„Leave it, love it and change it“

Die Kommission Arbeitsschutz und Normung (KAN) hat 2019 ihr 25-jähriges Bestehen gefeiert. Wie hat sich die Normung verändert? Was sind ihre zukünftigen Aufgaben? Ein Gespräch mit Dr. Dirk Watermann, Geschäftsführer der KAN.

Herr Dr. Watermann, vor 25 Jahren wurde die KAN gegründet. Wie kam es dazu?

Entscheidend dafür waren europäische Entwicklungen und hier vor allem die 1989 verabschiedete EU-Maschinenrichtlinie, mit der der nationalen Regelsetzung – Staat und Unfallversicherungsträgern mit den Sozialpartnerinnen und Sozialpartnern – das Recht genommen wurde, die Beschaffenheit von Maschinen und Anlagen konkret zu regeln. Dies wurde nun der privatrechtlich organisierten europäischen Normung übertragen. Deutschland suchte nach einem Weg, dem Arbeitsschutz auch in diesem neuen System eine starke Stimme zu verleihen. Alle relevanten Kreise sollten an einem Tisch gemeinsame Positionen entwickeln können, die als deutsche Arbeitsschutzmeinung in die Normung eingebracht werden kann. Das war die Geburtsstunde der KAN!

Es gab zunächst Befürchtungen, dass europäische Normen einen negativen Einfluss auf das Arbeitsschutzniveau in Deutschland haben könnten. Zu Recht?

Nein. Es hat sich erstens gezeigt, dass der primäre Arbeitsschutz, also das Sicherheitsniveau der Arbeitsmittel, nicht geschwächt, sondern im Laufe der Jahre sogar gestärkt werden konnte: Das Zusammenspiel europäischer Rechtsakte wie der Maschinenrichtlinie oder der PSA-Verordnung und Normen hat sich bewährt. Und es hat sich zweitens gezeigt, dass der Stellenwert von technischen Regeln des Staates sowie von Vorschriften, Regeln oder Informationen der Unfallversicherungsträger für den betrieblichen Arbeitsschutz durch Normen nicht infrage gestellt wurde. Wenn sich Normen in diesem Feld auch in der Praxis wirklich durchgesetzt haben, dann nur, weil sie, insbesondere auf europäischer und internationaler Ebene, Regelungslücken schließen konnten oder einen inhaltlichen Mehrwert boten.

Wobei man leider sagen muss, dass mit einigen dieser Normen auch ein aus deutscher Sicht unnötiger Zertifizierungsdruck auf die Unternehmen ausgeübt wird. Dass das Arbeitsschutzniveau dabei nicht gesunken ist, war kein Selbstläufer, sondern liegt ganz wesentlich daran, dass Arbeitsschutzfachleute insbesondere aus der gesetzlichen Unfallversicherung aktiv und oft sogar in leitender Position an den Normen mitwirken und einen hervorragenden Job machen.

Dr. Dirk Watermann ist Geschäftsführer der KAN | © Foto: KAN
Dr. Dirk Watermann ist Geschäftsführer der KAN ©Foto: KAN

Die wirtschaftlichen Machtverhältnisse verändern sich. Welchen Einfluss haben andere Regionen, wie China oder USA, auf die internationalen Normungsprozesse? Welche Rolle spielt die EU?

Der Einfluss der USA dürfte in den vergangenen Jahren, genau wie der Deutschlands, in etwa gleich geblieben sein. Beide halten einen hohen Anteil an Sekretariaten, die für den Arbeitsablauf in einem internationalen Normungskomitee zuständig sind und daher große Gestaltungsmöglichkeiten besitzen. Unterschiede bestehen zwischen dem recht einheitlichen europäischen und dem sehr zerklüfteten US-amerikanischen Normungssystem. Aber solange es keine tief greifenden Handelsabkommen gibt, die eine gegenseitige Anerkennung der jeweiligen Normen und Standards erzwingen, können wir aus Sicht der Prävention damit umgehen. Der Einfluss Chinas und, wenn auch in geringerem Maße, Indiens oder anderer wirtschaftlich aufstrebender Staaten wächst mit ihrer Wirtschaftskraft und ihren wirtschaftlichen Interessen. Vor allem China besetzt immer mehr Schlüsselpositionen wie Sekretariate und Vorsitze auf internationaler Ebene und entsendet eine beeindruckend große Zahl an Beschäftigten in die Gremien. Die Europäische Union muss darauf achten, dass internationale Normen nicht grundsätzlich und per se parallel abgestimmt und europäisch übernommen werden, sondern nur dann, wenn sie unseren Ansprüchen an das Sicherheitsniveau auch genügen.

Ein Zuviel an Normung gibt es immer dort, wo sie ohne angemessene rechtliche Grundlage in elementare Verantwortungsbereiche der Sozialpartnerinnen und Sozialpartner eingreift.

Normen und Standards sichern die Qualität und erleichtern den Warenverkehr. Aber gibt es auch ein „Zuviel“ an Normung?

Ein Zuviel an Normung gibt es immer dort, wo sie ohne angemessene rechtliche Grundlage in elementare Verantwortungsbereiche der Sozialpartnerinnen und Sozialpartner eingreift. Dazu gehören nicht nur sozialpolitische Gebiete wie die Tarifpolitik, Mutterschutz oder Arbeitszeit. Kritisch sehen wir in diesem Zusammenhang auch die Tendenz, über eine stetig wachsende Zahl internationaler Normen das Personalmanagement zu regeln. Etwa dann, wenn versucht wird, Arbeitsschutzperformance von Firmen über Kennzahlen zu messen. Aber auch im betrieblichen Arbeitsschutz setzen wir uns weiterhin dafür ein, dort, wo es ein detailliertes nationales Regelwerk des Staates oder der Unfallversicherungsträger gibt, Doppelungen oder gar Widersprüche durch Normen zu vermeiden.

Arbeitsschutz und Normung – welche Trends sehen Sie?

Im Maschinensektor haben wir es immer mehr mit Hightechprodukten zu tun. In anderen Bereichen tauchen Themen wie biologisch wirksame Beleuchtung, Dienstleistungsnormen, Arbeitsschutzmanagementsysteme, Human Resources Management, Risikomanagement, Digitalisierung, Industrie 4.0, künstliche Intelligenz oder Cybersecurity auf – mit erheblichen Herausforderungen für den Arbeitsschutz. Es wird zunehmend schwierig, hierzu einen Stand der Technik als Maßstab für ein hinreichendes Schutzniveau oder auch nur die genauen Adressaten der Norm zu definieren.

Hinzu kommt, dass die Europäische Kommission die Finanzierung von beauftragten Normprojekten an extrem knappe Zeitvorgaben bindet. Auch findet die Erarbeitung von Standards schon lange nicht mehr nur bei den etablierten Normungsorganisationen, sondern in Konsortien statt. Diese sind aber nicht an die Grundprinzipien der Normung gebunden und bewegen sich häufig außerhalb unserer Einflussmöglichkeiten. Bei der Beteiligung und der Transparenz der Verfahren dürfen aber keine Abstriche gemacht werden, da nicht nur das Vertrauen in diese Dokumente und damit auch in die Normungsorganisationen verloren gehen, sondern Sicherheit und Gesundheit von Beschäftigten sowie Verbraucherinnen und Verbrauchern gefährdet werden könnten.

Nehmen wir ein aktuelles Beispiel: Künstliche Intelligenz (KI). Wo berührt KI den Arbeitsschutz und wo braucht es Normen?

Künstliche Intelligenz (KI) wird für den Arbeitsschutz relevant, wenn sie Teil eines Arbeitsmittels ist. Eine intensive Betrachtung ist in jedem Einzelfall deshalb erforderlich, denn KI könnte Teil eines Arbeitsmittels sein und das Sicherheitsniveau beeinflussen.

Wenn es bei KI beispielsweise um das sogenannte „Machine Learning“ geht, steckt dabei sehr viel Statistik dahinter. Je mehr Daten vorhanden sind, desto genauere Ergebnisse können erzielt werden. Genau hier kann die Normung einen wichtigen Beitrag leisten, indem sie dafür sorgt, dass eine einheitliche Datenbasis geschaffen wird.

Kommt es zur Anwendung von „Deep-Learning-Verfahren“, wie beispielsweise neuronalen Netzen, ist es wichtig, dass von Beginn an die richtigen Leitplanken gesetzt werden. Denn die spätere Nachverfolgbarkeit der Entscheidungen, also die Begründung, warum eine Entscheidung genau getroffen wurde, ist derzeit nicht ausreichend möglich.

Normen zu KI werden fast ausschließlich auf internationaler Ebene erarbeitet und dort gibt es keine einheitlichen Wertevorstellungen. Damit sich die für uns wichtigen Aspekte auch auf internationaler Normungsebene wiederfinden, ist es wichtig, dass die europäischen Mitgliedsstaaten geschlossen auftreten.

In der Tat muss sich die Arbeitsweise der KAN verändern, und sie hat sich bereits verändert, frei nach dem Motto 'Leave it, love it and change it'.

Im Zuge der Digitalisierung spielen IT-Sicherheit und Datenschutz eine immer größere Rolle. Sind Hacking und Cyberkriminalität Themen, die auch die Normung beschäftigen müssen?

Die Antwort auf diese Frage lautet ganz klar: Ja! Aber genau genommen beschäftigen diese Themen die Normung bereits. Im Bereich der Security gibt es einiges an Normungsaktivitäten. Für den Arbeitsschutz ist jedoch die Wechselwirkung zwischen funktionaler Sicherheit und Cybersecurity besonders wichtig. Denn wenn Maschinen und Anlagen über programmierbare Steuerungen verfügen und über das Internet vernetzt sind, kann ein Cyberangriff möglicherweise dazu führen, dass Sicherheitsfunktionen nicht korrekt ausgeführt werden und somit eine potenzielle Gefahr für Beschäftigte entsteht.

Wie ist es um die Zukunft der Normung bestellt? Haben nationale Normen noch eine Chance?

Nationale Normen sind zu einer Randerscheinung geworden, zumindest was Produktsicherheit, Dienstleistungen, Managementsysteme und andere aktuelle Themen des Arbeitsschutzes betrifft. Die Arbeitswelt ist internationaler geworden. Denkbar ist allerdings, dass zur Vorbereitung europäischer oder internationaler Normen zunächst deutsche Dokumente erarbeitet und herausgegeben werden, die dann bei den internationalen Normungsorganisationen ISO oder IEC eingereicht werden.

Ein Blick in die Zukunft: Wie wird die Arbeit der KAN in 25 Jahren aussehen?

In der Tat muss sich die Arbeitsweise der KAN verändern, und sie hat sich bereits verändert, frei nach dem Motto „Leave it, love it and change it“. Beginnen wir mit dem Wandel: Damit der Arbeitsschutz von Anfang an und ganzheitlich mitgedacht wird, sind auch bei uns neue Konzepte zur Meinungsbildung notwendig: Alle Kreise – auch über die des Arbeitsschutzes hinaus – wollen wir zukünftig noch stärker einbinden. Verabschieden müssen wir uns von einer rein nationalen Sichtweise. Da Normen praktisch nur noch auf europäischer und internationaler Ebene erarbeitet werden, müssen wir hier unser Engagement stärken. Das bedeutet auch, den Bekanntheitsgrad der KAN und ihrer Aktivitäten weiter zu steigern. Darum brauchen wir neue Wege im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit. Im Vorstand und in der KAN wurden die Grundlagen für diese Weiterentwicklung gelegt.

Wir können uns deswegen künftig noch besser dem widmen, was wir lieben und was unser Auftrag ist: uns noch stärker für Praxisnähe und Kongruenz des für den Arbeitsschutz relevanten Normen- und Regelwerks einsetzen und Arbeitsschutzpositionen durch aktive Mitarbeit in europäischen und internationalen Gremien frühzeitig einbringen.

Das Interview führte Elke Biesel, DGUV

KAN

Die Kommission Arbeitsschutz und Normung (KAN) besteht seit 1994 und hat die Aufgabe, die Normungsarbeit zu beobachten und die Belange des Arbeitsschutzes gegenüber der Normung zur Geltung zu bringen. In der KAN sind die Sozialpartnerinnen und Sozialpartner, der Staat, die gesetzliche Unfallversicherung und das DIN vertreten. Die KAN bündelt die Interessen aus Sicht des Arbeitsschutzes und bringt sie als Stellungnahmen in laufende und geplante Normungsvorhaben ein. Die KAN selbst ist kein Normungsgremium; ihre Beschlüsse im Bereich von Arbeitsschutz und Normung haben den Charakter von Empfehlungen, die sich auf einen möglichst breiten Konsens aller Beteiligten im Arbeitsschutz stützen.