Forschungsprojekt zur psychosozialen Notfallversorgung in Unternehmen

Ein Forschungsprojekt der SRH Hochschule für Gesundheit untersucht im Zeitraum 2022 bis 2025, wie betroffene Beschäftigte bei Notfällen in Unternehmen psychosozial betreut werden. Das von der DGUV geförderte Forschungsprojekt nimmt eine Erfassung und Beschreibung der empirisch vorgefundenen betrieblichen Umsetzungen vor.

Die Ausgangslage

Nach Schäfer et al. (2019) beläuft sich die Gesamtheit aller traumaassoziierten Gesundheitskosten in einer Größenordnung jährlich zwischen 524,5 Millionen Euro und 3,3 Milliarden Euro. Diese Kosten werden unter anderem durch psychische Gesundheitsgefährdungen bei Notfällen ausgelöst. Notfälle sind unerwartete, plötzliche schwere Ereignisse oder plötzliche Extremsituationen. Sie sind von kurzer Dauer, haben einen klaren Beginn und ein klares Ende. Oft gehen sie mit einem Erleben von Angst, Bedrohung, Hilflosigkeit, Entsetzen oder auch Schuld einher.[1][2][3]

Im Arbeitskontext können viele verschiedene Notfälle auftreten, die potenziell eine psychische Gesundheitsgefährdung verursachen. Beispiele für Notfälle im Arbeitskontext sind:[4][5][6]

  • Arbeitsunfälle mit schwerer oder tödlicher Verletzung
  • Verkehrsunfälle auf dem Weg zur oder von der Arbeit
  • Schwere, akute Bedrohung der Gesundheit (zum Beispiel Herzstillstand, Blutung, Vergiftung)
  • Miterleben medizinischer Notfälle (zum Beispiel als Ersthelfende, Augenzeuginnen und Augenzeugen)
  • Gewalttaten (zum Beispiel Raubüberfälle, Drohungen, sexuelle Gewalt)
  • Suizide oder Suizidversuche
  • Übergriffe auf Sachwerte
  • Brände sowie
  • Naturkatastrophen und -ereignisse (zum Beispiel Hochwasser, Sturm, Blitzschlag)

Schon eine vorangegangene Sonderuntersuchung zum Unfallgeschehen bei Erwachsenen in Deutschland für die Gesundheitsberichterstattung des Bundes zeigt, dass rund 30 Prozent aller Unfälle in Deutschland während der Arbeit oder auf dem Weg von und zur Arbeit stattfinden.[7] Die Relevanz wird noch deutlicher, wenn man aktuelle Zahlen betrachtet, wonach sich 2019 in Deutschland 806 tödliche und mehr als eine Million nicht tödliche Arbeits- und Wegeunfälle in Betrieben der gewerblichen Wirtschaft und der öffentlichen Hand ereignet haben.[8] Die Dunkelziffer wird hierbei jedoch hoch eingeschätzt, denn häufig werden Geschehnisse nicht gemeldet, wenn keine Arbeitsunfähigkeit besteht und kein körperlicher Schaden ersichtlich ist, wenn beispielsweise Gewalttaten bagatellisiert werden oder keine Meldung weiterer Betroffener wie Zeuginnen und Zeugen oder Ersthelfender erfolgt, die ebenfalls am Geschehen beteiligt waren.[9]

Unternehmen sind nach dem Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) dazu verpflichtet, für die Sicherheit und Gesundheit ihrer Mitarbeitenden Fürsorge zu tragen. Notfälle im Arbeitskontext können zu einem psychischen Ausnahmezustand führen, der das gesamte Erleben und Verhalten der primär Betroffenen und teilweise auch der sekundär betroffenen Kolleginnen, Kollegen und Vorgesetzten betrifft.[10] Sie beinhalten eine Konfrontation mit tatsächlichem oder drohendem Tod, ernsthaften Gesundheitsschäden oder sonstigen Gefahren für die Unversehrtheit der eigenen Gesundheit oder anderer Personen.[11] Wenn Menschen eine außergewöhnliche, nicht alltägliche Belastungssituation erleben, die ihre psychischen Bewältigungsmöglichkeiten übersteigt, und Betroffene dabei Angst, Hilflosigkeit und Kontrollverlust erleben, kann es zu einem Psychotrauma kommen.[12] Daher können betroffene Beschäftigte über die akute starke Beanspruchung hinaus auch noch lange nach einem Notfall auf die Leistungen der Unfallversicherungsträger (UV-Träger) angewiesen sein (beispielsweise Therapiebedarf, Rentenansprüche). Die Unfallversicherungsträger unterstützen Unternehmen dabei, eine psychosoziale Notfallversorgung aufzubauen, um psychischen Gesundheitsgefährdungen der Beschäftigten bei Notfällen zu begegnen.

Psychische Gesundheitsgefährdungen bei Notfällen sind wie Arbeitsunfälle zu behandeln.

DGUV-Modell der psychosozialen Notfallversorgung in Unternehmen

Um die psychische Stabilität der Betroffenen zu fördern, wird von der DGUV die Implementierung einer psychosozialen Notfallversorgung in Unternehmen empfohlen.[13] Allen Betroffenen sollte das Angebot einer psychosozialen Unterstützung offenstehen und im Bedarfsfall soll durch eine frühzeitige psychologische Unterstützung der Betroffenen die akute Stressreaktion vermindert und die individuellen Bewältigungs- und Verarbeitungsstrategien gestärkt werden. Zudem soll – wenn erforderlich – eine Weitervermittlung in eine psychiatrische oder psychotherapeutische (Nach-)Versorgung erfolgen.[14] Die Ziele, Maßnahmen, Verantwortlichen und möglichen Akteurinnen und Akteure für die Phasen der Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention, mit denen eine psychosoziale Notfallversorgung (PSNV) in Unternehmen erreicht werden soll, sind im nachfolgenden Modell zusammengefasst.

Abbildung 1: DGUV-Modell für die Vermeidung von psychischen Gesundheitsschäden und deren Folgen nach traumatischen Ereignissen. | © Quelle: DGUV
Abbildung 1: DGUV-Modell für die Vermeidung von psychischen Gesundheitsschäden und deren Folgen nach traumatischen Ereignissen. ©Quelle: DGUV

Aktuelle Veröffentlichungen der DGUV zeigen, dass die Betreuung von Betroffenen im Psychotherapeutenverfahren (Tertiärprävention) im ambulanten Versorgungssystem und im Reha-Management fest verankert und gemäß der DGUV[15] ein nachhaltiger Erfolg ist. „Im Jahr 2019 wurden mehr als 10.000 Versicherte abschließend behandelt, im folgenden Pandemie-Jahr rund 8.800.“[16] Es wird jedoch auch von Dr. Edlyn Höller, stellvertretende Hauptgeschäftsführerin der DGUV, angemerkt, dass eine sehr hohe Dunkelziffer vermutet wird.[17]

Auch für die initiale Auseinandersetzung mit einer potenziellen psychischen Gesundheitsgefährdung bei Notfällen zeigt sich schon länger, dass der Implementierung einer PSNV in Unternehmen mit großen Vorbehalten begegnet[18] und auch bei einem aus der Gefährdungsbeurteilung abgeleiteten Handlungsbedarf häufig nicht die Notwendigkeit gesehen wird, eine betriebsinterne PSNV zu implementieren und entsprechende Angebote externer Dienstleister zu nutzen.

So kommt es dazu, dass einige Unternehmen präventive Angebote für die psychosoziale Notfallversorgung vorhalten, wie zum Beispiel ein internes psychosoziales Notfallmanagement mit betrieblich-psychologischen Erstbetreuenden. In anderen Unternehmen sind Beschäftigte bei betrieblichen Notfällen jedoch unversorgt. Außerdem kommt es vor, dass regionale ehrenamtliche PSNV-B-Teams (psychosoziale Notfallversorgung für Betroffene in der Bevölkerung) für die Akutbetreuung der Beschäftigten herangezogen werden. Nach einem Notfall nutzen einige Beschäftigte, die eine psychische oder soziale Beeinträchtigung erleben, Unterstützungsangebote von Unfallversicherungsträgern oder externen Dienstleistern, während andere Beschäftigte verfügbare Unterstützungsangebote nicht kennen oder keine verfügbar sind (siehe auch vorherige Ausführung zum Psychotherapeutenverfahren im Rahmen der Tertiärprävention).

Zu der Frage, wie genau Beschäftigte in Unternehmen in Deutschland nach Notfällen psychosozial betreut werden, gibt es aktuell keine belastbaren Daten. Denkbar ist, dass in Abhängigkeit von der Betriebsgröße und Branche unterschiedliche Vorgehensweisen vorzufinden sind. Nähere Informationen zum aktuellen Forschungsstand sind beispielsweise Rehmer[19] zu entnehmen.

Das Forschungsprojekt

Die Forschungsgruppe PSNV-U (psychosoziale Notfallversorgung in Unternehmen) der SRH Hochschule für Gesundheit führt die Bestandsaufnahme zur psychosozialen Notfallversorgung in Unternehmen in Deutschland im Rahmen eines Forschungsprojektes vom 2022 bis 2025 durch, unterstützt durch die Forschungsförderung der DGUV.

Im Forschungsprojekt erfolgt eine Erfassung und Beschreibung der empirisch vorgefundenen betrieblichen Umsetzungen. Zudem sollen betriebliche Faktoren und Maßnahmen, die eine psychosoziale Betreuung nach Notfällen im Arbeitskontext positiv oder negativ beeinflussen, eruiert werden.

Die Bestandsaufnahme erfolgt in vier Teilprojekten – aus Sicht von Betrieben, von Unfallversicherungsträgern, von ehrenamtlichen PSNV-B-Teams und von externen Anbietern. Die Ergebnisse werden final zusammengeführt.

Geplant ist die Bestandsaufnahme als Querschnittsuntersuchung unterschiedlicher beteiligter Zielgruppen mit verschiedenen Befragungen (jeweils Screening und Intensivbefragung).

  1. Zielgruppe der Unternehmen: Untersuchung repräsentativer Teilstichproben in Abhängigkeit der Branche und Betriebsgröße
  2. Zielgruppe der Unfallversicherungsträger: institutionelle Vollerhebung sowohl für das Screening als auch für die Intensivbefragung
  3. Zielgruppe der ehrenamtlichen PSNV-B-Teams: für das Screening – Vollerhebung der Einsatzstatistiken aller PSNV-B-Teams für die Jahre ab 2015; für die Intensivbefragung – Detailanalysen von Einsätzen mit betrieblicher Indikation in ausgewählten PSNV-Teams (eins pro Bundesland)
  4. Zielgruppe der externen Anbietenden: Analyse der Angebote freier und überbetrieblicher Anbietenden, die bereits mit Betrieben oder Unfallversicherungsträgern zusammenarbeiten
Abbildung 2: Projektaufbau und Organigramm | © Eigene Darstellung Forschungsgruppe PSNV-U
Abbildung 2: Projektaufbau und Organigramm ©Eigene Darstellung Forschungsgruppe PSNV-U

Betroffene Beschäftigte sind dabei nicht nur die Geschädigten selbst, sondern auch Kolleginnen und Kollegen, die als Ersthelfende, Augenzeuginnen oder Augenzeugen an dem Notfall beteiligt sind.

Teilprojekt 1: Unternehmen

Zentraler Baustein des Projektes sind die avisierten Ergebnisse der Unternehmensbefragung zur Versorgungslage der Beschäftigten im Falle potenzieller psychischer Gesundheitsgefährdungen bei Notfällen im Arbeitskontext. Die repräsentative Befragung der Unternehmen mit Unterscheidung nach Betriebsgröße und Branche (Zugehörigkeit Unfallversicherungsträger) erfolgt im Screening als Onlinebefragung. In einer weiteren Stufe ist eine Intensivbefragung ausgewählter Betriebe geplant. Dabei soll eruiert werden, welche betrieblichen Vorgehensweisen der psychosozialen Notfallbetreuung in Unternehmen umgesetzt werden.

Forschungsfragen:

  • Wie werden Beschäftigte in Betrieben in Deutschland nach plötzlich auftretenden Extremsituationen psychosozial betreut?
  • Welche internen und externen betrieblichen Faktoren und Maßnahmen beeinflussen eine psychosoziale Betreuung nach plötzlich auftretenden Extremsituationen im Arbeitskontext positiv oder negativ?

Für das repräsentative Screening erfolgt die Stichprobenziehung aus einem Datensatz von drei Millionen Unternehmensadressen aller Branchen und Größen. Für unsere gewünschte Stichprobe von etwa 4.000 Betrieben und mit einer angenommenen Rücklaufquote von einem Prozent werden 400.000 Unternehmen via E-Mail angeschrieben. Die für das Screening ausgewählte Befragungssoftware Limesurvey stellt alle Anforderungen an eine anonymisierte Datenverarbeitung und den allgemeinen Datenschutz sicher. Aktuell wird der Fragebogen anhand wissenschaftlicher Literatur final entwickelt, sodass die Erhebung nach der Sommerpause 2022 starten kann. Der geplante Zeitpunkt für den Start der Intensivbefragung ist Ende 2023.

Teilprojekt 2: Unfallversicherungsträger

Die DGUV stellte 2017 ein Modell für die Vermeidung von psychischen Gesundheitsschäden und deren Folgen nach plötzlich auftretenden Extremsituationen im Arbeitskontext vor, in dem Ziele, Maßnahmen, Verantwortliche und mögliche Akteurinnen und Akteure für die Phasen der Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention abgebildet sind. Auf dessen Grundlage erstellten Unfallversicherungsträger für ihre Mitgliedsunternehmen verschiedene Angebote, die in einer Dokumentenanalyse themen- und branchenspezifischer Broschüren aufgearbeitet und in Interviews mit den Unfallversicherungsträgern vertieft werden.

Forschungsfragen:

  • Welche Hilfestellungen und Unterstützungen bieten Unfallversicherungsträger im Bereich PSNV für ihre Mitgliedsbetriebe an?
  • Welche Ideen haben die Unfallversicherungsträger für die Zukunft, um Betriebe bei der psychosozialen Betreuung nach Notfällen zu unterstützen?

Alle Maßnahmen, die die Unfallversicherungsträger zur Unterstützung der Unternehmen nach Extremereignissen aktuell anbieten, sollen abgebildet werden. Dabei soll auch herausgearbeitet werden, welche Faktoren in den Unternehmen aus Sicht der Unfallversicherungsträger bestimmte Präventionsmaßnahmen erleichtern oder hemmen. Schließlich sollen, wenn möglich in Bezug auf Branche und Unternehmensgröße, erfolgreiche Maßnahmen und Modelle zur Prävention und psychosozialen Versorgung nach Notfällen im betrieblichen Kontext abgeleitet werden.

Teilprojekt 3: PSNV-B-Teams

In Deutschland gibt es aktuell mehr als 300 ehrenamtliche Dienste der psychosozialen Akuthilfe für Betroffene. Diese sind für die Erstversorgung der Bevölkerung bei Notfällen ausgebildet. Erste Studien zeigen, dass bei Notfällen im Unternehmenskontext mitunter auf diese regionalen ehrenamtlichen Strukturen zurückgegriffen wird. Diese kommen sowohl für die Erstbetreuung als auch für eine psychologische Nachbetreuung im Sinne der Sekundärbetreuung zum Einsatz. Für eine genaue Bestandsaufnahme, wie häufig ehrenamtliche PSNV-B-Teams zu betrieblichen Einsätzen gerufen werden, ist eine Analyse der Einsätze aller ehrenamtlichen PSNV-B-Teams seit 2015 geplant. Zudem werden in teilstandardisierten Interviews die Landesbeauftragten und ausgewählte PSNV-Teams in einer Intensivbefragung zu ihren Einsätzen befragt werden.

Forschungsfragen:

  • Wie häufig haben die Einsätze ehrenamtlicher PSNV-B-Teams einen betrieblichen Anlass?
  • Wie erleben PSNV-B-Einsatzkräfte die Einsätze im betrieblichen Bereich?
  • Wie könnten Betriebe bei der psychosozialen Betreuung nach Notfällen unterstützt werden?

Teilprojekt 4: Externe Anbietende

Externe Anbietende erfüllen im Auftrag von Unternehmen Dienstleistungen wie Angebote der Primärprävention, für die Akutbetreuung und die anschließende psychologische (Nach-)Versorgung im Sinne der Sekundär- und Tertiärprävention.
Welche Angebote durch Unternehmen nachgefragt werden und wie die qualitative Ausgestaltung und die Qualitätssicherung umgesetzt werden, soll sukzessive in einer Dokumentenanalyse und in Interviews erhoben werden. Das Teilprojekt 4 startet Ende 2023 und geht folgenden Forschungsfragen nach:

Forschungsfragen:

  • Wie unterstützen externe Anbietende Betriebe in Deutschland bei der psychosozialen Betreuung der Beschäftigten nach plötzlich auftretenden Extremsituationen?
  • Welche internen und externen Faktoren hemmen oder fördern die Unterstützung der Betriebe durch externe Anbietende bei der psychosozialen Betreuung der Beschäftigten nach plötzlich auftretenden Extremsituationen?

Das Forschungsprojekt wird vom 1. Januar 2022 bis 31. März 2025 unter der Leitung von Prof. Dr. Sabine Rehmer von der Forschungsgruppe PSNV-U der SRH Hochschule für Gesundheit durchgeführt. Gefördert wird das Forschungsprojekt durch die Forschungsförderung DGUV.

Weiterführende Informationen sind auf der Projektwebsite dargestellt (LINK).

Bei Fragen zum Projekt wenden Sie sich gern an die Autorinnen und den Autor des Beitrags.