Wissenschaftliche Begründung zum Thema Lungenkrebs durch Passivrauchen
Der Ärztliche Sachverständigenbeirat „Berufskrankheiten“ beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat empfohlen, „Lungenkrebs nach langjähriger und intensiver Passivrauchexposition am Arbeitsplatz“ als neue Berufskrankheit in die Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) aufzunehmen.
Der Ärztliche Sachverständigenbeirat „Berufskrankheiten“ (im Folgenden: ÄSVB) berät das Bundesministerium für Arbeit und Soziales zum medizinisch-wissenschaftlichen Kenntnisstand in Bezug auf den Aktualisierungsbedarf bestehender Berufskrankheiten oder die Aufnahme neuer Berufskrankheiten in die sogenannte Berufskrankheiten-Liste. In einem zweistufigen Verfahren prüft der ÄSVB, ob die wissenschaftlichen Voraussetzungen für einen Ursachenzusammenhang zwischen einer potenziell schädigenden Einwirkung und der Entstehung einer bestimmten Krankheit vorliegen.
Stellt der ÄSVB im Ergebnis fest, dass sowohl der Ursachenzusammenhang als auch die generelle Geeignetheit und die gruppentypische Risikoerhöhung für die Erkrankung bestehen, spricht er auf Grundlage der ermittelten Erkenntnisse eine wissenschaftliche Empfehlung für die Anerkennung als Berufskrankheit aus. Diese Empfehlung stellt die wissenschaftliche Grundlage für die Aufnahme einer neuen Berufskrankheit in die Liste der Berufskrankheiten, Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) dar.[1] Die langjährigen Beratungen zum Thema Lungenkrebs durch Passivrauchen im ÄSVB sind zwischenzeitlich zum Abschluss gelangt. Am 29. März 2019 hat der ÄSVB empfohlen, folgende neue Berufskrankheit in die Anlage 1 der Berufskrankheiten-Verordnung aufzunehmen:
„Lungenkrebs nach langjähriger und intensiver Passivrauchexposition am Arbeitsplatz bei Versicherten, die selbst nie oder maximal bis zu 400 Zigarettenäquivalente aktiv geraucht haben“. [2] [3] Mit der Empfehlung liegen die grundsätzlichen Voraussetzungen für eine Anerkennung nach § 9 Abs. 2 SGB VII vor.
Als langjährige Passivrauchexposition gilt grundsätzlich eine arbeitsbedingte Einwirkung durch Tabakrauch von mindestens 40 Jahren.
Was ist Passivrauchen am Arbeitsplatz?
Beim Rauchen entsteht durch das Verbrennen oder Verglimmen von Tabak in Zigaretten und anderen tabakhaltigen Produkten (Zigarren, Zigarillos, Pfeifen) ein komplexes Gemisch aus bis zu 4.000 chemischen Verbindungen. Dabei wird zwischen dem Hauptstromrauch, der beim Rauchen durch Ziehen an zum Beispiel einer Zigarette inhaliert wird, und dem Nebenstromrauch, der beim Glimmen der Zigarette entsteht, unterschieden. Durch den Atmungsprozess wird die Zusammensetzung des Stoffgemischs im Rauch verändert. Der dann ausgeatmete Hauptstromrauch und der Nebenstromrauch werden unter dem Begriff „Tabakrauch in der Raumluft“ zusammengefasst. Für die Bemessung der Tabakrauchkonzentration zieht die wissenschaftliche Fachwelt Nikotin als geeignete Leitsubstanz heran[4], weil dieses eine hohe Tabakspezifität aufweist und Tabak die nahezu einzige Quelle für Nikotin in Arbeitsbereichen ist.
Unter „Passivrauchen“ ist „das (ungewollte) Einatmen von Tabakrauch in der Raumluft durch eine Nichtraucherin oder einen Nichtraucher, die oder der sich in Gesellschaft Rauchender befindet“, oder das „Einatmen von Tabakrauch, das durch Rauchen anderer Personen verursacht wird“, zu verstehen.
Um den Rauchstatus benennen und abgrenzen zu können, wird nachgehend auf die Begriffe „Raucher“, „Nichtraucher“, „Nieraucher“ und „Exraucher“ eingegangen.
Als Raucherin beziehungsweise Raucher wird eine Person betrachtet, die gelegentlich oder regelmäßig raucht, dabei ist die sogenannte Gelegenheitsraucherin beziehungsweise der Gelegenheitsraucher ein unbestimmter Begriff für eine inhomogene Gruppe von Rauchenden.
Eine Nichtraucherin beziehungsweise ein Nichtraucher ist eine Person, die derzeit nicht der Gruppe von Rauchenden zuzuordnen ist. Der Begriff „Nichtraucher“ wird weiter differenziert nach „Exraucher“ und „Nieraucher“. Unter einer Exraucherin beziehungsweise einem Exraucher werden ehemalig Rauchende verstanden, dabei ist die Mindestdauer der Tabakabstinenz nicht einheitlich definiert.[5]
Unter Nieraucherin beziehungsweise Nieraucher wird im allgemeinen Sprachgebrauch eine Person verstanden, die nie geraucht hat. Allerdings akzeptiert die wissenschaftliche Literatur für die Definition dieser Personengruppe unterschiedliche Maximaldosen, überwiegend zwischen 100 bis 400 Zigaretten im gesamten Leben, als Obergrenze.[6]
Steht die inhalative Aufnahme von Tabakrauch durch Nierauchende im kausalen Zusammenhang mit der arbeitsbedingten Tätigkeit, wird dies unter Passivrauchen am Arbeitsplatz im Sinne der Wissenschaftlichen Begründung verstanden.[7]
Abgrenzung der besonderen Personengruppe im Sinne der Wissenschaftlichen Begründung
Die künftige Berufskrankheit soll für versicherte Personen gelten,
- die an einem Lungenkrebs erkranken,
- „Nieraucher“ im Sinne der Definition in der wissenschaftlichen Begründung sind (maximal 400 Zigarettenäquivalente[8] bis zur Diagnose) und
- eine langjährige und intensive arbeitsbedingte Passivrauchexposition aufweisen.[9]
Als langjährige Passivrauchexposition gilt grundsätzlich eine arbeitsbedingte Einwirkung durch Tabakrauch von mindestens 40 Jahren. Als intensiv gilt die Einwirkung, wenn eine Nikotinkonzentration in der Raumluft von mindestens 50 μg/m³ ermittelt wird. Die Mindestexpositionsdauer von 40 Jahren kann unterschritten werden, wenn die Tabakrauchkonzentration in der Raumluft am Arbeitsplatz entsprechend höher war, da ein multiplikativer Zusammenhang zwischen Einwirkungsdauer und -höhe besteht. Rechnerisch muss dabei eine Gesamtkonzentration von 2.000 (μg/m³ Nikotin x Jahre) erreicht werden.[10]
Solche Expositionsbedingungen können in der Vergangenheit in kleinen, schlecht belüfteten Räumlichkeiten wie zum Beispiel Büros oder bei Fehlen technischer Belüftungseinrichtungen, zum Beispiel in Diskotheken, vorgelegen haben.
Ausblick
Der ÄSVB grenzt in seiner Wissenschaftlichen Begründung die von der künftigen Berufskrankheit betroffene Personengruppe durch ein Dosismaß und die Definition der Nieraucherinnen und der Nieraucher ein. Des Weiteren beschreitet er einen neuen Weg, indem er sowohl das Berechnungsmodell zur Ermittlung der Einwirkung als auch die dafür erforderlichen Variablen in die Wissenschaftliche Begründung aufgenommen hat.
Für die Unfallversicherungsträger zeichnen sich bei der Ermittlung des Rauchstatus und der individuellen Tabakrauchexposition Schwierigkeiten ab, da diese auch den Bereich des Privaten berühren können. Um den Präventionsdiensten der Unfallversicherungsträger Hilfestellungen bei der Ermittlung der Einwirkung zu geben, wird der „DGUV-UVT-Report 1/2011 Passivrauchen am Arbeitsplatz“ derzeit überarbeitet. Zudem werden infrage kommende Tätigkeiten mithilfe der Unfallversicherungsträger identifiziert und Expositionsszenarien erstellt, die eine einheitliche Ermittlung der Einwirkung durch die Präventionsdienste der gesetzlichen Unfallversicherung ermöglichen.
Zunächst bleibt abzuwarten, wie sich das Meldeverhalten nach § 9 Abs. 2 SGB VII gestaltet. Für Ärztinnen und Ärzte besteht für Erkrankungen, die wie eine Berufskrankheit nach § 9 Abs. 2 SGB VII anerkannt werden können, keine gesetzliche Anzeigepflicht im Sinne des § 202 SGB VII.Diese Pflicht entsteht mit der Aufnahme der entsprechenden Erkrankungen in die Berufskrankheitenliste.