Aus der Rechtsprechung: Gesundheit!
Führt ein Niesanfall auf dem Heimweg nach der Arbeit zu einem Unfall, ist dieser nicht als Wegeunfall zu werten. Zu diesem Urteil kommt das Sozialgericht Stuttgart.
SG Stuttgart, Urteil vom 30.07.2018 – S 12 U 327/18 –, juris
Auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII versicherten Heimweg zog sich der Kläger in seinem Lkw eine Rippenverletzung zu, als er mit seinem Körper nach rechts auf die Handbremse oder die Gurteinsteckvorrichtung umkippte. Nach „nicht ganz einheitlichen Schilderungen zum Unfallgeschehen“ ging das Sozialgericht Stuttgart (SG Stuttgart) in der hiesigen, einen Arbeitsunfall ablehnenden Entscheidung davon aus, dass der Kläger „entweder aufgrund eines Niesanfalls bei der Fahrt … umkippte, oder er verlor bei dem Griff nach den Taschentüchern das Gleichgewicht und kippte um“ (Rz 28). Beides sah das SG Stuttgart nicht als eine „auf das Zurücklegen des Weges gerichtete Verrichtung“ an (Rz 28).
Es fehle zudem an der Unfallkausalität, weil die Wegeunfallversicherung nur vor Gefahren schütze, „die aus der Teilnahme am öffentlichen Verkehr als Fußgänger oder Benutzer eines Verkehrsmittels, also aus eigenem oder fremdem Verkehrsverhalten oder äußeren Einflüssen während der Zurücklegung des Weges hervorgehen“ (Rz 30). „Niesen und Greifen nach Taschentüchern stellen keine Gefahren dar, die aus der Teilnahme am öffentlichen Verkehr resultieren. Für ein Mitwirken verkehrsspezifischer Ursachen finden sich keine belastbaren Anhaltspunkte. Ein spezifisches Wegerisiko hat sich damit beim Fall auf Handbremse oder Gurteinsteckvorrichtung nicht verwirklicht“ (R 30).
Das SG Stuttgart verneint eine versicherte Tätigkeit des Klägers im Moment des schädigenden Ereignisses. Das erscheint zweifelhaft. Wir niesen nicht mit einer (subjektiven) Handlungstendenz; weder „betrieblich“ noch „eigenwirtschaftlich“. Wir niesen einfach, in der Regel reflexartig. Wir könnten höchstens (kausal) fragen, warum wir niesen – das hat das SG Stuttgart kurz gestreift und eine betriebliche Niesursache ausgeschlossen.
Beim Griff zum Taschentuch können wir durchaus über eine eigenwirtschaftliche Handlung nachdenken, wobei sich allerdings direkt der Aspekt einer nur geringfügigen (versicherten) Unterbrechung aufdrängt. All das können wir jedoch getrost beiseitelegen, weil wir nicht vergessen sollten, dass der Kläger weitergefahren ist. Wenn wir also irgendein „eigenwirtschaftliches“ Verhalten des Klägers sehen würden, müssten wir dies in den Kontext einer sogenannten gemischten Tätigkeit (gleichzeitige untrennbare Verrichtung mindestens zweier Tätigkeiten, von denen eine versichert ist) setzen und mit Praxis und Rechtsprechung eine versicherte Tätigkeit bejahen. Die eigentliche Problematik einer solchen gemischten Tätigkeit spielt sich dann auch erst später in der Unfallkausalität (die Ursächlichkeit von versicherter Tätigkeit für das Unfallereignis) ab. Insofern richtet sich der Blick des SG Stuttgart richtigerweise auf diesen Punkt.
Das SG Stuttgart verneint die Unfallkausalität, weil sich kein spezifisches Wegeunfallrisiko für den Kläger realisiert habe. Das ist auf den ersten Blick nachvollziehbar; ein zweiter Blick verrät uns jedoch, dass das SG Stuttgart den Aspekt, dass der Kläger sich an der Inneneinrichtung seines Lkws verletzt hat, gar nicht thematisiert. Dieser Aspekt hat sehr wohl etwas mit der Teilnahme am öffentlichen Verkehr zu tun und hätte eine Berücksichtigung im Nachdenken über die Dinge verdient, denn immerhin ist es für einen Lkw-Fahrer nicht ganz nebensächlich, dass er, um am öffentlichen Verkehr überhaupt teilnehmen zu können, im Lkw sitzen muss. Die Enge im Lkw selbst birgt nun einige Gefahren, wie unser Fall zeigt.
Wieder einmal behält Heinz Barta (Kausalität im Sozialrecht, 1983) recht, wenn er ausführt, dass sich juristische Kausalität als „flexibles höchst wert- und damit zeitgebundenes Zurechnungsinstrument“ erweise, das in der Hand des Richters oder der Richterin beziehungsweise der Rechtanwenderin oder des Rechtsanwenders ein „besonders wichtiges Herrschafts- bzw. Steuerungsinstrument“ sei (S. 11); wer Kausalität bestimmen könne, habe damit „eine sehr große, häufig unterschätzte Machtfülle“ (S. 14).