Erste Ergebnisse des Projektes zur Psychosozialen Notfallversorgung in Unternehmen
Erste Ergebnisse des von 2022 bis 2025 laufenden Forschungsprojektes der SRH Hochschule für Gesundheit zur Bestandsaufnahme der Umsetzung der Psychosozialen Notfallversorgung in Unternehmen in Deutschland werden vorgestellt. Das Projekt wird durch die DGUV-Forschungsförderung unterstützt.
Key Facts
- In Unternehmen treten viele verschiedene Notfälle auf, für die teilweise präventive Maßnahmen der Psychosozialen Notfallversorgung (PSNV) ergriffen werden – Ausbaupotenziale bestehen vor allem bei organisatorischen und personenbezogenen Maßnahmen sowie beim Dokumentations- und Meldeverhalten
- Unfallversicherungsträger zeigen eine hohe Bandbreite in den Angeboten zur Psychosozialen Notfallversorgung, unterstreichen die Bedeutung von angepassten Präventions- und Rehabilitationsmaßnahmen und heben die Notwendigkeit einer verbesserten Informationsbereitstellung und -verwaltung hervor
- Ehrenamtliche PSNV-B-Teams, wie beispielsweise Kriseninterventions- oder Notfallseelsorgeteams, sind häufig in Unternehmen in der Akutversorgung nach Notfällen tätig
Das Forschungsprojekt im Überblick
Im Kontext einer stärkeren Fokussierungauf die psychische Gesundheit in der Arbeitswelt kommt psychischen Gesundheitsgefährdungen aufgrund von Notfällen imArbeitskontext als Thema des Arbeitsschutzeszunehmend Aufmerksamkeitzu. Mit dem Begriff Notfall ist dabei eineunerwartete, plötzliche Extremsituationgemeint. Diese ist von kurzer Dauer, hateinen klaren Anfang und ein Ende undgeht häufig mit dem Erleben von Angst,Bedrohung oder Hilflosigkeit einher. Notfälleim Arbeitskontext sind zum Beispielschwere oder tödliche Arbeits- und Wegeunfälle,medizinische Notfälle oder verbaleund körperliche Gewalttaten.
Bei Notfällen am Arbeitsplatz könnenneben körperlichen Verletzungen auchpsychische Gesundheitsgefährdungenauftreten. Die psychische Gesundheitsgefährdungbei einem Notfall kann über dieakute starke psychische Beanspruchunghinaus auch mittelfristig zu starken psychischenund sozialen Beeinträchtigungensowie längerfristig zu psychischen Störungen,wie zum Beispiel Traumafolgestörungen,führen. Potenziell betroffen sinddabei nicht nur die Geschädigten selbst,sondern auch Kollegen und Kolleginnen,die als Ersthelfendeoder Augenzeugen undAugenzeuginnen an dem Notfall beteiligtsind. Betriebliche Folgen können krankheitsbedingteFehlzeiten bis hin zu dauerhafterArbeitsunfähigkeit sein.

Die Psychosoziale Notfallversorgung in Unternehmen
Um die psychische Stabilität der Betroffenenzu fördern, wird von der DGUVdie Implementierung einer PsychosozialenNotfallversorgung in Unternehmen empfohlen.[1][2][3][4]Wie in der Abbildung 1dargestellt, beinhaltet diese im Idealfallpräventive Maßnahmen, Maßnahmen derAkutversorgung, Maßnahmen in den erstenTagen und Wochen nach dem Notfall sowie Maßnahmen der Wiedereingliederung.Auf Grundlage der wissenschaftlichen Literaturund des aktuellen Erkenntnisstandskann jedoch nicht dargestellt werden, welcheModelle und Vorgehensweisen Betriebederzeit wählen, um eine Psychosoziale Notfallversorgung ihrer Beschäftigten zuermöglichen. Darauf aufbauend gibt es wenigEvidenz, welche betrieblichen Parametereine gute psychosoziale Betreuung vonBeschäftigten nach Notfallsituationen imArbeitskontext ausmachen.
Beide Fragen sollen wissenschaftlich eruiertwerden, damit Unfallversicherungsträger Unternehmen noch besser dabeiunterstützen können, ihren Beschäftigteneine gute Betreuung nach plötzlich auftretenden Notfallsituationen zu ermöglichen.
Um dieses Ziel zu erreichen, wird im vorliegendenForschungsprojekt in vier Teilprojekteneine multiperspektivische Bestandsaufnahme der PsychosozialenNotfallversorgung in Unternehmen durchgeführt– aus Sicht der Betriebe, der Unfallversicherungsträger, der ehrenamtlichen
PSNV-B-Teams und der externen Anbieterinnenund Anbieter. Inhaltlich werdengemäß dem DGUV-Modell[5]die folgendenBereiche betrachtet:
- Prävalenz von Notfallarten
- Prävention von Notfallsituationenund schweren Unfällen (Primärprävention)
- Akuthilfe und Unterstützung in denersten Tagen/Wochen nach dem Notfall(Sekundärprävention)
- Rehabilitation, Nachsorge und beruflicheWiedereingliederung (Tertiärprävention)
- Themen der Zusammenarbeit
Die Ergebnisse werden final zusammengeführt.
Die Bestandsaufnahme ist als Querschnittsuntersuchungverschiedener beteiligterZielgruppen mit unterschiedlichen Befragungenkonzipiert, mit jeweils Screeningund Intensivbefragung. Das Forschungsprojektwird durch einen multiprofessionellenForschungsbegleitkreis beraten (Abbildung2).
Der Fokus dieses Artikels liegt auf denAktivitäten der Teilprojekte (TP) 1 bis 3in der ersten Projekthälfte (1. Januar 2022bis 30. Juni 2023). In diesem Zeitraum erfolgtein TP 1 eine Onlinebefragung von2.388 Unternehmen unterschiedlicherUnternehmensgröße, Branche und Unfallversicherungsträger-Zugehörigkeit. InTP 2 erfolgten Dokumentenanalysen undInterviews mit 75 Prozent der Unfallversicherungsträgerund in TP 3 lag der Fokusauf Kommunikation und Information sowieden Einsatzstatistiken von regional tätigenehrenamtlichen PSNV-B-Teams.

Aktuelle Ergebnisse des Teilprojekts 1 – Unternehmen
Zwischen September 2022 und März 2023wurde eine Onlinebefragung der Unternehmenin zwei Untersuchungsreihen durchgeführt.Der Onlinefragebogen bestand ausmaximal 36 Fragen. Davon waren 20 geschlosseneFragen, fünf gemischt geschlossenund offen sowie elf offene Fragen. DieBearbeitungszeit lag bei 15 bis 20 Minuten.Die Befragungsinhalte waren:
I. Allgemeine Fragen zum Unternehmen
II. Allgemeine Fragen zu Notfällen imBetrieb
III. Detailfragen zur Prävention psychischerGesundheitsgefährdungen beiNotfällen
IV. Hinderliche und förderliche Aspekte der psychosozialen Betreuung beiNotfällen
V. Zusammenarbeit und Leistungen desUnfallversicherungsträgers
Nachstehend werden die Ergebnisse derverschiedenen Teile im Überblick vorgestellt.
I. Allgemeine Fragen zum Unternehmen
Insgesamt konnten die Datensätze für2.388 Unternehmen unterschiedlicher Unternehmensgröße, Branche und Unfallversicherungsträger-Zugehörigkeit indie Auswertung einfließen. Am häufigstenwurde der Fragebogen von Unternehmensleitungenausgefüllt (33,7 Prozent),gefolgt von Fachkräften für Arbeitssicherheit (24,1 Prozent). Weitere Ausfüllendeüber fünf Prozent waren Führungskräfte(8,9 Prozent), verantwortliche Mitarbeitendefür Arbeitsschutzfragen (8,5 Prozent)sowie Betriebsärztinnen und Betriebsärzte(7,7 Prozent).
II. Allgemeine Fragen zu Notfällen imBetrieb
Bei den vorgegebenen potenziellen Notfällenin den Unternehmen zeigten sich rechtgroße Unterschiede in der Einschätzungder Wahrscheinlichkeit beziehungsweisedes Risikos, dass Beschäftigte selbst betroffensind oder diese als Helferinnen undHelfer oder Zeuginnen und Zeugen miterleben können. Auf einer Skala von 1 (eherunwahrscheinlich) bis 4 (sicher) ergab sichanhand der Mittelwerte (M) folgendes Rankingder Notfallarten:
- Wege- und Verkehrsunfälle (M =2,49)
- medizinische Notfälle (M = 2,25)
- verbale Gewalt (M = 2,13)
- plötzliche Todesfälle (M = 2,01)
- Brände (M = 1,76)
- Arbeitsunfälle mit schwerer oder tödlicherVerletzung (M = 1,72)
- gewaltsame körperliche Übergriffe(M = 1,58)
- Suizid und Suizidversuche (M = 1,45)
- sexuelle Übergriffe/sexuelle Gewalt(M = 1,42)
- Angriffe durch Tiere (M = 1,34)
- Raubüberfälle, Geiselnahmen undAmokläufe (M = 1,25)
Für die weitere Betrachtung der Notfälleim Bereich Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz wurde als Filterfrage nach der Vorlage einer Gefährdungsbeurteilung(GBU) gefragt. Interessanterweise ist dieQuote der befragten Unternehmen, dieangeben, eine GBU vorliegen zu haben,mit 78,4 Prozent deutlich höher als in derdeutschlandweiten Verteilung, die üblicherweisemit etwas mehr als 50 Prozentangegeben wird.[6]Bei der Analyse des Dokumentationsverhaltenszeigt sich, dassNotfälle mit körperlichen Schädigungennicht zu 100 Prozent, aber deutlichhäufigerdokumentiert werden als Notfälle mitpotenziellen psychischen Gesundheitsgefährdungen.Dies nimmt mit dem Grad derBetroffenheit weiter ab, das heißt, für direktbetroffene Beschäftigte wird häufigerdokumentiert als für kollegiale Ersthelfendeund am seltensten für Augenzeuginnenund Augenzeugen. Weiterführend wurdeneben der betriebsinternen Dokumentationauch das Meldeverhalten erfasst, jedoch imHinblick auf sozial erwünschte und normorientierteAntworten nur für die psychischen Gesundheitsgefährdungen. Es zeigtsich die gleiche Abnahme nach Grad derBetroffenheit, auch wenn, im Vergleich zurbetriebsinternen Dokumentation, absolutschon weniger psychische Gesundheitsgefährdungengemeldet werden. Bemerkenswertsind die Ergebnisse zur Dokumentation beziehungsweise Meldehäufigkeit in derGegenüberstellung der Unternehmen mitund ohne GBU. Hier zeigen sich die gleichen Trends, aber mit einer deutlichen absolutenVerschiebung der Werte. Das heißt,dass das grundsätzliche Dokumentations- beziehungsweiseMeldeverhalten in Unternehmenohne GBU deutlich geringer ist.
Versorgt oder behandelt werden potenziellepsychische Gesundheitsgefährdungennach Notfällen am häufigsten von medizinischenErsthelfenden (15,9 Prozent),dicht gefolgt von den Führungskräftenbeziehungsweise der Unternehmensleitung(15,3 Prozent) sowie Betriebsärztinnenund Betriebsärzten (13,6 Prozent). Diegewünschten internen betrieblich psychologischErstbetreuenden werden nur beisieben Prozent der Antworten genannt.
III. Prävention psychischer Gesundheitsgefährdungenbei Notfällen
Für die Primärprävention zeigt sich, dass77 Prozent der Unternehmen vielfältigeMaßnahmen gemäß den Empfehlungender DGUV zur Vorbeugung von psychischen Gesundheitsgefährdungen etablierthaben. Dabei werden sowohl technischeMaßnahmen wie die Einrichtungund Kennzeichnung von Notausgängen(1.311) als auch organisatorische Maßnahmenwie die Überprüfung oder Kontrolleder Einhaltung von Sicherheitsvorschriften (906) oder die Vermeidung vonAlleinarbeit (781) genannt. Allerdings zeigtdie Stichprobe auch, dass nur 370 Unternehmenein betriebliches Konzept zur psychosozialen Betreuung von Beschäftigtenbei und nach Notfällen vorhalten und nur140 Unternehmen in die Abstimmung mit ihrem Unfallversicherungsträger gehen. Nachrangig scheinen zudem personenbezogene Maßnahmen zu sein. So unterweisennur 16,3 Prozent der Unternehmen ihreMitarbeitenden zum psychosozialen Betreuungskonzept,zum Verhalten und zur Bewältigung von Situationen mit potenziellerpsychischer Gesundheitsgefährdung.
Im Bereich der Sekundärprävention in derPhase der Akutversorgung signalisieren nurknapp 50 Prozent der Unternehmen, generellMaßnahmen vorzuhalten. Diese beziehensich auf organisatorische Maßnahmenwie die schnellstmögliche Unfallmeldungan Unfallversicherungsträger (508) undauf personenbezogene Maßnahmen wiedie Sensibilisierung der Führungskräfte(611). Zudem erfolgt der Einsatz externerpsychologischer Erstbetreuung (329) häufigerals interner (282). In den Tagen undWochen nach dem Notfall geben 52 Prozentder Unternehmen an, spezielle Maßnahmenanzubieten, wie zum Beispieldenaufmerksamen Umgang mit potenziellenpsychischen Gesundheitsschädigungen beiBetroffenen (642) und die Vermittlung indie Folgebetreuung durch den Unfallversicherungsträger(428). Mit Blick auf diepersonenbezogenen Maßnahmen zeigt sichauch hier wieder, dass Angebote der psychosozialen Beratung und Unterstützungdurch externe Personen (664) häufiger genutztwerden als interne Angebote (479).
In der Tertiärprävention, der Phase der Wiedereingliederung,erklären 61 Prozent der Unternehmen, Maßnahmen anzubieten.Diese beziehen sich organisatorisch vor allemauf das Betriebliche Eingliederungsmanagement(945) und die Zusammenarbeitvon Arbeitsmedizinern und Arbeitsmedizinerinnen/Betriebsärzten und Betriebsärztinnen(668) sowie personenbezogenauf Krankenrückkehrgespräche (805) beziehungsweiseden stetigen Kontakt zwischender Führungskraft und der Arbeitnehmerinoder dem Arbeitnehmer (688).
In der Gesamtschau schätzen die Unternehmenihre Psychosoziale Notfallversorgungim Betrieb eher gering ein. Die häufigsteNennung ist 0 (nicht vorhanden), im Durchschnitt liegt die Einschätzungbei 39,1 Prozent.
IV. Hinderliche und förderliche Aspekte
Als Schwierigkeiten bei der Umsetzungwurde zunächst bei fast der Hälfte der Befragten angegeben, dass die psychosozialeBetreuung betriebsintern noch kein Themawar. Konkret wurden vor allem fehlendeInformationen und Ressourcen genannt,dicht gefolgt von der Wichtigkeit andererThemen oder des Tagesgeschäftes. Unterstützendbei der Maßnahmenumsetzungwurde am häufigsten die Unterstützungdurch andere Institutionen/Personen (zumBeispiel externe Dienstleister) genannt,dicht gefolgt von Informationsmaterialienzu den Angeboten der Unfallversicherungsträgerzur Psychosozialen Notfallversorgung. Bei dieser Frage wurden viele freieAntworten (237) gegeben, die 19 weiterenKategorien zugeordnet werden konnten.
V. Zusammenarbeit und Leistungen desUnfallversicherungsträgers
Bei der Frage, welche weiteren MaßnahmenUnternehmen für die Psychosoziale Notfallversorgung ihrer Beschäftigtenzukünftig anbieten möchten, wurden625 Antworten gegeben, die 21 Kategorienzugeordnet werden konnten. Das warenvor allem Antworten zu Qualifizierungenund Schulungen, der Einführung eines betrieblichen Betreuungskonzeptes oder derAusbildung betrieblich psychologischerErstbetreuender. Bei der freien Frage, werdabei unterstützend sein könnte, erfolgten581 Antworten, wobei mehrheitlich eine Unterstützung der Unfallversicherungsträger gewünscht wurde. Dies ist besonders interessant vor dem Hintergrund derAntworten auf die konkrete Frage, ob dieUnternehmen bereits Informationen oder Unterstützungsangebote ihres Unfallversicherungsträgers genutzt haben, was zu66,6 Prozent verneint wurde.
Grundsätzlich zeigt sich, dass von den Unternehmen, die Informationen und Unterstützungsangebote der Unfallversicherungsträger für die Psychosoziale Notfallversorgung der Beschäftigten nutzen, 68,7 Prozent mit der generellen Unterstützung und 59,86 Prozent mit der Psychosozialen Notfallversorgung ihrer Beschäftigten zufrieden sind. Beider freien Frage, welche (weitere) Unterstützung sich die Unternehmen in Bezugauf die Psychosoziale Notfallversorgungvon ihrem Unfallversicherungsträger wünschen,wurden 563 Antworten gegeben, die16 Kategorien zugeordnet werden konnten.Am meisten wurden dabei aktive Beratungund Informationen gewünscht, mit Abstandgefolgt von konkreten Konzeptenund Handlungshilfen.
Als Anreiz für die Teilnahme an der Befragungwurden nach beiden Untersuchungsreihen insgesamt sechs Onlineweiterbildungenfür die Teilnehmenden angeboten.Ebenso wurden für den Verband für Sicherheit,Gesundheit und Umweltschutz bei derArbeit (VDSI) zwei Onlineweiterbildungenim Herbst 2023 durchgeführt und eine Detailanalyseaus Sicht der Fachkräfte für Arbeitssicherheitin der 6. Ausgabe 2023 derVDSIaktuell veröffentlicht.Eine ausführliche Publikation zu der dargestellten Onlinebefragungwird gerade erstellt.

Abbildung 3: Gegenüberstellung Dokumentations- und Meldeverhalten in Unternehmen mit Gefährdungsbeurteilung Eigene Darstellung Forschungsgruppe PSNV-U

Abbildung 4: Gegenüberstellung Dokumentations- und Meldeverhalten in Unternehmen ohne Gefährdungsbeurteilung Eigene Darstellung Forschungsgruppe PSNV-U
Ergebnisse des Teilprojekts 2 – Unfallversicherungsträger
Im Teilprojekt 2 „Unfallversicherungsträger“wurden Dokumente aller Unfallversicherungsträger sowie umfangreicheInterviewdaten von 21 der 31 Unfallversicherungsträger,die durch Zusammenschlüsseaus ursprünglich 34 entstandensind, analysiert. Geführt wurden die Interviewsmit Personen aus den Fachabteilungender Prävention und Rehabilitation derjeweiligen Unfallversicherungsträger. DieInhalte der Interviews waren:
I. Informationen über die Indikationenund Notfälle
II. Prävention von Notfallsituationenund schweren Unfällen
III. Akuthilfe und Sekundärprävention
IV. Rehabilitation, Nachsorge und beruflicheWiedereingliederung
V. Kostenübernahme und Zusammenarbeitder Präventionsgebiete
Ziel war es, ein tiefgehendes Verständnisdes bestehenden Systems der PsychosozialenNotfallversorgung zu erlangen. Eskonnten wichtige Erkenntnisse aus denAussagen der Unfallversicherungsträgergewonnen werden, die sowohl bestehendepositive Aspekte als auch konkrete Empfehlungen der Unfallversicherungsträgerzur Optimierung der eigenen Angebote umfassen.Die Ergebnisse werden nachfolgendim Überblick dargestellt. Eine ausführliche Publikation ist im Entstehen.
Ergebnisse der Dokumentensammlung
Bei der Erstellung der Dokumentensammlungfiel eine Variabilität zwischen den Unfallversicherungsträgern in Bezug aufInformationen zur Psychosozialen Notfallversorgungauf. Positiv zu verzeichnen ist,dass alle Unfallversicherungsträger spezifischeDokumente zum Thema PsychosozialeNotfallversorgung in Unternehmenanbieten. Insgesamt wurden 118 verschiedeneDokumente identifiziert. Bei einigen Unfallversicherungsträgern führten dievon der Forschungsgruppe festgelegten Schlagworte nicht immer zum Auffindender Dokumente. In diesen Fällen blieb nurdie Möglichkeit, sämtliche Dokumente manuellzu durchsuchen oder über eine Google-Suche auf der jeweiligen Website nachDokumenten zu diesem Thema zu suchen –eine Übersicht aller identifizierten Dokumentewurde an die DGUV übergeben.
Ergebnisse der Interviews
Die in diesem Abschnitt dargestellten Ansichtenund Empfehlungen spiegeln die Meinung der Unfallversicherungsträgerwider.
Nachfolgend werden die Ergebnisse der Interviewsdargestellt, mit welchen aktuellen Maßnahmen die UnfallversicherungsträgerBetriebe bei der psychosozialen Betreuungnach Notfällen unterstützen und zukünftigunterstützen möchten.
Aktuelle Maßnahmen derUnfallversicherungsträger
Die Ergebnisse der Interviews zeigen, dassdie Unfallversicherungsträger eine großeBandbreite an Hilfestellungen und Unterstützungenim Bereich der PsychosozialenNotfallversorgung anbieten. Besondershervorzuheben sind die Möglichkeitender Akuthilfe, die von Telefonhotlines(38,1 Prozent) über Unterstützung vor Ort(28,6 Prozent), auch durch die ehrenamtlicheNotfallseelsorge (28,6 Prozent) bis hinzu detaillierten Informationsbroschüren(19,1 Prozent) reichen. Ein weiterer genannterAspekt ist die individuelle Herangehensweisein der Rehabilitation undWiedereingliederung, die eine ganzheitliche und zeitnahe Betreuung (28,6 Prozent)von Betroffenen ermöglicht. Darüberhinaus werden viele verschiedene weiterePräventionsangebote genannt, die ein Verständnisder unterschiedlichen Bedürfnisseder Mitgliedsunternehmen widerspiegeln.Die Präventionsmaßnahmen, die den Mitgliedsunternehmen empfohlen werden,reichen teilweise auch über die Empfehlungenaus den Broschüren der DGUV zumThema Psychosoziale Notfallversorgunghinaus (vgl. Abbildung 1).
Zukünftige Ideen und MaßnahmenderUnfallversicherungsträger
DieUnfallversicherungsträger nanntenverschiedene Ansätze, wie sie zukünftigihre Angebote für die Psychosoziale Notfallversorgungin ihren Mitgliedsunternehmenverbessern möchten. Initiativenzur Optimierung der Informationsstruktur(19,1 Prozent), insbesondere durch die Integration branchenspezifischer Informationen,sind laut ihnen ein wichtigerSchritt zur Steigerung der Effizienz undEffektivitätder Informationsvermittlung.
Die Entwicklung einheitlicher Ausbildungsmodellefür die Qualifizierung betrieblicher psychologischer Erstbetreuerund Erstbetreuerinnen sehen 19,1 Prozent der Unfallversicherungsträger alsnotwendig an. Sie verweisen dabei insbesondereauf verschiedene Ausbildungsmodelle[zum Beispiel betrieblich psychologische Erstbetreuer und Erstbetreuerinnen(bpE), Critical Incident Stressmanagement(CISM), Stressbearbeitung nach belastendenEreignissen (SbE)], die derzeit von ihnenunterstützt werden.
Bei der Ausbildung von betrieblich psychologischenErstbetreuern und Erstbetreuerinnen wurden unterschiedliche Ansichtenzur Kombination mit anderen Rollenim Unternehmen genannt (14,2 Prozent).
Unter anderem wurde vorgeschlagen, Führungskräfteauszubilden (9,5 Prozent), dadiese ohnehin eine verantwortliche Rolleim Unternehmen haben. Andere nanntenden Hinweis, die Ausbildung der betrieblichenErsthelfer und Ersthelferinnen umdie betrieblich psychologische Erstbetreuungzu erweitern (4,8 Prozent).Die Unfallversicherungsträger sehen zukünftigdie verstärkte Kooperation zwischenihnen und verschiedenen Akteurenund Akteurinnen in den Mitgliedsunternehmen(19,1 Prozent) als wesentlich füreine umfassende sowie koordinierte Herangehensweisean die Psychosoziale Notfallversorgung in Unternehmen an. DieIntegration externer Ressourcen durchbeispielsweise Anbieter mit fachlicherKompetenz (23,8 Prozent) erweitert nachAnsicht der Unfallversicherungsträger dasSpektrum der Präventionsmaßnahmen undbringt neue Perspektiven in die PsychosozialeNotfallversorgung der Mitgliedsunternehmenein.
Die Unfallversicherungsträger nanntenin den Interviews Optimierungspotenzialin verschiedenen Bereichen der PsychosozialenNotfallversorgung. Insbesondere wird ein verstärkter Bedarf an Sensibilisierungund Schulung in PSNV-Themenkonstatiert (28,6 Prozent). Dies bezieht sichinsbesondere auf die Akteure und Akteurinnenin den Mitgliedsunternehmen, aberauch innerhalb einzelner Unfallversicherungsträger.Hier wird auch noch einmal grundsätzlich die Bemühung zur Verbesserungder Zusammenarbeit zwischen denAbteilungen Prävention und Rehabilitation/Leistung innerhalb der Unfallversicherungsträger genannt (57,1 Prozent). DieZusammenarbeit wird laut den Unfallversicherungsträgernschon bei einigen Projektengestärkt.
Ein weiterer Bereich, in dem die UnfallversicherungsträgerVerbesserungsmöglichkeiten sehen, ist die Berücksichtigungder spezifischen Bedürfnisse kleinerer Unternehmen(9,5 Prozent). Obwohl bereitsAnsätze für eine flexible und bedürfnisorientierteHerangehensweise vorhandensind, nennen die Unfallversicherungsträgerdie Umsetzung der PSNV-Maßnahmenfür kleine Unternehmen als eine besondereHerausforderung. Dies liegt zuletzt auch daran, dass in kleineren Unternehmenhäufiger Ressourcenmangel (42,9 Prozent),sowohl monetär als auchpersonell, von den Unfallversicherungsträgern als Hindernisgrund für eine gute Präventiongesehen wird. Diesem Hindernis wollendie Unfallversicherungsträger mit dem Ansatzder Individualprävention begegnen(9,5 Prozent).
Abschließend unterstreichen die Unfallversicherungsträgerdie Notwendigkeitvon kontinuierlichem Informationsbedarf,Schulungen, Sensibilisierung undverstärktem Austausch zwischen den Akteurenund Akteurinnen, um das Bewusstseinfür die Psychosoziale Notfallversorgungzu steigern (80,1 Prozent). Eine Visionfür die Zukunft wird durch die Worte einesUnfallversicherungsträgers verdeutlicht:„Wir haben in den letzten Jahren bereitsviel erreicht und uns stetig verbessert.Wenn wir diesen Weg weiterverfolgen und unsere Anstrengungen fortsetzen, bin ich zuversichtlich, dass wir unser Ziel erreichenkönnen. Wir arbeiten hart daran, die psychosoziale Versorgung zu verbessernund die Prävention in den Unternehmenzu fördern. Dies ist ein gutes System, dasnoch vielen Menschen zugutekommenkann. Es erfordert jedoch weiterhin Aufklärungund Zusammenarbeit, um sicherzustellen,dass psychische Gesundheit undNotfallversorgung in Betrieben angemessenberücksichtigt werden. Wir sind aufeinem guten Weg, aber es liegt noch vielArbeit vor uns.“ (Aus: Interview mit einem Unfallversicherungsträger).
Aktuelle Ergebnisse des Teilprojekts 3 – PSNV-B-Teams
Im Teilprojekt 3 wurde zunächst versucht,über die Landeskoordinatorinnen und Landeskoordinatorendie Einsatzstatistikender ehrenamtlichen PSNV-B-Teams zu Einsätzenmit einer betrieblichen Indikationzu untersuchen. Dabei traten verschiedeneProbleme auf. Das erste Problem war, dassdie Kommunikation mit den Landeskoordinatorinnenund Landeskoordinatorenteilweise mühsam und wenig ergiebig war,da viele keine Statistiken zuarbeiten konntenoder die Kommunikation nicht hergestelltwerden konnte. Das zweite Problemwar die Sensibilisierung für das Thema,dass PSNV-B-Kräfte in Unternehmen für die psychosoziale Betreuung von Beschäftigtennach Notfällen eingesetzt werden.
Das Ziel war es, die PSNV-B-Einsätze in allgemeineEinsätze (beispielsweise im häuslichen Umfeld) und Einsätze mit einer betrieblichenIndikation zu unterteilen. Da inden Einsatzprotokollen nicht explizit nacheiner betrieblichen Indikation gefragt wurdeund auch aus anderen Angaben nichtzweifelsfrei festgestellt werden konnte, wardie Berechnung einer Einsatzquote nichtmöglich.
Erste Ergebnisse zur Einsatzquote ergabensich durch die Möglichkeit, einen Datensatzder Ludwig-Maximilians-Universität(LMU München) – erhoben von SebastianHoppe im Rahmen seiner Dissertation –sekundär zu analysieren. Auch wenn eineUnterscheidung zwischen PSNV-B allgemeinoder mit betrieblicher Indikation imDatensatz nicht explizit vorgesehen war,konnte diese über mehrere Variablen, sinnvolleKombinationen und Fallanalysen mitRücküberprüfung durch den StudienleiterSebastian Hoppe realisiert werden.
In diesem Datensatz waren 203 Fälle/Betroffene,wovon 173PSNV-B allgemein und0 PSNV-B mit betrieblicher Indikation waren.Mit diesen Daten konnte eine Einsatzquotevon 15 Prozent ermittelt werden. Umim Rahmen der Bestandsaufnahme einemethodisch abgesicherte Aussage zur Einsatzquotevon PSNV-B-Teams im betrieblichenKontext geben zu können, wurde ein Item entwickelt, das fortführend in derzweiten Projekthälfte im Rahmen der Intensivbefragung eingesetzt wird.
Da bei der Eruierung der Einsätze mit betrieblicherIndikation festgestellt wurde,dass das Thema bei den Mitarbeiterinnenund Mitarbeitern in Notfallseelsorge undKriseninterventionsteams (ehrenamtlichePSNV-B-Teams) wenig bekannt ist, wurdezunächst ein Informationsflyer zur PsychosozialenNotfallversorgung in Unternehmenerstellt. Inhaltlich werden darin folgende Aspekte angesprochen:
- Definition und Beispiele für Notfälleim Arbeitskontext
- Folgen, Handhabung und möglicheBetroffene von Notfällen im Arbeitskontext
- Zuständigkeit am Einsatzort
- Rolle der Unfallversicherungsträger
- To-do-Liste bei Notfällen im Arbeitskontext
Der Flyer wurde auf dem Symposium„Qualitätssicherung in der PSNV 2022“des Referats I.3 – Psychosoziales Krisenmanagement(PsychKM) Abteilung I – KrisenmanagementBundesamt für Bevölkerungsschutzund Katastrophenhilfe (BBK)im November 2022 vorgestellt und bisherlandesweit an alle PSNV-B-Teams sowie Landeskoordinatorinnen und Landeskoordinatorenals PDF per E-Mail oder inPapierform verteilt. Das erhaltene Feedbackzum Flyer war bisher ausschließlichpositiv.
Zusätzlich wurde eine einstündige Onlineweiterbildungkonzeptioniert, an der alleMitglieder von Notfallseelsorge und Kriseninterventionsteams teilnehmen konnten. Diese wurde inklusive eines Testdurchlaufsin einem PSNV-B-Team im zweiten Quartal2023 viermal durchgeführt. Das Thema istbei den PSNV-B-Einsatzkräften positiv aufgenommenworden und die Veranstaltungenwaren stark nachgefragt.
Fazit
In der ersten Projekthälfte konnte ein tiefergehendesVerständnis der Psychosozialen Notfallversorgung von Beschäftigten inDeutschland erreicht werden. Im Teilprojekt1 wurden aus Sicht der Unternehmenneben der Beschreibung aktueller SystemeHindernisse und förderliche Faktoren herausgearbeitet,an denen die Präventionzukünftig ansetzen kann. Im Teilprojekt 2beschrieben die Unfallversicherungsträger aktuelle und zukünftige Maßnahmen, umBetriebe bei der psychosozialen Betreuungnach Notfällen zu unterstützen. Dabei stelltensie neben vielen positiven Aspektenauch ihren eigenen Optimierungsbedarf dar. Für die ehrenamtlichen PSNV-B-Teamszeigte sich im Teilprojekt 3 ein hohes Interesseder Teams für das Thema und einweiterführender Bedarf an Weiterbildungen und Unterstützungsmaterialien. Die Forschungsarbeiten werden mit weitereninhaltlichen Schwerpunkten und Vertiefungenin der zweiten Projekthälfte fortgesetzt.
Das Forschungsprojekt zur Bestandsaufnahme der Umsetzung der Psychosozialen Notfallversorgung in Unternehmen in Deutschland wirdvom 1. Januar 2022 bis zum 31. März 2025 unter der Leitung von Prof. Dr. Sabine Rehmer von der SRH Hochschule für Gesundheit, unterstütztdurch die Forschungsförderung der DGUV, durchgeführt.
Weiterführende Informationen:
Beitrag zum Forschungsprojekt zur Psychosozialen Notfallversorgung in Unternehmen in DGUV Forum 7-8/2022:
https://forum.dguv.de/ausgabe/7-2022/artikel/forschungsprojekt-zur-psychosozialen-notfallversorgung-in-unternehmen
Der Informationsflyer und die Folien der Onlineweiterbildung auf der Projektseite der SRH unter Publikationen:
https://www.srh-gesundheitshochschule.de/forschung/psychosoziale-notfallversorgung-in-unternehmen-eine-bestandsaufnahme-zur-umsetzung-in-deutschland/unsere-publikationen/
Projektwebseite: https://www.srh-gesundheitshochschule.de/forschung/psychosoziale-notfallversorgung-in-unternehmen-eine-bestandsaufnahme-zur-umsetzung-in-deutschland/
Fußnoten
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Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e. V.: DGUV Grundsatz 306-001 „Traumatische Ereignisse – Prävention und Rehabilitation“, Bonn 2017b.
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Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e. V.: DGUV Information 206-017 „Gut vorbereitet für den Ernstfall! Mit traumatischen Ereignissen im Betrieb umgehen“, Bonn 2015a.
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Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e. V.: DGUV Information 206-018 „Trauma – Psyche – Job. Ein Leitfaden für Aufsichtspersonen“, Bonn 2015b.
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Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e. V.: DGUV Information 206-023 „Standards in der betrieblichen psychologischen Erstbetreuung (bpE) bei traumatischen Ereignissen“, Bonn 2017a.
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Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e. V.: DGUV Grundsatz 306-001 „Traumatische Ereignisse – Prävention und Rehabilitation“, Bonn 2017b.
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BAuA (2023): Arbeitswelt im Wandel. Zahlen – Daten – Fakten, Ausgabe 2023.