COVID-19 – Herausforderungen und Chancen auf internationaler Ebene
Die COVID-19-Pandemie stellt weltweit Menschen, Regierungen und Institutionen vor große Herausforderungen. Doch trotz aller Entbehrungen und Verluste bietet die Corona-Krise auch die Chance die weltumspannend und nahezu zeitgleich gemachten Erfahrungen mit der Pandemie gemeinsam zu betrachten und Lösungen für die Zukunft zu entwickeln.
Die Corona-Krise als Katalysator
Die Corona-Krise könnte Katalysator für eine Entwicklung sein, die bereits durch die Wirtschafts- und Finanzkrise sowie den mit der Digitalisierung einhergehenden Veränderungen der Arbeitswelt ausgelöst wurde. Es geht zum einen um die Frage, wie wir die Resilienz der sozialen Sicherungssysteme erhöhen. Wie erhalten wir die Funktionsfähigkeit der Unfallversicherung, wenn plötzlich die (traditionelle) Finanzierung infrage steht, sei es durch digitale und ortsungebundene Plattformen oder das abrupte Zusammenbrechen der Wirtschaft? Zum anderen wird die Frage zu beantworten sein, wie Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz ausgestaltet sein müssen, um bei den Beschäftigten der Gig Economy anzukommen und Wirkung zu entfalten. Exakt diese Fragen wurden beispielsweise auf einer Konferenz der Internationalen Vereinigung für Soziale Sicherheit (IVSS) Mitte Februar 2020 in Kuala Lumpur (Malaysia) intensiv diskutiert. Allerdings wird niemand der Konferenzteilnehmenden auch nur ansatzweise erahnt haben, dass diese Themen binnen weniger Tage und Wochen an Bedeutung und Aktualität gewinnen würden, die jede und jeden als Individuum und zugleich als verantwortliche Person für eine Institution der sozialen Sicherung betrifft. Plötzlich kam die Wirtschaft zum Stillstand, plötzlich fand man sich im Homeoffice wieder und ebenso plötzlich musste geklärt werden, wie Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz den neuen und so schnell nicht verschwindenden Bedingungen angepasst werden können. Aus theoretischen Zukunftsfragen wurden praktische und dringend anzugehende Herausforderungen.
Wenn wir es ernst damit meinen, dass der wirtschaftlichen Globalisierung im Sinne eines nachhaltigen ökonomischen Wachstums die soziale Globalisierung folgen muss, und wenn wir erkannt haben, dass Viren und finanzielle oder gesellschaftliche Verwerfungen nicht an Grenzen haltmachen, dann ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, das durch die COVID-19-Pandemie erzeugte Momentum zu nutzen.
Das Momentum nutzen
Das verbindende Element, dass wir alle in den beschriebenen Themenfeldern zur selben Zeit mit denselben Problemen konfrontiert wurden, dass wir in den verschiedensten Ländern erstaunlich übereinstimmende Maßnahmen ergriffen haben, sollten wir jetzt nutzen, um gemeinsam grenzüberschreitend wirksame wie akzeptierte Lösungen für die Zukunft zu entwickeln.
Die Chance für eine Akzeptanz solcher Lösungen war selten besser. Denn es gibt kaum Raum für Belehrungen im Sinne eines „Wir zeigen euch mal, wie wir das schon immer richtig gemacht haben“. Es gibt keine Informations- oder Erfahrungsvorsprünge. Vertreterinnen und Vertreter von Sozialversicherungsträgern aus aller Welt begegnen sich jetzt auf Augenhöhe.
Die Corona-Krise eröffnet ferner die Gelegenheit, die getrennte Betrachtung von sozialer Sicherheit auf der einen sowie wirtschaftlicher Entwicklung auf der anderen Seite zu überwinden. Verschiedene Studien belegen, wie beispielsweise die Leistungen der Unfallversicherung in Form von Prävention und beruflicher Wiedereingliederung zu nachhaltigem wirtschaftlichen Wachstum beitragen können, was sich wiederum auf die finanzielle Stabilität und Leistungsfähigkeit der Sozialsysteme auswirkt.[1] Daher sollten Sozialversicherung und Wirtschaft gemeinsam nicht nur nach langfristigen Antworten auf die Corona-Krise suchen, sondern auch kurzfristige Lösungen anbieten.
Die Corona-Krise eröffnet ferner die Gelegenheit, die getrennte Betrachtung von sozialer Sicherheit auf der einen sowie wirtschaftlicher Entwicklung auf der anderen Seite zu überwinden.
Gesundheitsschutzmaßnahmen im weltweiten Vergleich
In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass einerseits die jeweilige COVID-19-Response in den einzelnen Ländern stark verbunden ist mit dem jeweiligen politischen Selbstverständnis und der Beschaffenheit politischer und sozialer Systeme sowie deren Leistungsfähigkeit. Zum anderen stehen die Strategien zur Bekämpfung der Pandemie auch immer im Kontext der jeweiligen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Länder und den damit einhergehenden speziellen Erfordernissen für Unternehmen und Beschäftigte. Denn es macht einen Unterschied, ob eine COVID-19-Response auf ein E-Commerce-Start-up in Berlin, Paris oder San Francisco, eine Textilarbeiterin in Indien oder Bangladesch oder auf Gesundheitspersonal in Russland zugeschnitten ist.
Das bundesdeutsche Selbstverständnis zu geeigneten Gesundheitsschutzmaßnahmen drückt sich in den Worten von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil aus: „Wer in diesen besonderen Zeiten arbeitet, braucht auch besonderen Schutz.“ Und findet seinen Niederschlag im Anspruch der Unfallversicherungsträger, wie es Dr. Stefan Hussy als Hauptgeschäftsführer der DGUV im April zum Ausdruck brachte: „Die Unfallversicherungsträger werden ihre Expertise einsetzen, um den allgemeinen Coronavirus-Arbeitsschutzstandard mit branchenspezifischen Informationen und Beratungsangeboten zu konkretisieren und weiterzuentwickeln.“ „Arbeitsschutz ist Gesundheitsschutz“, das wird in Zeiten der Pandemie besonders deutlich. Dementsprechend haben die Unfallversicherungsträger in Deutschland ihre Expertise in der Präventionsarbeit gezielt eingesetzt, um den allgemeinen Coronavirus-Arbeitsschutzstandard mit branchenspezifischen Informationen und Beratungsangeboten zu konkretisieren und weiterzuentwickeln. Die Unfallversicherungsträger wie beispielsweise die Berufsgenosseschaft der Bauwirtschaft (BG BAU) haben schnell auf die Krise reagiert, unter anderem durch gezielte, digitale Informationsangebote zu präventiven Gesundheitsmaßnahmen, die die branchenspezifischen Rahmenbedingungen berücksichtigen.
Auch die International Labour Organization (ILO) ist der Auffassung, dass die Einleitung von gezielten Maßnahmen zum Gesundheitsschutz eine zentrale Säule zur Bekämpfung der Folgen der Pandemie darstellt.
Das Beispiel China hat zu einem Zeitpunkt, als der Großteil der internationalen Gemeinschaft noch hoffte, die Pandemie würde an den Landesgrenzen der Volksrepublik haltmachen, gezeigt, wie erfolgreich zentral koordinierte Maßnahmen zur Schließung aller Bereiche des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens eingesetzt werden können. Wer sich hiervon einen bildhaften Eindruck verschaffen möchte, dem sei das „Tagebuch in Quarantäne“ des französischen Reporters Sébastien Le Belzic in der Arte-Mediathek empfohlen.[2]
Langfristige Antworten und kurzfristige Lösungen – Bangladesch
Ein Beispiel für kurzfristige Lösungsmöglichkeiten bietet das Projekt der DGUV zur Einführung der Unfallversicherung in Bangladesch, das durch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) begleitet beziehungsweise finanziert wird. Wie viele Länder stellt die COVID-19-Pandemie auch Bangladesch vor große wirtschaftliche und sozialpolitische Herausforderungen. Durch die COVID-19-Pandemie bricht der Textilabsatz weltweit ein. Davon ist Bangladesch als Textilexportland stark betroffen. Die Beschäftigten in der bangladeschischen Textilindustrie verlieren ihre Arbeit und bleiben mit ihren Familien ohne soziale Sicherung sich selbst überlassen. Daher werden die Aktivitäten im Rahmen des Projektes nun stärker an den aktuellen Bedarf ausgerichtet.
Zur Armutsbekämpfung würde beitragen, dass ein Teil der Beschäftigten aufgrund von Produktionsumstellungen wieder in die Textilfabriken zurückkehren kann, um zurzeit gefragte Produkte wie allgemeine Mund-Nasen-Masken oder spezielle Atemschutzmasken (FFP2/FFP3) zu produzieren. Die Begleitung des Wissenstransfers zur Umstellung der Produktion könnte über diejenigen Mitgliedsunternehmen der Berufsgenossenschaften erfolgen, die zugleich im Textilbündnis zusammengeschlossen sind. Darüber hinaus darf die Rückkehr an den Arbeitsplatz nicht mit einem erhöhten Gesundheits- und Infektionsrisiko einhergehen. Hier böte sich die Unterstützung bangladeschischer Textilunternehmen bei der Umsetzung der durch die DGUV entwickelten COVID-19-Arbeitsschutzmaßnahmen für die Textilbranche an – nach einer Anpassung an den bangladeschischen Kontext. Schließlich könnte die DGUV über das eigene Prüfungs- und Zertifizierungssystem „DGUV Test“ die Voraussetzung für den Vertrieb in Bangladesch hergestellter Masken schaffen. All diese Maßnahmen könnten eingebettet werden in einen Praxistest der Unfallversicherung mit acht führenden bangladeschischen Textilunternehmen, dem sogenannten Trial, zur Umsetzung der Berliner Erklärung vom 26. September 2019, die von ILO, BMZ, DGUV und dem bangladeschischen Arbeitsministerium unterzeichnet wurde.
Um das Potenzial digitaler Lösungen zur Eindämmung der Pandemie auch in Bangladesch zu erschließen, arbeitet die DGUV zusammen mit dem BMZ, der GIZ und politischen sowie wirtschaftlichen Partnerinnen und Partnern vor Ort in einer Art Modellprojekt für Bangladesch aktuell daran, eine App zu entwickeln, die sowohl den Corona-Gesundheitsschutz in den Textilfabriken des Landes als auch langfristig den Arbeitsschutz in den Fabriken und den Gesundheitsschutz der Textilbeschäftigten verbessert. Darüber hinaus könnte diese App, die multilingual angelegt sein wird und sukzessive um weitere Präventionsinhalte ergänzt werden soll, ab 2021 auch in anderen Ländern zum Einsatz kommen und dazu beitragen, internationale Lieferketten nachhaltiger zu gestalten.
Ganzheitliche Digitalisierung als strategische Gesundheitshilfe
Wie in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen auch hat die aktuelle Krise im Bereich der Prävention und des Gesundheitsschutzes gezeigt, in welchem Ausmaß Technologien unserer Zeit nicht nur die verschiedenen Akteurinnen und Akteure des Gesundheitssystems bei der Bekämpfung der Pandemie unterstützen können.
So führt das World Economic Forum unter der Überschrift „10 technology trends to watch in the COVID-19 pandemic“ Technologien auf, die einen maßgeblichen Einfluss auf die Eindämmung von COVID-19 haben – etwa Onlineshopping, die digitale Steuerung von Lieferketten, die Herstellung von Atemschutzmasken durch 3-D-Drucker oder der Einsatz telemedizinischer Lösungen. Während in vielen Ländern der Welt der Einsatz virtueller Konsultationen von Ärztinnen und Ärzten oder Psychologinnen und Psychologen sprunghaft angestiegen ist, können sich seit Juni diesen Jahres alle Versicherten der Techniker Krankenkasse (TK) vom heimischen Krankenbett aus über eine Video-App ärztlich behandeln lassen.
Ein anderer Ansatz zur Bekämpfung der Pandemie ist der Einsatz von Tracing-Apps. In Singapur etwa soll zukünftig der kombinierte Einsatz einer bereits seit dem Frühjahr verfügbaren Tracing-App und eines „Trace Together Token“ dazu beitragen, einen gesamtgesellschaftlichen Lockdown zu verhindern. Beide Systeme speichern Umfelddaten und können im Falle einer Infektion nicht nur aufspüren, wer sich in der Nähe einer infizierten Person aufgehalten hat, sondern diese auch unmittelbar nach einer positiven Diagnose kontaktieren, um neue Infektionsketten frühzeitig einzudämmen.
Im chinesischen Hangzhou geht man in einer Art regionalem Pilotprojekt für die zehn Millionen Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt, in der auch Onlineversandhändler Alibaba seinen Hauptsitz hat, bereits weit darüber hinaus. Hier arbeitet man zusammen mit großen chinesischen Technologieunternehmen auf der Grundlage des erfolgreichen Einsatzes einer Corona-Tracking-App daran, diese App als ganzheitliche Präventionslösung weiterzuentwickeln, was – so der britische Guardian – auch kritische Stimmen hinsichtlich des Schutzes von Gesundheitsdaten und Privatsphäre auf den Plan ruft.
Gleichwohl verweisen sowohl das Pilotprojekt in Hangzhou als auch die Entwicklung einer Präventions-App für Bangladesch auf das große Potenzial von neuen digitalen Gesundheitslösungen für diejenigen Länder auf dem südamerikanischen, afrikanischen und asiatischen Kontinent, deren Gesundheitssysteme noch nicht so leistungsstark sind wie in China, Europa oder Nordamerika.
Die Unfallversicherungsträger werden ihre Expertise einsetzen, um den allgemeinen Coronavirus-Arbeitsschutzstandard mit branchenspezifischen Informationen und Beratungsangeboten zu konkretisieren und weiterzuentwickeln.
Kooperation und internationale Standards im Zeichen von COVID-19
Nicht nur die in diesem Artikel genannten Beispiele, sondern auch das globale Ausmaß und die Intensität der COVID-19-Krise mit all ihren kurz- wie mittelfristigen Folgen zeigen einmal mehr, dass die Bekämpfung der Krise und ihrer Folgen nur durch das gezielte, internationale Zusammenspiel staatlicher, privatwirtschaftlicher und wissenschaftlicher Akteurinnen und Akteure möglich ist. Dies veranschaulichen zwei zentrale Fragen, die in der aktuellen Krisensituation in allen Ländern dieser Welt gestellt werden.
„Wie können wir unsere Gesundheitssysteme ganzheitlich weiterentwickeln und Gesundheit neu denken?“ Mit dieser Frage beschäftigen sich unzählige Akteurinnen und Akteure rund um den Erdball, verbunden mit dem Ziel, unsere Gesundheitssysteme über die Bekämpfung der Pandemie hinaus
- noch stärker als bisher aus Patientensicht zu denken und nicht die Möglichkeiten und Grenzen der jeweiligen Organisationen des nationalen Gesundheitssystems in den Vordergrund zu stellen,
- noch stärker als bisher entlang präventiver Gesundheitsleistungen weiterzuentwickeln und dabei
- noch stärker als bisher internationale, interoperable digitale Lösungen zu berücksichtigen, um – nach dem Vorbild der App-Stores – in den kommenden Jahren ganzheitliche, digitale Gesundheitsplattformen aufzubauen.
Eine zweite zentrale Frage lautet: „In welchen digital-mobilen Arbeitswelten wollen wir in Zukunft arbeiten und leben?“ Haben die zahlreichen individuellen und organisatorischen Antworten der vergangenen Monate zweifelsfrei dazu geführt, das Infektionsrisiko signifikant zu senken, so geht die Beantwortung dieser Frage weit darüber hinaus, birgt sie doch das Potenzial, kluge Lösungen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, für die Förderung zeitgemäßer Rollenbilder, für die Senkung physischer und psychischer Belastungen und nicht zuletzt für einen besseren Umgang mit unseren Ressourcen zur Bekämpfung der Folgen des Klimawandels zu etablieren. Während Facebook im Silicon Valley daran arbeitet, ein Homeoffice in der virtuellen Realität zu designen, Hubertus Heil in Berlin das Recht auf Homeoffice plant, das dänische anders als das deutsche Beispiel als Leuchtturm für virtuelle Klassenzimmer in der Krise geglänzt hat, birgt auch die Beantwortung dieser Frage das Potenzial, durch internationale Kooperation – wie sie gerade bei dieser Frage auch die IVSS auf ihre Fahnen geschrieben hat – bessere Lösungen zu finden, internationale Standards zu formulieren und durch gezielte Partnerschaften kontinuierlich weiterzuentwickeln – eine Riesenchance für eine erweiterte, digitale Neuinterpretation des Wirkungsgrades des deutschen Systems der gesetzlichen Unfallversicherung.
Die Antworten auf diese beiden zentralen Fragen können nur in einem Mehr an Kooperation liegen. Oder wie Klaus Schwab als Gründer des World Economic Forum es ausdrückt: „It is, therefore, critical that we invest attention and energy in multistakeholder cooperation across academic, social, political, national and industry boundaries.“[3]