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Ausgabe 12/2024

Voraussetzung der Haftung juristischer Personen gemäß § 111 SGB VII

Der Kreis der nach § 110 Abs. 1 SGB VII haftenden natürlichen Personen, der nach § 111 Satz 1 SGB VII zu einer Haftung des Unternehmens selbst führt, ist streng nach dem sehr engen Wortlaut der Norm zu bestimmen.

§ BGH, Urteil vom 11.06.2024 – VI ZR 133/23

Wenn Versicherungsfälle der gesetzlichen Unfallversicherung durch natürliche Personen verursacht werden, die gemäß den §§ 104 ff. Sozialgesetzbuch (SGB) VII haftungsprivilegiert sind, können diese gemäß § 110 Abs. 1 SGB VII in Anspruch genommen werden, wenn sie den Versicherungsfall mindestens grob fahrlässig herbeigeführt haben. Die Haftung juristischer Personen beziehungsweise des Unternehmens selbst hingegen ist in § 111 Satz 1 SGB VII geregelt.

Bis zur Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 11. Juni 2024 war umstritten, ob die zu § 31 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) entwickelten Grundsätze der Repräsentantenhaftung auf § 111 Satz 1 SGB VII übertragen werden können. Wenn man diese Frage bejaht, führt dies zu einer umfassenderen Haftung juristischer Personen beziehungsweise des Unternehmens, als wenn man diese Frage verneinen würde. Praktische Konsequenzen für die regressierenden Sozialversicherungsträger ergeben sich dadurch, dass bei einer erfolgreichen Inanspruchnahme juristischer Personen gemäß § 111 Satz 1 SGB VII ein dahinterstehender Betriebshaftpflichtversicherer nahezu stets Deckungsschutz gewähren muss, während dies für die natürlichen Personen, die gemäß § 110 Abs. 1 SGB VII in Anspruch genommen werden, aufgrund sogenannter Arbeitsunfallklauseln in Betriebshaftpflichtversicherungsverträgen zweifelhaft sein kann. Die regressierenden Sozialversicherungsträger sind deswegen stets daran interessiert, nicht nur Titel gegen natürliche Personen gemäß § 110 Abs. 1 SGB VII zu erstreiten, bei denen mangels finanzieller Liquidität der natürlichen Personen keine tatsächlichen Regresseinnahmen fließen oder sich ein Verfahren auf völligen oder teilweisen Erlass gemäß § 110 Abs. 2 SGB VII anschließt, sondern gegen liquide juristische Personen und Unternehmen gemäß § 111 Satz 1 SGB VII. Dies erklärt, warum Regressverfahren auch gegen die Unternehmen selbst geführt werden, anstatt sich auf Verfahren gegen natürliche Personen zu beschränken.

Der BGH hat mit seiner Entscheidung vom 11. Juni 2024 die Inanspruchnahme juristischer Personen gemäß § 111 Satz 1 SGB VII dahin gehend eingeschränkt, dass nicht jeder Repräsentant, den als natürliche Person eine Haftung gemäß § 110 Abs. 1 SGB VII trifft, als solche Person anzuerkennen ist, die zu einer zusätzlichen Haftung auch des Unternehmens nach § 111 Satz 1 SGB VII führt. Vielmehr müsse streng auf den genauen Wortlaut des § 111 Satz 1 SGB VII abgestellt werden, der eine Zurechnung eines Fehlverhaltens natürlicher Personen gemäß § 110 Abs. 1 SGB VII zu einem Unternehmen nur erlaubt, wenn die natürliche Person ein Mitglied eines vertretungsberechtigten Organs juristischer Personen, ein Abwickler, ein Liquidator, ein alleinvertretungsberechtigter Gesellschafter oder ein Liquidator einer rechtsfähigen Personengesellschaft oder ein gesetzlicher Vertreter der Unternehmer ist, der in Ausführung ihnen zustehender Verrichtungen den Versicherungsfall vorsätzlich oder grob fahrlässig verursacht hat.

Damit fällt ein Großteil der sogenannten Repräsentanten – wie zum Beispiel einfache Betriebsleiterinnen und Betriebsleiter oder Teamleiterinnen und Teamleiter – aus dem Kreis der zurechenbaren Personen heraus. Zwar war es seit Jahrzehnten so, dass die Haftung sogenannter „einfacher“ Mitarbeiter nach § 110 Abs. 1 SGB VII nicht genügte, auch eine Haftung der Arbeitgeberin nach § 111 Satz 1 SGB VII zu begründen. Aber wenn es sich bei der nach § 110 Abs. 1 SGB VII haftenden Person um eine solche handelte, der von der juristischen Person bedeutsame wesensmäßige Funktionen zur eigenverantwortlichen Erfüllung zugewiesen wurden, wären die Voraussetzungen einer Repräsentantenhaftung nach § 31 BGB erfüllt, weil diese natürliche Person dann durchaus die juristische Person repräsentierte. Dann nahm ein Teil der zweitinstanzlichen Rechtsprechung an, dass man diese Grundsätze auf § 111 Satz 1 SGB VII übertragen könne. Denn da der Repräsentant fremdnützig für das Unternehmen beziehungsweise die juristische Person handele, sei es gerechtfertigt, das zivilrechtliche Repräsentationsprinzip der Mithaftung des Vertretenen gemäß den §§ 31, 278, 831 BGB auf § 111 Satz 1 SGB VII zu übertragen.

Der BGH begründet seine Ablehnung der letztgenannten Auffassung damit, dass der Wortlaut des § 111 Satz 1 SGB VII im Vergleich zu § 31 BGB enger ist. Zudem ergäben sich aus der Gesetzgebungshistorie keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber auch bei § 111 Satz 1 SGB VII von einer Repräsentantenhaftung ausgeht. Eine erweiternde Auslegung oder analoge Anwendung des § 111 Satz 1 SGB VII im Sinne einer Repräsentantenhaftung widerspräche auch der Gesetzessystematik. Auch Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung würden nicht für eine erweiternde Auslegung oder analoge Anwendung des § 111 Satz 1 SGB VII sprechen. Diese Norm soll keinen umfassenden Rückgriff nach schadensersatzrechtlichen Grundsätzen gewährleisten. Auch eine Entlastung der natürlichen Personen, die nach § 110 Abs. 1 SGB VII in Anspruch genommen werden, sei nicht Regelungszweck des § 111 Satz 1 SGB VII.

Eine wichtige in Regressverfahren offene Rechtsfrage ist durch die Entscheidung des BGH vom 11. Juni 2024 abschließend geklärt. Dies ist, auch wenn der BGH zu einer anderen vertretbaren Entscheidung hätte gelangen können, zu begrüßen. Eine praktische Auswirkung der Entscheidung für Regressverfahren der Sozialversicherungsträger ergibt sich insoweit als zukünftig intensivere Korrespondenz mit den natürlichen Personen, die als Schädiger in Betracht kommen, geführt werden muss, anstatt sich auf die Korrespondenz lediglich mit dem Unternehmen (und einem eventuell ausschließlich hinter der juristischen Person stehenden Betriebshaftpflichtversicherer) zu beschränken.

Die Inhalte dieser Rechtskolumne stellen allein die Einschätzungen des Autors/der Autorin dar.

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