main vom 26.10.2023, Az. 8 U 110/20

In diesem Zivilprozess klagte eine Berufsgenossenschaft anlässlicheines Arbeitsunfalls eines Ingenieurs, der auf einerBaustelle als Bauüberwacher tätig war und während dieserTätigkeit von einem Zwei-Wege-Bagger an- und überfahren wurde.In der Folge erlitt er eine Teilamputation des Unterschenkels.Der Baggerführer und seine Arbeitgeberin wurden als Beklagtein diesem Regressprozess in Anspruch genommen. Der Baggerführerfuhr rückwärts, ohne sein Führerhaus in Fahrtrichtung zudrehen, ohne eine Möglichkeit zu haben, durch die Scheibe nachhinten blicken zu können, und dies bei einem ausgeschaltete Rückfahrwarnton. Ob eine Rückwärtsfahrkamera eingeschaltetwar, blieb streitig. Der Bauüberwacher hatte sich bei dem etwa50 Meter entfernt auf den Schienen befindlichen Baggerführernicht explizit angemeldet. Allen Baufirmen und deren Beschäftigtenwar indes bekannt, dass mindestens zweimal am Tag Mitarbeitendeder Bauüberwachungsfirma die Baustelle aufsuchenund ihrer Arbeit nachgehen. Der Bauüberwacher bewegte sichzu Fuß weg vom Bagger und wurde gleichwohl von diesem überfahren.Damit war klar, dass der Bagger zügiger als mit Schrittgeschwindigkeitrückwärts gefahren sein musste.

Die Berufsgenossenschaft entschädigt den Unfall des Bauüberwachersund nimmt die Beklagten aus gemäß § 116 Sozialgesetzbuch(SGB) X übergegangenem Recht in Regress. Die hinter dem Baggerfahrerund dessen Arbeitgeberin stehende Haftpflichtversicherungwendet ein Haftungsprivileg des Baggerfahrers gemäß § 106Abs. 3 Variante 3 SGB VII ein, das auch gegenüber der Arbeitgeberindes Baggerführers über ein gestörtes Gesamtschuldverhältniszu deren Nullhaftung führe. Hilfsweise wird von den Beklagtenein anspruchsausschließendes Mitverschulden geltend gemacht.

Das Landgericht Frankfurt am Main hat in seinem Grundurteilvom 8. Mai 2023 ein Privileg wegen des Tätigwerdens auf einer gemeinsamenBetriebsstätte gemäß § 106 Abs. 3 Variante 3 SGB VIIverneint und ein Mitverschulden des Geschädigten nur in Höhevon 25 Prozent angesetzt. Diese Entscheidung – kein Haftungsprivileg– wurde damit begründet, dass der Bauüberwacherunabhängig von der konkreten Tätigkeit des Baggerführers dieBaustelle inspiziert und den Baufortschritt beziehungsweise dieerbrachten Leistungen und die Ordnungsgemäßheit der Baustelleneinrichtungüberwacht hat. Die konkrete Tätigkeit des Baggerführerswar für den Bauüberwacher und für dessen Aufgabenerfüllungohne Bedeutung. Der Baggerführer hat seinerseitsin keiner Weise mit dem Bauüberwacher bewusst und gewolltzusammengearbeitet. Beide haben schlicht nebeneinander, inkeiner Weise jedoch miteinander und mit Bezug zueinander gearbeitet.Es läge zwar ein gravierendes Verschulden des Baggerfahrersvor. Gleichwohl hafte er nicht allein und zu 100 Prozent.Das Mitverschulden des Geschädigten sei nämlich mit 25 Prozentzu bewerten. Der Bauüberwacher hatte sich zwischen Bagger undeiner sogenannten Baustelleneinrichtungsstelle fortbewegt, obwohler wusste, dass der Bagger ab und zu bis zu dieser Einrichtungsstellefährt. Deshalb wäre es für ihn geboten gewesen, sichregelmäßig zum Bagger umzudrehen – das habe er nicht getanund deshalb treffe ihn ein gewisses Mitverschulden.

Die Beklagten legten gegen dieses Grundurteil Berufung ein undverfolgten weiterhin das Ziel einer vollständigen Klageabweisung.

Das OLG Frankfurt am Main hat in einem Beschluss vom 26. Oktober2023 den Beklagten empfohlen, ihre Berufung zurückzunehmen. Das erstinstanzliche Gericht habe zu Recht das Vorliegeneiner gemeinsamen Betriebsstätte im Sinne des § 106Abs. 3 Variante 3 SGB VII verneint. Denn für die Annahme einer gemeinsamen Betriebsstätte ist es nach der Rechtsprechungdes BGH nicht ausreichend, dass die Versicherten mehrerer Unternehmen gleichzeitig am selben Ort arbeiten, sondern dafürmüssen die Aktivitäten der einzelnen Versicherten dieserUnternehmen bewusst und gewollt bei einzelnen Maßnahmen ineinandergreifen, miteinander verknüpft sein, sich ergänzenoder unterstützen. Erforderlich ist ein bewusstes Miteinanderim Arbeitsablauf, das sich zumindest tatsächlich als ein aufeinanderbezogenes betriebliches Zusammenwirken mehrererUnternehmen darstellt.

Der BGH hat seine Definition teils mit einschränkenden Ergänzungenversehen. So soll es ausreichen, dass die gegenseitigeVerständigung stillschweigend durch bloßes Tun erfolgt. Dieskönne auch der Fall sein, wenn die von den Beschäftigten verschiedenerUnternehmen vorzunehmenden Maßnahmen sich zwar nicht sachlich ergänzten oder unterstützten – aber die gleichzeitigeAusführung der betreffenden Arbeiten wegen der räumlichenNähe eine Verständigung über den Arbeitsablauf erforderten.Zudem müssten dann aber hierzu konkrete Absprachen getroffenwerden. Bei einem zeitlichen und wirklichen Nebeneinanderdieser Tätigkeiten müssten solche nur bei Einhaltung besondererbeiderseitiger Vorsichtsmaßnahmen möglich sein und die Beteiligtensolche vereinbaren.

Durch solche Einschränkungen soll aber der Kern der Definitionder gemeinsamen Betriebsstätte unberührt bleiben. Vielmehrwollte der BGH nur deutlich machen, dass weder ein besonderer Organisationsgrad des Miteinanders erforderlich ist noch eine echte Zusammenarbeit im Sinne einer Arbeitsgemeinschaft. Eine gemeinsame Betriebsstätte liegt deshalb nicht schon dannvor, wenn – wie hier – zwei Versicherte unterschiedlicher Unternehmenbei der Arbeit räumlich aufeinandertreffen und eineKontaktaufnahme deshalb zur Vermeidung des Unfalls sinnvoll gewesen wäre. Der BGH verweist überzeugend wiederholt darauf,dass eine gemeinsame Betriebsstätte nach allgemeinem Verständnismehr als dieselbe Betriebsstätte ist und dass das bloßeZusammentreffen von Risikosphären mehrerer Unternehmen den Tatbestand der Norm nicht erfüllt. Parallele Tätigkeiten, die sichbeziehungslos nebeneinander vollziehen, genügen ebenso wenigwie eine bloße Arbeitsberührung. Erforderlich ist vielmehreine gewisse Verbindung zwischen den Tätigkeiten als solchenin der konkreten Unfallsituation. Würden Umstände wie die obendargestellten für eine Haftungsprivilegierung nach § 106 Abs. 3Variante 3 SGB VII ausreichen, hätte es der komplexen Definitiondes BGH nicht bedurft, sondern genügt, auf die räumliche Näheder Tätigkeiten der beiden Versicherten abzustellen.

Da es der BGH bisher unterlassen hat, einerseits die Vielzahl seinerUmschreibungen zur Definition der gemeinsamen Betriebsstätteim Sinne des § 106 Abs. 3 Variante 3 SGB VII in ein Stufenverhältniszu setzen, aus dem eindeutig ersichtlich ist, welcheVoraussetzungen stets erfüllt sein müssen, um das Privileg anzunehmen,und andererseits welche seiner Formulierungen alslediglich einschränkende Ergänzungen zu verstehen sein sollen,hat dies bei der Subsumtion diverser tatsächlicher Sachverhalteunter die BGH-Definitionen bisher einen gewissen Auslegungs- undInterpretationsspielraum eröffnet. Dieser Spielraum ist durchden Beschluss des OLG Frankfurt am Main deutlich eingeengtworden, was im Sinne der Rechtsklarheit zu begrüßen ist.

Die Inhalte dieser Rechtskolumne stellen allein die Einschätzungen
des Autors/der Autorin dar.

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