Arbeitsmedizinische Prävention: Begriff und Rechtsgrundlagen

Die Bedeutung der Betriebsärztinnen und Betriebsärzte für die Prävention ist während der SARS-CoV-2-Pandemie noch deutlicher geworden. Im Folgenden werden die Rechtsgrundlagen für arbeitsmedizinische Prävention skizziert und die durch den AAMED-GUV neu veröffentlichten „DGUV Empfehlungen für arbeitsmedizinische Beratungen und Untersuchungen“ in diesem Rahmen eingeordnet.

Unter den Begriff „arbeitsmedizinische Prävention“ fällt zum einen die Primärprävention[1] im Betrieb, insbesondere die betriebsärztliche Mitwirkung an der Gefährdungsbeurteilung und an der Unterweisung. Wesentliche Rechtsgrundlage ist das Arbeitssicherheitsgesetz (ASiG), konkretisiert durch die DGUV Vorschrift 2 „Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit“. Das ASiG enthält eine nicht abschließende Auflistung betriebsärztlicher Aufgaben.

Rechtliche Grundlagen arbeitsmedizinischer Prävention

Von besonderer Bedeutung ist in Zeiten der SARS-CoV-2-Pandemie die Mitwirkung bei der Erarbeitung von Konzepten zur Pandemie, zu Hygiene, Infektions- und Impfschutz.

Auch bei Maßnahmen zur betrieblichen Gesundheitsförderung spielen Betriebsärztinnen und -ärzte beratend und unterstützend eine wichtige Rolle, die durch das Präventionsgesetz (PrävG) gestärkt wurde.

Zum anderen beinhaltet arbeitsmedizinische Prävention auf der sekundärpräventiven[2] Ebene individuelle Maßnahmen wie die arbeitsmedizinische Vorsorge, deren zentrale Rechtsgrundlage die auf Basis des Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG) erlassene Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV) ist.

Darüber hinaus umfasst arbeitsmedizinische Prävention auch den Beitrag der Ärztinnen und Ärzte für Arbeitsmedizin zum Erhalt der individuellen Beschäftigungsfähigkeit durch Mitwirkung bei der Rehabilitation und Wiedereingliederung, vor allem beim Betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM), die sogenannte Tertiärprävention.

Arbeitsmedizinische Vorsorge gemäß ArbMedVV

Arbeitsmedizinische Vorsorge dient in erster Linie dazu, arbeitsbedingte Gesundheitsbeschwerden frühzeitig zu erkennen und arbeitsbedingte Erkrankungen einschließlich Berufskrankheiten zu verhüten. Basis ist die Gefährdungsbeurteilung gemäß Arbeitsschutzgesetz und seiner konkretisierenden Verordnungen, zum Beispiel die Gefahrstoffverordnung (GefStoffV), Biostoffverordnung (BioStoffV) und Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV).

In Ergänzung zu technischen und organisatorischen Arbeitsschutzmaßnahmen kann die arbeitsmedizinische Prävention einen wesentlichen Beitrag zur individuellen Prävention leisten. Beschäftigte haben das Recht, sich zu den Wechselwirkungen zwischen ihrer Arbeit und ihrer Gesundheit zu informieren und beraten zu lassen. Die Erkenntnisse dieser individuellen Arbeitsschutzmaßnahmen fließen auch in die Gestaltung des kollektiven Arbeitsschutzes ein und sind für diesen zu nutzen. Arbeitsmedizinische Vorsorge kann somit einen Beitrag zum Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit leisten und spielt eine wichtige Rolle im betrieblichen Gesundheitsschutz.

Verantwortlich für die arbeitsmedizinische Vorsorge ist der Arbeitgeber oder die Arbeitgeberin, durchzuführen ist sie durch einen Arzt oder eine Ärztin mit der Gebietsbezeichnung „Arbeitsmedizin“ oder der Zusatzbezeichnung „Betriebsmedizin“.

Rechtliche Grundlage für die arbeitsmedizinische Vorsorge ist die Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge, die 2008 in Kraft trat. Zuvor war die arbeitsmedizinische Vorsorge in verschiedenen fachspezifischen Verordnungen (unter anderem Gefahrstoffverordnung, Biostoffverordnung, Lärm- und Vibrations-Arbeitsschutzverordnung) und im Unfallverhütungsrecht der Unfallversicherungsträger (außer Kraft gesetzte DGUV Vorschrift 6) geregelt.

Die ArbMedVV wird konkretisiert durch Arbeitsmedizinische Regeln (AMR), die vom Ausschuss für Arbeitsmedizin (AfAMed) erstellt und durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) im Gemeinsamen Ministerialblatt bekannt gegeben werden.

Beispiel: Die AMR 2.1 regelt die Fristen für die Veranlassung/das Angebot arbeitsmedizinischer Vorsorge.

Die Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge unterscheidet zwischen Pflicht-, Angebots- und Wunschvorsorge.

Pflichtvorsorge bedeutet arbeitsmedizinische Vorsorge, die Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen bei bestimmten besonders gefährdenden Tätigkeiten zu veranlassen haben. Bei den im Anhang der ArbMedVV konkret aufgeführten Tätigkeiten dürfen Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen eine Tätigkeit nur ausüben lassen, wenn zuvor eine Pflichtvorsorge durchgeführt worden ist.

Beispiel: Tätigkeiten, die das Tragen von Atemschutzgeräten der Gruppen 2 und 3 erfordern gemäß Anhang 1 Teil 4 Abs. 1 Nr. 1 ArbMedVV (korrigiert am 07.12.2022)

Bei bestimmten gefährdenden Tätigkeiten mit geringerem Gefährdungspotenzial, die ebenfalls im Anhang der ArbMedVV konkret aufgeführt sind, hat der Arbeitgeber oder die Arbeitgeberin die arbeitsmedizinische Vorsorge zwar nicht zu veranlassen, diese den Beschäftigten aber anzubieten (Angebotsvorsorge).

Beispiel: Tätigkeiten im Freien mit intensiver Belastung durch natürliche UV-Strahlung von regelmäßig einer Stunde oder mehr je Tag gemäß Anhang 1 Teil 3 Abs. 2 Nr. 5 ArbMedVV

Darüber hinaus haben Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber den Beschäftigten über den Anhang der ArbMedVV hinaus bei allen Tätigkeiten die sogenannte Wunschvorsorge anzubieten. Nur wenn ausgeschlossen ist, dass mit einem Gesundheitsschaden zu rechnen ist, kann hiervon abgesehen werden.

Es soll betont werden, dass arbeitsmedizinische Vorsorge nicht auf den Vorsorgeanlass beschränkt ist, sondern alle tätigkeitsbezogenen Gefährdungen angesprochen werden sollen und Beschäftigte umfassend zu allen Wechselwirkungen zwischen ihrer Arbeit und ihrer Gesundheit und dem Zusammenspiel verschiedener Einflussfaktoren informiert und beraten werden.

In bestimmten Fällen hat der Arbeitgeber Beschäftigten auch nach Beendigung der Tätigkeit sowie ehemals Beschäftigten sogenannte „nachgehende Vorsorge“ anzubieten.[3] Das ist der Fall bei Tätigkeiten mit krebserzeugenden bzw. erbgutverändernden Stoffen, bei denen nach längeren Latenzzeiten Gesundheitsstörungen auftreten können.

Eignungsbeurteilungen

Es kann ein berechtigtes Interesse oder sogar eine Verpflichtung von Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern vorliegen, die Eignung (Tauglichkeit) von Beschäftigten arbeitsmedizinisch klären zu lassen, insbesondere bei der Ausübung von Tätigkeiten, die mit Gefahren für Leben oder körperliche Unversehrtheit Dritter – verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter nach Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz (GG) – verbunden sind.

Die ArbMedVV trifft keine Regelungen zu Eignungsbeurteilungen oder Eignungsuntersuchungen und ist keine Rechtsgrundlage hierfür. § 2 Abs. 1 Nr. 5 ArbMedVV stellt klar, dass arbeitsmedizinische Vorsorge nicht den Nachweis der gesundheitlichen Eignung für berufliche Anforderungen nach sonstigen Rechtsvorschriften oder individual- beziehungsweise kollektivrechtlichen Vereinbarungen umfasst. Es ist also durch den Unternehmer oder die Unternehmerin vor Veranlassung einer Eignungsbeurteilung stets zu prüfen, ob eine ausreichende Rechtsgrundlage vorliegt, und das Ergebnis in der Gefährdungsbeurteilung festzuhalten.

Da Eignungsbeurteilungen einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG (Recht auf informationelle Selbstbestimmung und Intimsphäre) und gegebenenfalls in weitere Grundrechte wie das Recht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 GG oder das Recht auf freie Berufsausübung aus Art. 12 Abs. 1 GG darstellen, bedürfen sie einer eigenständigen Rechtsgrundlage und müssen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (legitimer Zweck und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne – geeignet, erforderlich und angemessen-) wahren. Eine große Rolle spielt der Datenschutz als Ausfluss des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, geregelt in der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) und dem Bundesdatenschutzgesetz (BDSG).

Abzugrenzen von Rechtsgrundlagen sind sogenannte „Eignungsvorbehalte“, die Unternehmer und Unternehmerinnen zwar verpflichten, bei der Übertragung von Aufgaben die Befähigung oder Eignung der Beschäftigten zu berücksichtigen, aber keine Rechtsgrundlage für Eignungsuntersuchungen bilden. Beispiele sind § 7 DGUV Vorschrift 1 „Grundsätze der Prävention“ oder § 7 ArbSchG.

Bei der Beurteilung der Zulässigkeit von Eignungsbeurteilungen wird unterschieden zwischen Einstellungsuntersuchungen, Eignungsuntersuchungen im bestehenden Beschäftigungsverhältnis und hierbei wiederum zwischen routinemäßigen und anlassbezogenen Eignungsbeurteilungen.

Ausdrücklich gesetzlich geregelt sind Eignungsuntersuchungen nur in speziellen Rechtsvorschriften für bestimmte Bereiche, da sie im öffentlichen Interesse liegen, wie zum Beispiel §§ 5 ff. Triebfahrzeugführerscheinverordnung (TfV), §§ 11 ff. Seearbeitsgesetz (SeeArbG), Luftverkehrs-Zulassungs-Ordnung (§§ 24a, 24b LuftVZO) oder zum Schutz von Beschäftigten bei besonders gefährdenden Tätigkeiten wie zum Beispiel §§ 2 ff. Gesundheitsschutz-Bergverordnung (GesBergV).

Bei der Beurteilung der Legitimation von Einstellungsuntersuchungen erfolgt eine Orientierung an den von der Rechtsprechung zum Fragerecht des Arbeitgebers unter Berücksichtigung des Anforderungsprofils herausgearbeiteten Grundsätzen (vgl. § 26 BDSG). Die Untersuchung darf nicht weiter gehen als bis zur Abklärung der Fragen, die der Arbeitgeber hierzu hätte stellen dürfen (Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Urteil vom  30.09.1971 – 3 Sa 305/71).

Im bestehenden Beschäftigungsverhältnis können nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) durch tatsächliche Anhaltspunkte begründete Zweifel an der Eignung des Beschäftigten die Veranlassung einer Eignungsuntersuchung durch den Arbeitgeber rechtfertigen (BAG, Urteil vom 12.08.1999 – 2 AZR 55/99).

Wie der Interessenkonflikt zwischen Unternehmerinnen und Unternehmern einerseits und Beschäftigten andererseits in allen oben aufgeführten Fallkonstellationen, insbesondere routinemäßigen Untersuchungen zu beurteilen ist, kann aufgrund der Komplexität der Thematik hier nicht vollständig dargestellt werden. Ausführliche Erläuterungen enthält die vom AAMED-GUV veröffentlichte DGUV Information 250-010 „Eignungsuntersuchungen in der betrieblichen Praxis“.

DGUV Empfehlungen für arbeitsmedizinische Beratungen und Untersuchungen

Die im August 2022 neu erschienenen „DGUV Empfehlungen für arbeitsmedizinische Beratungen und Untersuchungen“ ersetzen die bisherigen seit 1971 kontinuierlich weiterentwickelten „DGUV Grundsätze für arbeitsmedizinische Untersuchungen“.

Mit den Empfehlungen wurde der – mit der ArbMedVV vorgegebene – Paradigmenwechsel, nach dem die Rechte der Beschäftigten und deren Beratung im Zentrum stehen, nachvollzogen. Die Gliederung nach Vorsorgeanlässen erfolgte in Anlehnung an die ArbMedVV.

Die in der ArbMedVV geforderte Trennung zwischen Vorsorge und Eignung wird durch die separate Darstellung in den neuen DGUV Empfehlungen in zwei Teilen widergespiegelt und hervorgehoben.

45 der insgesamt 50 Empfehlungen geben Hinweise zur Durchführung der arbeitsmedizinischen Vorsorge.

Beispiel: Die DGUV Empfehlung „Lärm“ gibt Anhaltspunkte zur Durchführung der arbeitsmedizinischen Vorsorge bei Tätigkeiten mit Lärmexposition.

Die fünf Empfehlungen, die Eignungsbeurteilungen betreffen, konzentrieren sich auf Standards für die Art und Weise der Durchführung, geben also Hinweise, wie nach dem „Stand der Arbeitsmedizin“ arbeitsmedizinische Untersuchungen und Eignungsbeurteilungen durchgeführt werden können, während die Frage des  „Ob“ nach den oben dargestellten arbeitsrechtlichen Maßstäben zu klären ist.

Beispiel: Für Personen, die im Betrieb im Anwendungsbereich der GesBergV Unterwasserarbeiten durchführen, bei denen sie über ein Tauchgerät mit Atemgas versorgt werden, regelt § 2 GesBergV das Erfordernis einer Eignungsuntersuchung. Die DGUV Empfehlung „Überdruck (Arbeiten in Druckluft und Taucherarbeiten)“ gibt Anhaltspunkte für die Durchführung von Eignungsbeurteilungen.

Bei den DGUV Empfehlungen handelt es sich um Hilfestellungen für Betriebsärztinnen und Betriebsärzte, sie besitzen keine Rechtsverbindlichkeit. Sie geben Hinweise im Sinne von  „Best Practices“ und lassen den Betriebsärztinnen und Betriebsärzten den im Einzelfall erforderlichen Spielraum, um die Beratungen und Untersuchungen zu gestalten.

Das einleitende Kapitel „Erläuterungen zur Durchführung arbeitsmedizinischer Beratungen und Untersuchungen“ erläutert die Rechtsgrundlage der Neuausrichtung. Die Bedeutung der Empfehlungen folgt jedoch insbesondere daraus, dass die Empfehlungen in Konsens mit den Sozialpartnern entstanden sind und in interdisziplinären Teams aus Arbeitsmedizinerinnen und Arbeitsmedizinern, der betrieblichen Praxis und der Wissenschaft, Fachleuten diverser medizinischer und technischer Sachgebiete sowie Sachverständigen der Unfallversicherungsträger erarbeitet wurden. Sie tragen so dazu bei, dass arbeitsmedizinische Vorsorge und Eignungsbeurteilungen nach einem einheitlichen Standard durchgeführt werden.

Damit steht den Ärztinnen und Ärzten mit betriebsärztlicher Tätigkeit sowie weiteren Akteurinnen und Akteuren ein praxisnahes aktuelles Kompendium für eine standardisierte Umsetzung der arbeitsmedizinischen Vorsorge oder von Eignungsbeurteilungen im Betrieb zur Verfügung, das auf dem allgemein anerkannten Stand der Arbeitsmedizin basiert.

Der AAMED-GUV bietet darüber hinaus weitere DGUV Informationen als praxisnahe Hilfestellungen für Betriebsärztinnen und Betriebsärzte sowie Unternehmer und Unternehmerinnen an. Ziel ist es, diese unter Berücksichtigung von sich wandelnden Rahmenbedingungen und Herausforderungen – wie die Digitalisierung und Flexibilisierung der Arbeitswelt – weiterzuentwickeln sowie neue Formate für praxisnahe Hilfestellungen zur Prävention von Berufskrankheiten, arbeitsbedingten Erkrankungen und zum Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit zu entwickeln.

AAMED-GUV

Der Ausschuss Arbeitsmedizin der Gesetzlichen Unfallversicherung (AAMED-GUV) befasst sich schwerpunktmäßig mit der Ausgestaltung der betriebsärztlichen Tätigkeit in den Unternehmen und mit Fragestellungen der arbeitsmedizinischen Prävention, die über das Aufgabengebiet der einzelnen Unfallversicherungsträger hinausgehen. Kernaufgaben sind die Abstimmungen in den Gremien der DGUV sowie die Erarbeitung und Veröffentlichung von Schriften. Gleichzeitig dient er der Bündelung der Interessen aller Unfallversicherungsträger zu arbeitsmedizinischen Fragestellungen und ist Koordinierungsgremium für den Ausschuss für Arbeitsmedizin (AfAMed).

www.dguv.de/de/praevention/praev_gremien/arbeitsmedizin