Neuere BSG-Rechtsprechung zum Wegeunfall nach § 8 Abs. 2 SGB VII

Das Bundessozialgericht (BSG) hat am 30. Januar 2020 über vier Revisionen entschieden, die allesamt Aspekte des Wegeunfalls betreffen. Für die praktische Arbeit haben die Urteile eine große Relevanz.

1. Einleitung

Die vier Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) besitzen eine große Relevanz für die praktische Arbeit. Aus diesem Grund werden sie in diesem Artikel vorgestellt und bewertet. Für die Antwort auf die Frage, ob ein Wegeunfall vorliegt, kommt es auf zeitlich-räumliche und (objektiv erkennbare) subjektive Aspekte an, die zunächst in der gebotenen Kürze dargestellt werden (Kapitel 2), bevor die neueren Urteile und ihre Bedeutung erläutert werden (Kapitel 3 bis 5).[1]

2. Allgemeine Grundlagen des Wegeunfalls

Die Grundsätze, wann ein versicherter Weg zum Ort der Tätigkeit (§ 8 Abs. 2 SGB VII) im häuslichen Bereich (in der Regel die Wohnung der versicherten Person) beginnt und endet, sind grundsätzlich geklärt und allgemein anerkannt.

Eine „versicherte Tätigkeit“ stellt gemäß § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII auch „das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit“ dar. Systematisch ist der sogenannte Wegeunfall ein Unterfall des Arbeitsunfalls (§ 8 Abs. 1 SGB VII). Weitere Wegeunfälle betreffen zum Beispiel Abweichungen vom Weg zur Arbeit, um das eigene Kind vor der Arbeit in die Tagesbetreuung zu bringen (§ 8 Abs. 2 Nr. 2a SGB VII). Mit diesen beiden Arten des Wegeunfalls befassen sich die besprochenen Urteile.

2.1 Wegebegriff

Der Begriff des Weges kennzeichnet die „Betätigung des Sichfortbewegens auf ein bestimmtes Ziel hin“. Die Fahrt muss demnach zu dem Zweck unternommen werden, die den Versicherungsschutz begründende Tätigkeit am Zielort auszuüben (beziehungsweise von dort zurückzukehren), also in einem sachlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehen. Es reicht nicht aus, dass sich der Unfall auf der Wegstrecke zwischen Arbeitsstelle und der Wohnung ereignet (sogenannte Streckenidentität). Eine beschäftigte Person, die an ihrem arbeitsfreien Tag zur Arbeit fährt, um Kolleginnen oder Kollegen, mit denen sie eine wechselseitige Fahrgemeinschaft bildet, trotzdem vereinbarungsgemäß zur Firma zu bringen, ist an diesem Tag nicht versichert.[2]

2.2 Räumliche Aspekte

Der Versicherungsschutz auf Wegen beginnt mit dem Durchschreiten der Außentür des von der versicherten Person bewohnten Gebäudes (mit dem sogenannten Schritt ins Freie). „Außentür“ kann dabei nicht nur die Haustür, sondern jede nach draußen führende Tür (Garagentor, in Notfällen zum Beispiel auch ein Fenster) sein.[3] Auf die Bauart des Hauses (etwa Einfamilienhaus, Mehrfamilienhaus) und die möglicherweise variierenden Gegebenheiten (wie Vorgarten, Hinterhofhaus) kommt es nicht an. Bei dieser auf objektive Merkmale gegründeten klaren Grenzziehung zwischen dem versicherten Teil und dem unversicherten Teil des Weges hat sich das BSG insbesondere von dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit und dem Streben nach einer möglichst einheitlichen Rechtsprechung leiten lassen. Diese Grenze trennt klar den öffentlichen Verkehrsraum von dem unversicherten Bereich ab. Der häusliche Bereich, zu dem unter anderem auch das Treppenhaus gehört, ist im Allgemeinen der versicherten Person besser als anderen Personen bekannt und damit eine Gefahrenquelle, für die sie das BSG als selbst verantwortlich ansieht.

Der versicherte Hinweg endet mit dem Erreichen des Betriebsbereichs (abhängig von den tatsächlichen Umständen) und nicht erst am jeweiligen Arbeitsplatz von Beschäftigten (Schreibtisch). Der Weg nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII geht mit dem Passieren des Werkstors beziehungsweise der Außenhaustür in einen nach § 8 Abs. 1 SGB VII versicherten Betriebsweg über, ohne dass eine Schutzlücke entsteht.Vgl. BSG, Urt. v 22.09.1988 – 2 RU 11/88; Ricke, W. in Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, 2021, § 8 SGB VII Rn. 185[4] Gleiches gilt für den Heimweg.

Ein solcher Weg muss zudem „unmittelbar“ sein. Dies meint aber nicht zwingend den streckenmäßig kürzesten Weg. Auch ein etwas längerer, aber verkehrsgünstigerer, schnellerer oder sicherer Weg ist nach allgemeiner Auffassung versichert.[5]

2.3 Zeitliche Aspekte und Handlungstendenz

a) Der erforderliche „sachliche Zusammenhang“ zwischen der versicherten Tätigkeit und der zum Unfall führenden Verrichtung besteht nur, wenn das konkrete Handeln der versicherten Person zur Fortbewegung auf dem Weg zur oder von der versicherten Tätigkeit gehört.

Maßgebliches Kriterium dafür ist, ob die anhand objektiver Umstände zu beurteilende sogenannte Handlungstendenz der versicherten Person beim Zurücklegen des unmittelbaren Weges darauf gerichtet ist, die versicherte Tätigkeit (§§ 2, 3, 6 SGB VII) aufzunehmen oder nach deren Beendigung in den Privatbereich (das ist im typischen Fall die eigene Wohnung) zurückzukehren. Dabei stellt das BSG regelmäßig auf „die kleinste objektiv beobachtbare Handlungssequenz“ ab.[6]

b) Unterbricht die versicherte Person den gemäß § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII grundsätzlich versicherten Hinweg zur beziehungsweise den Rückweg von der Arbeitsstätte, um eine private, für die Wegezurücklegung nicht erforderliche Verrichtung vorzunehmen, ist während dieser Unterbrechung kein Versicherungsschutz gegeben, da es insoweit am ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit fehlt. Wird ein Richtungswechsel eingeleitet, liegt eine (räumliche) Zäsur in Form eines unversicherten Abwegs vor. Sollte zum Beispiel die versicherte Person ihren Weg nach Hause unterbrechen, um Einkäufe zu erledigen, unterbricht sie mit dem Einleiten des Abbiegevorgangs und dem Verlangsamen den versicherten Weg.[7]

Während einer solchen Unterbrechung besteht kein Versicherungsschutz. Dieser lebt – vorbehaltlich einer endgültigen Lösung (vgl. Kapitel 2.3 c) vom Betrieb – erst wieder auf, sobald die eigenwirtschaftliche Tätigkeit beendet und sich die versicherte Person wieder auf dem direkten Weg befindet, sie also den Umweg oder Abweg auch räumlich beendet hat.[8] In diesem Zusammenhang stellt die Rechtsprechung zuweilen auch die (berechtigte) Kontrollfrage, „ob die versicherte Tätigkeit des verunfallten Beschäftigten seine Anwesenheit an der Unfallstelle erklären kann“.[9] Es ist für die erneute Begründung des Wegeunfallschutzes nach einer eigenwirtschaftlichen Unterbrechung im Übrigen nicht hinreichend, dass die verletzte Person bereits wieder unmittelbar an ihrem Auto steht und einsteigen will.[10]

c) Von einer Lösung spricht man, wenn nach Art und Dauer der Unterbrechung nicht mehr davon ausgegangen werden kann, dass sich die Handlungstendenz noch auf die Zurücklegung des Wegs richtet und richten wird. Durch die Unterbrechung „löst“ sich der Zusammenhang zwischen dem Zurücklegen des Wegs und der versicherten Tätigkeit. Das BSG hat für Unterbrechungen in zeitlicher Hinsicht eine Grenze von zwei Stunden als maßgeblichen Zeitpunkt für den Eintritt einer „Lösung“ festgelegt.[11] Dadurch sollten die Versicherten in die Lage versetzt werden, mit der erforderlichen Rechtssicherheit einschätzen zu können, bis wann sie nach einer lediglich privaten Zwecken dienenden Unterbrechung auf dem weiteren Weg wieder unter Unfallversicherungsschutz stehen. Der Hintergrund für die Zwei-Stunden-Grenze, die eine sozial motivierte Rechtsfortbildung darstellt, ist etwas in Vergessenheit geraten. Nach Krasney hat sich „die Rechtsprechung davon leiten lassen, dass bei einem Ende der Arbeitszeit in der Regel zwischen 16.00 und 16.30 Uhr eine Zeit von zwei Stunden ausreichen würde, um die Einkäufe des täglichen Lebens tätigen zu können (…).“[12] Zu begrüßen ist, dass diese Orientierungs- und Rechtssicherheit schaffende „gegriffene Größe“[13] nicht an die im Laufe der Zeit geänderten Arbeits- und Ladenöffnungszeiten angepasst, sondern beibehalten wurde. Ebenso wie das Außenhaustürprinzip starr ist, ist auch hier eine starre Zeitgrenze vorzugswürdig.

d) Der erforderliche sachliche Zusammenhang ist grundsätzlich wertend zu ermitteln, indem untersucht wird, ob die jeweilige Verrichtung innerhalb der Grenze liegt, bis zu welcher der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung reicht. Die Wegeunfallversicherung schützt nach der BSG-Rechtsprechung (nur) vor Gefahren für die Gesundheit, die aus der Teilnahme am öffentlichen Verkehr als Fußgängerin oder Fußgänger sowie als Benutzerin oder Benutzer eines Verkehrsmittels, also aus eigenem oder fremdem Verkehrsverhalten oder äußeren Einflüssen während der Zurücklegung des Weges hervorgehen.[14] Es geht also um die Realisierung von (typischen) Verkehrsgefahren. Dazu kann aber zum Beispiel auch ein Überfall gehören, sofern diesem keine privaten Motive zugrunde liegen.[15] Der Schutzzweck-Gedanke ist Ausdruck eines Denkens in Risiko- und Gefahrenbereichen und stellt damit letztlich eine wertende Entscheidung im Rahmen der rechtlichen Zurechnung dar.[16] Auf diese Weise werden Risiken aus dem privaten Bereich ausgeklammert.

Versicherte Wege im Sinne von § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII können im Übrigen auch mehrmals am Tag versichert zurückgelegt werden.[17]

3. Urteil „B 2 U 9/18 R“ zum Tanken

Im Rahmen der den Versicherten zustehenden Freiheit, ein oder mehrere Verkehrsmittel ihrer Wahl zu benutzen, stellt sich zwangsläufig die Frage nach dem Versicherungsschutz, wenn ein motor- oder elektronisch betriebenes Fahrzeug aufgetankt oder aufgeladen werden muss.

3.1 Der Fall

Die beschäftigte Klägerin fuhr am Unfalltag mit ihrem Pkw auf dem gewohnten Weg von ihrer Wohnung zur Arbeit (Entfernung: 75 Kilometer). Aufgrund von Brückenbauarbeiten kam es auf der Strecke immer wieder zu Verkehrsbeeinträchtigungen, was die Klägerin wusste. Nach Beendigung der Arbeit bestieg die Klägerin das Fahrzeug, um nach Hause zu fahren. Beim Start des Motors ertönte erstmalig ein Tank-Warngeräusch und die entsprechende Anzeige leuchtete auf. Mit der Reservemenge an Kraftstoff ergab sich eine Reichweite von 70 Kilometern. Die Klägerin fuhr die nächstgelegene Tankstelle an. Nach dem Tanken rutschte sie auf dem Weg zur Kasse aus und verletzte sich.

Das BSG nimmt den Fall zum Anlass, seine Rechtsprechung im Zusammenhang mit Tankvorgängen klarzustellen. Es bestätigt den Grundsatz, dass das verbrauchsbedingte Auftanken grundsätzlich alle Kraftfahrzeugführenden trifft und auch dann unversichert ist, wenn das konkrete Ziel ohne ein Auftanken nicht erreicht werden kann.[18] Denn der technische Fortschritt in der Genauigkeit und Zuverlässigkeit der Tankanzeigen ermöglicht es, ohne weitere Umstände bereits am Vortag zu prüfen, ob der Kraftstoffvorrat für den nächsten Tag ausreicht. Die typischen Umstände, die den Verbrauch beeinflussen (Fahrweise, Tankgröße, Antriebsart: Elektromotor/Benziner, das individuelle Tankverhalten), sind allein durch die jeweilige versicherte Person zu beeinflussen, nicht aber durch das beitragszahlende Unternehmen. Schließlich berücksichtigt das BSG, dass sich auch dadurch ein Wertungswiderspruch ergeben könnte, dass die vorausschauend tankende Person regelmäßig nicht unter Versicherungsschutz stünde, wohingegen die nicht vorsorgende Person bei selbst herbeigeführtem Benzinmangel in den Schutzbereich der gesetzlichen Unfallversicherung einbezogen würde. Angesichts dessen hatte die versicherte Person ihren ursprünglichen versicherten unmittelbaren Weg (§ 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII) für den Tankvorgang unterbrochen. Die nicht nur geringfügige Unterbrechung[19] setzte mit der nach außen wahrnehmbaren Einleitung des Abbiegevorgangs (je nach dem: Blinker setzen, Verlangsamen, Spurwechsel) ein und war im Unfallzeitpunkt noch nicht beendet.[20]

Soweit das BSG früher unter Geltung der Rechtsversicherungsordnung (RVO) vereinzelt den Tankvorgang auch dann unter Versicherungsschutz gestellt hatte, wenn das Tanken zur Beendigung des gerade angetretenen Weges notwendig war, stellt das BSG nun ausdrücklich klar, dass solche Tankvorgänge nach geltendem Recht „im Regelfall“ nicht versichert sind. Ob es künftig noch außergewöhnliche Umstände gebe, in denen ausnahmsweise doch ein Versicherungsschutz beim Tanken anzuerkennen wäre (eventuell erhebliche Verkehrsumleitung, Stau), hat das BSG ausdrücklich offengelassen (siehe dazu Kapitel 3.2).

3.2 Bewertung

a) Der Sichtweise, dass das verbrauchsbedingte Tanken in die private Risikosphäre der Versicherten fällt und daher auch dann unversichert ist, wenn die Restkraftstoffmenge (voraussichtlich) nicht mehr zur Bewältigung des restlichen Weges ausreicht, ist zuzustimmen.[21] Das Urteil ist angesichts der Grundsätze zum Wegeunfall konsequent.

b) Wegen der vorsichtigen Formulierung des BSG („im Regelfall“ unversichert) stellt sich perspektivisch die Frage, ob versicherte Ausnahmen beim Tanken (oder Aufladen von E-Autos) denkbar sind.

aa) Zunächst bleibt das Nachtanken auf Betriebswegen (§ 8 Abs. 1 SGB VII) versichert. Betriebswege sind unmittelbarer Teil der versicherten Tätigkeit und gehen dieser nicht, wie die Wege nach § 8 Abs. 2 SGB VII, lediglich voran (Weg zur Arbeit) oder schließen sich ihr an (Weg von der Arbeit nach Hause).[22] Gleiches gilt für Dienstreisen. Weil der Betriebsweg beziehungsweise die Dienstreise unmittelbar Teil der betrieblichen Tätigkeit sind, ist unter anderem das Tanken in diesem Rahmen auch dann noch versichert, wenn dieses nicht unvorhergesehen erforderlich wird.[23] Die grundsätzlich versicherte Person muss aber aufgrund objektiver und objektivierbarer Umstände davon ausgehen, dass das Tanken zur Absolvierung des Betriebsweges notwendig ist, und es muss eine möglichst nahe gelegene Tankstelle aufgesucht werden.[24]

bb) Ebenso erfasst wären Tankvorgänge, die auf einer generellen dienstlichen Weisung, Dienstfahrzeuge (!) wieder betankt (zum Beispiel vollgetankt, mindestens zur Hälfte oder dergleichen) zurückzugeben, beruhen. Gleiches gilt – nun mit Blick auf Wege nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII – in Fällen, in denen Versicherte die Rückgabe des dienstlichen Pkw erst am nächsten Arbeitstag vornehmen (sogenannte Verbringungsfahrt) und anlässlich ihres Weges zur Arbeit (§ 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII) anhalten und tanken. Insoweit stellt dies eine Erfüllung einer arbeitsvertraglichen Nebenpflicht dar, sodass ein „betrieblich bedingter“ Umweg vorliegt.[25]

cc) Weitere Ausnahmen sind nicht ersichtlich. Insoweit hat das BSG deutlich ausgeführt, dass das Nachtanken immer privatwirtschaftlich und die Notwendigkeit des Tankens individuell beeinfluss- und nachprüfbar ist. Eine Gleichsetzung mit Fallgestaltungen einer unerwartet auftretenden Panne[26] ist nicht angezeigt, weil das Tanken planbar und ein Treibstoffmangel leichter behebbar ist.[27] Damit bleibt das Betanken des privaten Pkw unversichert. Auch das verhältnismäßig längere Aufladen von E-Autos oder E-Bikes ist rein privater Natur und stellt keine versicherte verkehrsbedingte Wartezeit[28] dar.

4. Urteile „B 2 U 2/18 R“ und „B 2 U 20/18 R“

Gleich zwei Urteile betreffen den Problemkreis des sogenannten Dritten Ortes. Vereinfacht gesagt, ist ein solcher Dritter Ort ein versicherungsrechtlicher Ersatz für das „Zuhause“ als Start- oder Endpunkt des Weges.

4.1 Urteil „B 2 U 2/18 R“ (Dritter Ort I)

a) Der Fall

Der Kläger war in der Wohnung seiner Eltern in D. polizeilich gemeldet. Er bewohnte dort ein Zimmer und hatte seine gesamte Habe untergebracht. Er war in D. als Auslieferungsfahrer beschäftigt. Nach Feierabend fuhr er in der Regel zunächst in die elterliche Wohnung und nahm dort eine Mahlzeit ein. Danach suchte er regelmäßig montags bis freitags seine Freundin in M. auf und übernachtete dort, um am Folgetag von dort aus zu seiner Arbeitsstätte in D. zu fahren. Damit nutzte er über einen längeren Zeitraum zwei Wohnbereiche. Der Weg zwischen der Arbeitsstätte und der Meldeadresse ist zwei Kilometer lang, der Weg zur Wohnung der Freundin 44 Kilometer. Am Unfalltag verunglückte der Kläger auf dem direkten Weg von der Wohnung seiner Freundin, wo er übernachtet hatte, zu seiner Arbeitsstätte. Nach gewährter Heilbehandlung und Verletztengeldzahlung wurde das Ereignis nicht als Arbeitsunfall anerkannt.

Zunächst stellt das BSG klar, dass ein versicherter Weg zur Arbeitsstätte im Sinne des § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII auch von einem anderen Ort als der Wohnung angetreten werden kann, da das Gesetz als End- oder Ausgangspunkt des Weges nur den Ort der versicherten Tätigkeit festlegt. Die Norm lässt hingegen offen, wo der Weg nach dem Ort der Tätigkeit beginnt oder wo der Weg von dem Ort der Tätigkeit endet.

Angesichts zwischenzeitlich geäußerter Kritik[29] betont der Senat ausdrücklich, dass er auch aus Gründen der Rechtssicherheit an dieser Zwei-Stunden-Grenze bei einem Aufenthalt an einem sogenannten Dritten Ort festhält. Ein Ort wird erst dann zu einem Dritten Ort, von dem aus ein versicherter Weg zur Arbeitsstätte angetreten werden kann, wenn der Versicherte sich dort zwei Stunden oder länger aufhält (oder vorhat, sich mindestens zwei Stunden aufzuhalten). Allerdings waren die bisherige Rechtsprechung und Literatur uneinheitlich, was die genauen Kriterien zur Beurteilung des entsprechenden Versicherungsschutzes anbelangt. Dies betraf maßgeblich die Frage, ob der Weg von einem Dritten Ort in einem angemessenen Verhältnis zu dem üblicherweise zurückzulegenden Arbeitsweg stehen müsse oder ob an den Zweck des Aufenthalts an diesem Dritten Ort inhaltliche Anforderungen zu stellen seien.

Wegen einer uneinheitlichen BSG-Rechtsprechung in der Vergangenheit stellt das BSG nun zur Herstellung von Rechtsanwendungsgleichheit ausdrücklich klar: Es kommt bei einem Unfall auf dem Weg vom Dritten Ort weder auf einen mathematischen oder wertenden Angemessenheitsvergleich der Wegstrecken nach der Verkehrsanschauung noch – im Rahmen einer Gesamtschau – auf etwaige betriebsdienliche Motive für den Aufenthalt am Dritten Ort an. Ebenso unerheblich sind der erforderliche Zeitaufwand zur Bewältigung der verschiedenen Wege und deren Beschaffenheit oder Zustand, das benutzte Verkehrsmittel, das erhöhte, verminderte oder annähernd gleichwertige Unfallrisiko oder ob sich Weglänge und Fahrzeit noch im Rahmen der üblicherweise von Pendlerinnen und Pendlern zurückgelegten Wegstrecke halten. Die Einführung von zusätzlichen Kriterien zulasten der Versicherten ist aus Gründen der juristischen Methodik nicht zulässig.

Entscheidend ist vielmehr, ob der Weg vom Dritten Ort zur Arbeitsstätte wesentlich von der subjektiven Handlungstendenz geprägt ist, den Ort der Tätigkeit aufzusuchen, und ob dies in den realen Gegebenheiten objektiv eine Stütze findet, das heißt objektivierbar ist. Dies begründet der Senat auch damit, dass für Wege, die ihren Ausgangs- oder Endpunkt nicht an einem Dritten Ort, sondern im häuslichen Bereich der versicherten Person haben, seit jeher keine Entfernungsgrenze gilt. Auf dieser Basis lassen sich mit den Grundsätzen der gespaltenen objektivierten Handlungstendenz auch die sogenannten Rückreisefälle befriedigend lösen, bei denen Versicherte den Weg zur Arbeitsstätte direkt von ihrem Urlaubsort oder nach einem Verwandtenbesuch antreten.

 

b) Bewertung

aa) Zunächst stellt die tatsächliche Gewährung von Heilbehandlung und/oder Verletztengeld noch keine Anerkennung eines Arbeitsunfalls dar, was im Urteil angedeutet wird, an anderer Stelle aber schon deutlicher formuliert wurde.[30]

bb) Zudem ist verfahrensrechtlich bemerkenswert, dass das dritte Zugunstenverfahren nach § 44 SGB X zum Erfolg führte. Dies verdeutlicht, dass es wegen dieser Vorschrift keine Rechtskraft von Verwaltungsakten im Sozialrecht gibt.

cc) Zwar würde es dem Gedanken der Schutzzweck-Lehre entsprechen, wenn Gefahr- oder Risikoerhöhungen durch längere Wege unversichert wären. Solche Prüfungen entziehen sich aber einer eindeutigen Grenzziehung.[31] Die bisherigen Kriterien der Rechtsprechung überzeugten nicht.[32] Sofern in der Vergangenheit zum Beispiel darauf abgestellt wurde, ob sich der tatsächlich zurückgelegte Weg „nach der Verkehrsanschauung unter Berücksichtigung aller Umstände von dem üblichen Weg nach und von der Arbeitsstätte so erheblich unterscheidet, dass er nicht von dem Vorhaben des Beschäftigten geprägt ist, sich zur Arbeit zu begeben oder von dieser zurückzukehren“[33], so kann auf dieser Basis eine gleichförmige und verlässliche rechtliche Bewertung kaum gelingen (was ist „die Verkehrsanschauung“?).

dd) Insoweit gab es verschiedentlich Vorschläge für eine klare Grenzziehung, die sich zum Beispiel anhand eines starren 50-Kilometer-Radius richten soll, anhand von Prozentwerten im Verhältnis zum „üblichen“ Weg beziehungsweise anhand der jeweiligen Gemeindegrenzen zu bestimmen sein sollen.[34] Eine solche Grenzbestimmung würde zu viele Zufälligkeiten beinhalten; zu fragen wäre zum Beispiel, ob es auf den verkehrsmäßig günstigsten Weg, den Weg mit dem tatsächlich gewählten Verkehrsmittel oder die Luftlinie ankäme? Worauf würde man abstellen, wenn eine versicherte Person den Weg zur Arbeit mal mit dem Pkw (49 Kilometer), mal mit dem ÖPNV (51 Kilometer) zurücklegt? Ebenso sind Zufälligkeiten wie Gemeindegrößen zu vermeiden: Im Ruhrgebiet ist es ohne Weiteres möglich, in einer Stadt zu wohnen, sein Auto, das „um die Ecke“ parkt, aber schon in der Nachbarstadt abzustellen.

Gleiches gilt sinngemäß für die Frage nach den Motiven für das Aufsuchen des Dritten Ortes (der vorrangig immer privater Natur sein dürfte). Da der Rückweg unter Versicherungsschutz steht, weil die versicherte Tätigkeit beendet wurde, war die Motivbeurteilung nie überzeugend.

ee) Daher betont das BSG in erfreulicher Klarheit, dass allein auf die objektivierte Handlungstendenz abzustellen ist und nicht auf „gegriffene Größen“ oder schwer bestimmbare Angemessenheitsvergleiche.[35] Das ist angesichts der seit dem bedeutsamen BSG-Urteil vom 9. Dezember 2003[36] eingeleiteten Rechtsprechungsentwicklung konsequent. Dabei wird zu Recht darauf hingewiesen, dass auch die übrigen Varianten des Wegeunfalls (§ 8 Abs. 2 Nr. 2 bis 5 SGB VII) keine Entfernungsbegrenzung kennen.[37] Ein Dammbruch hinsichtlich sogenannter Reiserückkehrer ist dabei nicht zu befürchten. Zunächst dürfte es die absolute Ausnahme darstellen, dass Beschäftigte unmittelbar aus dem Ausland zum Ort der versicherten Tätigkeit reisen, ohne zuvor noch nach Hause zu fahren.[38] In diesen seltenen Fällen werden die Unfallversicherungsträger dann genau zu ermitteln haben, auch unter dem Aspekt der gespaltenen Handlungstendenz. Ebenso wie ein versicherter Weg zu einem Dritten Ort aber ausscheidet, wenn die versicherte Person bereits zuvor ihre eigene Wohnung als Endpunkt des Weges von der Arbeitsstätte erreicht hat,[39] wird ein potenzielles versicherungsrechtliches Band bei einem Weg von einem Dritten Ort zum Ort der versicherten Tätigkeit (Arbeitsstätte) gekappt, wenn die versicherte Person die eigene Wohnung aufsucht, auch wenn es nur zum Ausladen des Gepäcks erfolgt. Aktuell ist eine solche Konstellation auch beim BSG anhängig.[40] Fahrten aus dem Urlaubsort können zum Beispiel auch nach § 8 Abs. 2 Nr. 4 SGB VII versichert sein.[41]

Man mag einwenden, dass der Dritte Ort nicht gesetzlich geregelt ist, und die Frage aufwerfen, wieso insoweit ein mindestens zweistündiger Aufenthalt gefordert werde.[42] Insoweit ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber bei der Überführung der gesetzlichen Unfallversicherung aus der RVO in das SGB VII zum 1. Januar 1997[43] ausdrücklich die bis dato bekannte BSG-Rechtsprechung zum Dritten Ort „nicht berühren“, sondern sie weiter der richterrechtlichen Ausprägung überlassen wollte.[44] Bei einer Aufgabe der Zwei-Stunden-Regel (sowohl im Hinblick auf den Dritten Ort als auch die Lösung vom Versicherungsschutz, siehe Kapitel 2.2) würden sich kaum weniger problematische Folgefragen stellen: Führt zum Beispiel ein eingeschobener Einkauf bereits zum endgültigen Verlust des Versicherungsschutzes, wenn er die übliche Dauer des Arbeitsweges überschreitet, oder um welchen (prozentualen oder absoluten) Anteil kann dieser durch ihn überschritten werden?[45] Nach welchen Maßstäben würde eine „Lösung“, der versicherungsrechtlich bedeutende „Schritt ins Private“ eintreten? Insoweit bedarf es einer möglichst klaren (starren) Grenze für die rechtliche Wertung, ob noch ein hinreichend enger sachlicher Bezug zur versicherten Tätigkeit vorliegt. Daher ist das Festhalten an der Zwei-Stunden-Grenze, so diskutabel der Zeitwert sein mag, eindeutig vorzugswürdig (vgl. Kapitel 2.3 c).

ff) Im vorliegenden Fall erörtert das BSG allerdings nicht die Möglichkeit, dass die Wohnung der Freundin angesichts der häufigen, mehrtägigen Aufenthalte des Klägers zu einem „erweiterten häuslichen Bereich“ geworden sein könnte, sodass eben kein Dritter Ort  gegeben wäre.[46]

gg) Falls ein Rückweg vom Ort einer (beendeten) versicherten Tätigkeit zugleich der Hinweg zum Ort einer anderen versicherten Tätigkeit darstellt, bestimmt der Zielort den zuständigen Versicherungsträger. Denn die Handlungstendenz der versicherten Person ist typischerweise „nach vorne“ auf die nächste, am Ziel der Fahrt beabsichtigte versicherte Tätigkeit gerichtet.[47] Dann stellt sich die Frage nach einem Dritten Ort nicht.

4.2 Urteil „B 2 U 20/18 R“ (Dritter Ort II)

Aus Platzgründen wird das zweite Urteil vom 30. Januar 2020 zum Dritten Ort hier nicht weiter dargestellt. 

5. Urteil „B 2 U 19/18 R“ zum „Kindergartenweg“

Für viele Beschäftigte dient die Telearbeit (sogenanntes Homeoffice) der verbesserten Vereinbarkeit von Beruf und Familie (von pandemiebedingten Vorteilen einmal abgesehen). Dazu gehört unter anderem auch, das eigene Kind vor Arbeitsbeginn in die Tagesbetreuung (Kindertageseinrichtung, Kindertagespflege) zu bringen. Der Gesetzgeber hat Wegeabweichungen, die notwendig sind, um Kinder wegen beruflicher Tätigkeit fremder Obhut anzuvertrauen, unter Unfallversicherungsschutz gestellt (§ 8 Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe a SGB VII). Fraglich ist indes die genaue Reichweite dieses Schutzes. Konkret ging es um die Wege zwischen der eigenen Wohnung (als Ort der Telearbeit) und der Kindertageseinrichtung, eingekleidet in einen Kostenerstattungsstreit zweier Leistungsträger.

5.1 Der Fall

Die Klägerin (Krankenkasse) begehrt von der Beklagten (Unfallversicherungsträger) die Erstattung von Kosten in Höhe von rund 19.000 Euro für die Behandlung der beigeladenen Versicherten B. Am Unfalltag arbeitete B. von zu Hause aus. Sie hatte ihre Wohnung gegen 9.20 Uhr verlassen und ihre Tochter K. zum Kindergarten gebracht. Auf dem direkten Rückweg nach Hause, um dort wieder ihre Telearbeit aufzunehmen, erlitt B. gegen 9.30 Uhr einen Unfall, als sie aufgrund von Eisglätte (Blitzeis) mit dem Fahrrad auf der Fahrbahn wegrutschte und sich verletzte. Mit bestandskräftigem Bescheid lehnte die Beklagte gegenüber B. die Anerkennung eines Arbeitsunfalls ab. Zeitgleich hat die Klägerin eine Klage vor dem Sozialgericht (SG) erhoben und die Erstattung der von ihr getragenen Behandlungskosten beantragt (§ 11 Abs. 5 SGB V, § 105 SGB X).

Das BSG betont, dass sich die Versicherte nicht auf einem Weg von ihrer Wohnung „zur versicherten Tätigkeit“ oder umgekehrt (§ 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII) befunden habe. Das Zurücklegen eines versicherten Weges setzt voraus, dass die Orte des privaten Aufenthalts und der versicherten Tätigkeit, zwischen denen der Weg zurückgelegt wird, räumlich auseinanderfallen. Dies ist bei der Tätigkeit in einem sogenannten Homeoffice[48] nicht der Fall. Die Kindertageseinrichtung wurde auch nicht mindestens zwei Stunden lang aufgesucht, sodass diese keinen Dritten Ort darstellt.

Die Mutter stand auch nicht nach § 8 Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe a SGB VII unter Versicherungsschutz. Danach ist eine Abweichung von einem unmittelbaren Weg, um Kinder von Versicherten (…) wegen einer beruflichen Tätigkeit (eigene oder von Ehegatten oder Lebenspartnerinnen oder Lebenspartnern) fremder Obhut anzuvertrauen, versichert. Nach dem klaren Wortlaut der Nr. 2 Buchstabe a muss zunächst ein versicherter Weg (zur Arbeit) nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII vorliegen, von dem dann zu dem im Gesetz genannten Zweck (Kinderbetreuung) abgewichen wird. Da der vorliegend zu entscheidende Sachverhalt, dass ausschließlich für das Verbringen der Kinder das Haus verlassen wird, nach der gesetzgeberischen Wertung gerade nicht von Nr. 2 Buchstabe a erfasst werden sollte, scheidet auch eine Analogie[49] aus. Eine Änderung der Rechtslage ist alleinige Aufgabe des Gesetzgebers (dazu Kapitel 5.2 b).

5.2 Bewertung

a) Dem Urteil ist voll und ganz zuzustimmen.[50] Die Verneinung von Versicherungsschutz für das Verbringen von Kindern zur Kita, wenn die versicherte Tätigkeit in der Privatwohnung verrichtet wird, ist auch nicht verfassungsrechtlich geboten, womit das BSG zu Recht entsprechenden Stimmen in der Literatur eine Absage erteilt.[51] Das BSG hat zutreffend betont, dass die Grenzen der zulässigen Rechtsauslegung mit einer Ausdehnung auf Wege zwischen der Kita und der Wohnung bei Telearbeitenden überschritten wäre.

Deutliche Kritik hat das Urteil unter anderem von Mülheims erfahren, der in der „veränderten Arbeitswelt“ eine planwidrige Regelungslücke erkennt und daher eine analoge Anwendung fordert.[52] Er wirft dem BSG geradezu eine „Verweigerungshaltung“ vor. Dies übersieht unter anderem, dass das Fehlen einer (von Rechtsanwendenden) erwünschten Regelung noch nicht bedeutet, dass das Gesetz planwidrig unvollständig (geworden) ist. Noch im Mai 2020 hatte zum Beispiel der Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales einen Änderungsantrag abgelehnt, wonach „in der Zeit vom 18.03.2020 bis 30.09.2020 bei einem Unfall (…), der während der Arbeitszeit passiert, vermutet wird, dass es sich um einen Arbeitsunfall nach Absatz 1 Satz 1 handelt“. Dies sollte dann gelten, wenn die „Arbeit zu Hause gestattet oder angeordnet“ wurde.[53] Wenn eine solche Regelung schon nicht vom Gesetzgeber beschlossen wird, dann kann erst recht nicht angenommen werden, eine Analogie des § 8 Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe a zugunsten von Telearbeitenden wäre eine Regelung in seinem Sinne. Insofern hat sich das BSG zu Recht nicht zum Ersatzgesetzgeber aufgeschwungen und beachtet, dass „der Richter seine eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung nicht an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzen darf“.[54] Der Sachverhalt der zu Hause arbeitenden versicherten Person, die ihre Privatsphäre nicht verlassen müssen, ist nicht wesentlich gleich mit dem einer in einem Unternehmen, also in Präsenz arbeitenden versicherten Person.

b) Mittlerweile hat der Gesetzgeber auf die BSG-Rechtsprechung reagiert und durch Artikel 5 des Betriebsrätemodernisierungsgesetzes[55] Veränderungen des § 8 SGB VII vorgenommen. Für neue Versicherungsfälle ab dem 18. Juni  2021[56][56] wurde der Versicherungsschutz der Beschäftigten im Homeoffice dem der in den Betrieben tätigen Präsenzbeschäftigten angeglichen (neuer § 8 Abs. 1 Satz 3 SGB VII). Vereinfacht gesagt, ist man im Homeoffice so versichert wie Beschäftigte „auf der Unternehmensstätte“.[57]

Mit Blick auf das BSG-Urteil „B 2 U 19/06 R“ relevanter ist die zweite Änderung, die ebenfalls für Fälle ab dem 18. Juni 2021 gilt: In einer neuen Nr. 2a des § 8 Abs. 2 SGB VII wird nun ein Versicherungsschutz von Personen begründet, die ihre Tätigkeit im Homeoffice ausüben und wegen ihrer beruflichen Tätigkeit (oder der von Ehe- oder Lebenspartnerinnen oder -partnern) Wege zu einer außerhäuslichen Betreuung (fremde Obhut) ihrer Kinder zurücklegen. Es werden also künftig auch unmittelbare Wege aus dem häuslichen Arbeitsumfeld geschützt. Der typische Fall betrifft das Bringen oder Abholen der Kinder in die oder aus der Kindertagesbetreuung.

Der Wortlaut des neuen § 8 Abs. 2 Nr. 2a SGB VII setzt dabei nicht voraus, dass diese Wege in einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Telearbeit zurückgelegt werden müssen. Da es insoweit aber ebenfalls um eine Gleichstellung von Telearbeitenden mit Präsenzarbeitenden geht, bedarf es eines Korrektivs. Denn Präsenzarbeitende sind auf dem Weg zum Ort der Kinderbetreuung nur dann versichert, wenn sie dies mit ihrem eigenen Weg zur Arbeit verbinden (§ 8 Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe a).[58] Auch nach der Gesetzesbegründung ist der neue Versicherungsschutz deswegen gerechtfertigt, weil die Unterbringung der Kinder dazu dient, „die Ausübung der beruflichen Tätigkeit der Versicherten zu ermöglichen“.[59] Insofern spricht vieles dafür zu verlangen, dass innerhalb von zwei Stunden nach der Inobhutgabe die Telearbeit begonnen werden muss, andernfalls kein Versicherungsschutz auf den Wegen besteht. Die zwei Stunden wären auch bei Präsenzarbeitenden die relevante Grenze, bei dessen Überschreiten eine Lösung vom Versicherungsschutz eintritt.

Unfälle bis einschließlich 17. Juni 2021 sind nach der bisherigen Rechtsprechung zu entscheiden, da der Gesetzgeber keine Rückwirkung der Neuerungen vorgesehen hat.[60]

6. Fazit

Das BSG präzisiert seine Rechtsprechung zum Wegeunfall. Im Hinblick auf den Dritten Ort dürfte diese zu einer Vereinfachung führen. Alle vier Urteile sind im Ergebnis dogmatisch konsequent und fügen sich gut in die bisherige Rechtsprechung ein. Die Änderungen des § 8 SGB VII durch das Betriebsrätemodernisierungsgesetz wirken sich auf die zukünftige Rechtsprechung aus, werfen aber viele neue Fragen auf.