Blick zurück nach vorn

Welche Bedeutung Prävention tatsächlich hat, zeigte die Corona-Pandemie. Sonst eher Randthema öffentlichen Interesses rückte der Arbeitsschutz auf einen der vorderen Plätze der medialen Agenda. Aber was macht die Prävention der gesetzlichen Unfallversicherung aus? Wie ist sie zu dem geworden, was sie heute ist? Ein Blick zurück hilft, zumal die Herausforderungen nicht geringer werden.

Was die Prävention der gesetzlichen Unfallversicherung  ausmacht, ist, dass die Prävention in den vergangenen fast 140 Jahren politisch auf immer breitere Füße gestellt wurde und sie sich dem Wandel immer wieder gestellt hat. Es gibt einige für die Prävention zentrale politische Entscheidungen. Ihre erste Aufgabe war es, Arbeitsunfälle zu verhüten, 1925 kam die Verhütung von Berufskrankheiten hinzu. In den 1960er-Jahren wurde die Unfallversicherung beauftragt, „Prävention mit allen geeigneten Mitteln“ zu betreiben. Das war der erste und gern übersehene Schritt zu mehr Ganzheitlichkeit in der Prävention. Mit der Ausdehnung des Versicherungsschutzes auf Kinder, Schülerinnen, Schüler und Studierende stand die Unfallversicherung 1971 vor der Herausforderung, einen völlig neuen Präventionsbereich aufzubauen. Im Jahr 1996 beauftragte der Staat die Unfallversicherung mit der Verhütung arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren – das war der zweite Schritt einer ganzheitlichen Betrachtung, der dazu führte, dass Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz heute gleichberechtigte Säulen sind. Es existieren weitere wichtige politische Entscheidungen zur Prävention, wie die Vereinbarung zwischen Bund, Ländern und Unfallversicherung einer Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) 2007, den Erlass des Präventionsgesetzes (PrävG) 2015 oder das Inkrafttreten des Arbeitsschutzkontrollgesetzes (ArbSchKonG) im Jahre 2020. Auch das Klimaschutzgesetz (KSG) wird das Präventionshandeln beeinflussen.

Folgen des erweiterten Präventionsauftrags

Der erweiterte Präventionsauftrag führte zu interdisziplinären Präventionsabteilungen bei den Unfallversicherungsträgern: Neben Fachkräften des Ingenieurwesens kamen Fachleute verschiedener Naturwissenschaften, Gesundheitswissenschaften, der Psychologie sowie weitere Professionen hinzu. Eine komplexer werdende Arbeitswelt lässt sich nicht mehr mit einer einzigen Profession erklären. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit spiegelt sich auch in den Fachbereichen[1] sowie den Instituten der DGUV[2] wider. Interdisziplinarität ist in der wissenschaftlichen Forschung längst „Goldstandard“. Die Unfallversicherung ist demnach in guter Gesellschaft.

Zusammenfassend ist festzuhalten: Die genannten gesetzlichen Änderungen waren alle politisch motiviert und gewollt. Sie haben die Prävention der Unfallversicherung nicht nur grundlegend beeinflusst, sondern in erster Linie gestärkt. Die Unfallversicherung war unter anderem deshalb in der Lage, technologischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen ganzheitlich zu begegnen. Die Politik setzt seit jeher großes Vertrauen in die gesetzliche Unfallversicherung.

Die Bedeutung der Branchengliederung

Der Branchenbezug hat sich bis heute bewährt, das hat die fast drei Jahre dauernde Corona-Pandemie gezeigt. Die gesetzliche Unfallversicherung richtete zu Beginn der Pandemie in kürzester Zeit gemeinsam mit Bund und Ländern einen Steuerkreis ein, um den Betrieben und Bildungseinrichtungen (branchen-)spezifische Hilfen an die Hand zu geben. Schon Franz Kafka, der wohl berühmteste Arbeitsschützer, hat sich im damaligen Königreich Böhmen für die Branchengliederung[3] nach deutschem Muster eingesetzt.

Herausforderungen heute

Aufgrund der genannten gesetzlichen Basis vertritt die Prävention der Unfallversicherung zwangsläufig eine andere Art der Überwachung als die der staatlichen Arbeitsschutzaufsicht. Das haben die Unfallversicherungsträger 2022 in einem Argumentationspapier[4] erneut bekräftigt. Der Dualismus ist daher kein überflüssiges Konstrukt. In den Überwachungsauftrag der Unfallversicherung bringen zudem beide Sozialpartner ihre Interessen ein.

Seit 2018 ist die Weiterentwicklung des Überwachungs- und Beratungsverständnisses ein strategischer Arbeitsschwerpunkt der Unfallversicherung. Im selben Jahr wurde auf Beschluss der Unfallversicherungsträger ein „Muster-Handbuch Prävention“ als Grundlage für ein einheitlicheres Präventionshandeln in Angriff genommen. Das Handbuch enthält bisher vier von zehn Präventionsleistungen.

Der Vorstand der DGUV hat 2020 eine Position zu „Überwachung und Beratung im Wandel“ beschlossen. Die Präventionsleiterinnen- und Präventionsleiter-Konferenz (PLK) hat im Anschluss eine Arbeitsgruppe zur Umsetzung der Position ins Leben gerufen. Zur Umsetzung gehören unter anderem eine stärkere Digitalisierung der Aufsicht, eine Harmonisierung der Buß- und Zwangsgeldverfahren und eine stärkere digitale Vernetzung der für die Überwachung und Beratung relevanten Bereiche innerhalb der Unfallversicherung (wie Berufskrankheiten-, Reha-, Regress-, Mitglieds- und Beitragsbereich). Auch die Lotsenrolle der Aufsichtsperson soll gestärkt werden, um bei Fragen zu Leistungen anderer Sozialleistungsträger auskunftsfähig zu sein.

Kernfragen der Zukunft

Die Digitalisierung hat längst nicht ihren Höhepunkt erreicht. Mit der künstlichen Intelligenz (KI) – und konkret mit ChatGPT – erreicht sie eine neue Dimension. KI könnte helfen, die Besichtigungsquote zu erhöhen, wenn es gelänge, die Aufsichtspersonen virtuell in den Betrieb zu „beamen“, um diesen zu überwachen. Auch eine Teleüberwachung ist im Gespräch. Während der Corona-Pandemie gingen einige Träger zur Selbstauskunft der Betriebe über – auch hierüber gilt es nachzudenken.

Von der globalen Klimaerwärmung ist auch die Prävention betroffen. Gefährdungen durch natürliche Hitzeeinwirkung am Arbeitsplatz sind nicht neu. Was neu ist, sind die von Hitze betroffenen Versichertenzahlen sowie Dauer und Ausmaß der Hitzeperioden: Sie werden steigen, und es wird Personengruppen geben, die bisher nicht betroffen waren. Die stellvertretende Vorsitzende des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages, Kirsten Kappert-Gonther, begrüßte im Rahmen der Veröffentlichung des Gutachtens „Resilienz im Gesundheitswesen – Wege zur Bewältigung künftiger Krisen“ die Thematisierung des Klimawandels (Ärzteblatt). Sie berichtete von einem Projekt der Charité, bei dem die Körpertemperatur der Beschäftigten der Intensivpflege während heißer Tage gemessen wurde. Manche Pflegekräfte hatten eine signifikant erhöhte Körpertemperatur, so Kappert-Gonther, andere sogar Fieber.

Auch Großschadensereignisse im Zusammenhang mit der Klimaerwärmung wie Überschwemmungen im Ahrtal 2021 oder Waldbrände, die in ihrer Anzahl und ihrem Umfang neu sind, stellen künftige Themen dar. Ebenso ist die zunehmende Gewalt gegen Rettungs- und Einsatzkräfte oder auch gegen Aufsichtspersonen ein Thema der Zukunft.

Da die Unfallversicherungsträger bei ihrer Personalgewinnung auf den gleichen Arbeitsmarkt zugreifen, wie Betriebe der freien Wirtschaft, wird der Fachkräftemangel die Unfallversicherung weiter beschäftigen. Ein Mangel an Fachleuten schwächt langfristig die Aufsicht.

Zusammenfassung

Für die gesetzliche Unfallversicherung ist Prävention seit jeher ein starkes Standbein. Um den steigenden Kosten im Gesundheitswesen entgegenzuwirken, ist Prävention das Gebot der Stunde.

Dreh- und Angelpunkt der Prävention der Unfallversicherungsträger sind die Überwachung und Beratung als hoheitliche Aufgaben. Diese beiden Präventionsleistungen sind für die gesetzliche Unfallversicherung die „Türöffner“ in die Betriebe. Sie werden von weiteren Präventionsleistungen[5] flankiert und erlauben, einen ganzheitlichen Ansatz zu verfolgen. Beide Aufträge gilt es zu wahren.

Es gibt nur eines, was auf Dauer teurer ist als Prävention – keine Prävention (abgeändert nach John F. Kennedy).