Arbeitsverdichtung – wissenschaftliche Erschließung eines (un)bekannten Konstrukts
Arbeitsverdichtung wird oft im Zusammenhang mit der zunehmenden Digitalisierung und Flexibilisierung genannt und mit negativen Folgen für die Gesundheit und Leistung assoziiert. Mit dem Prozessmodell zur Arbeitsverdichtung wurde dieses Thema für Forschung und Praxis erschlossen und Instrumente zur Erfassung der Arbeitsdichte entwickelt.
Arbeitsverdichtung – wissenschaftliche Erschließung eines (un)bekannten Konstrukts
Mit der voranschreitenden Digitalisierung und Vernetzung erfährt die Arbeitswelt einen grundlegenden Wandel. Die Zusammenarbeit innerhalb und zwischen Unternehmen erfolgt zunehmend virtuell. Information und Kommunikation sind nicht mehr an einen Arbeitsplatz gebunden, sondern werden mit Notebooks und Smartphones zu einem „ständigen Begleiter“. Infolge der Pandemie etablierte sich das Homeoffice als weiterer Arbeitsort, sodass sich die räumliche und zeitliche Trennung zwischen Arbeitsleben und Berufsleben weiter auflöst.
Dieser Wandel der Arbeitswelt geht einerseits mit positiven Entwicklungen einher. Den Beschäftigten wird der Zugang zu einer Vielzahl von Informationen erleichtert und die Zusammenarbeit wird flexibler und mobiler. Arbeitswege entfallen und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist scheinbar einfacher geworden. Andererseits bergen diese Entwicklungen eine Gefahr für das Wohlbefinden und die Leistungsfähigkeit von Beschäftigten. Insbesondere sind sie mit einem höheren und beschleunigten Aufkommen von Informationen sowie Aufgaben und einer Entgrenzung zwischen Arbeitsleben und Privatleben konfrontiert, was deren psychische Gesundheit gefährden kann.
Die Anforderungen der neuen Arbeitswelt werden oft mit dem Begriff der „Arbeitsverdichtung“ in Verbindung gebracht. Dieser Begriff bringt zum Ausdruck, dass Beschäftigte in zunehmenden Maßen mit einer hohen Arbeitsmenge und Zeitdruck konfrontiert sind. Allerdings wird der Begriff der Arbeitsverdichtung bisher nicht einheitlich verwendet und es ist nicht klar, ob es sich dabei um eine Ursache oder Folge von Belastungen für Beschäftigte handelt[1], was sich nach einer Sichtung bestehender Fragebögen herausstellte. Beispielsweise wurde Arbeitsverdichtung mit verschiedenen Ursachen assoziiert (zum Beispiel „Due to digital technologies at the workplace, I have more work than before“[2]) oder mit negativen Konsequenzen für die Gesundheit (zum Beispiel „The time intensity of my work has become more stressful“,[3]).
Zur Erforschung des Phänomens der Arbeitsverdichtung war deswegen eine grundlegende konzeptuelle Klärung notwendig, die im Rahmen des Projekts „Zusammenstellung von Verfahren zur Ermittlung von neuen Formen der Arbeitsverdichtung und ihren Folgen sowie von Maßnahmen zur Prävention (AVENUE)“ vorgenommen wurde. Dies umfasste zunächst die Ausformulierung eines Forschungsmodells zur Arbeitsverdichtung, das eine klare Trennung zwischen Ursachen, Formen und Konsequenzen von Arbeitsverdichtung vornimmt. Anschließend wurde eine Differenzierung unterschiedlicher Facetten von Arbeitsverdichtung vorgenommen, die mit der Entwicklung eines Fragebogens zur Erfassung von Arbeitsdichte einherging.
Prozessmodell zur Arbeitsverdichtung
Die wissenschaftliche Erschließung und Präzisierung des Begriffs der Arbeitsverdichtung wurde mit dem Prozessmodell zur Arbeitsverdichtung vorgenommen.[4] Im Zentrum des Modells steht die Arbeitsdichte, die klar von den Ursachen und Konsequenzen abgegrenzt ist. Der Begriff der Arbeitsdichte soll dabei zum Ausdruck bringen, dass es sich um einen momentanen Zustand handelt, der an verschiedenen Arbeitstagen unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Im Gegensatz dazu ist Arbeitsverdichtung als dynamische Entwicklung zu verstehen, innerhalb derer sich die Arbeitsdichte steigert.
Das Modell wird in Abbildung 1 veranschaulicht und wurde im Grundlegenden empirisch bestätigt.[5] Es handelt sich dabei um ein konzeptionelles Modell, das zwischen Ursachen, Formen und Konsequenzen sowie zwischen Anforderungen und Ressourcen unterscheidet. Durch die Abgrenzung der unterschiedlichen Faktoren erfolgt eine klare konzeptionelle Zuordnung, sodass keine mehrfache Assoziation der Konstrukte erfolgt, so wie es anhand der bisherigen Fragebögen beschrieben wurde. Die im Modell genannten Einflussgrößen und Strategien sind dabei nicht erschöpfend und können um zusätzliche Variablen erweitert werden.
In dem Modell kommen als Ursachen der Arbeitsdichte neue Formen der Arbeit in Betracht, die beispielsweise durch eine zunehmende Digitalisierung und Flexibilisierung des Arbeitslebens geprägt sind. Inwieweit diese neuen Arbeitsformen zu einer höheren Arbeitsdichte führen, hängt wiederum von betrieblichen Strategien ab, die den Umgang des Unternehmens mit den neuen Formen der Arbeit und sonstigen Entwicklungen beschreiben. Beispielsweise könnten Beschäftigte mit einem größeren Handlungsspielraum dem hohen Flexibilisierungsgrad der neuen Arbeitsformen besser begegnen, sodass dieser in vermindertem Maße zu einer hohen Arbeitsdichte führt. Andersherum kann eine fehlende technische Ausstattung dazu führen, dass sich die Anforderungen der neuen Arbeitsformen verstärkt in einer hohen Arbeitsdichte niederschlagen. Inwieweit die Arbeitsdichte negative Konsequenzen nach sich zieht, hängt wiederum von den individuellen Strategien der Beschäftigten ab, die den Umgang mit der Arbeitsdichte abbilden. So könnten individuelle Ressourcen wie ein hohes Maß an Selbstorganisation oder Selbstregulation dazu beitragen, dass selbst eine hohe Arbeitsdichte bewältigt wird und nicht zu negativen Konsequenzen führt. Als Konsequenzen führt das Modell zur Arbeitsverdichtung das psychische Wohlbefinden oder maladaptives Verhalten (zum Beispiel Drogenmissbrauch) als gesundheitliche Folgen an. Weitergehende Konsequenzen betreffen die Leistung beispielsweise in Form einer hohen Produktivität oder geringen Fehlerquote.
Zusammengefasst beschreibt Arbeitsverdichtung die Veränderung der Arbeitsdichte infolge neuer Anforderungen. Die Arbeitsdichte stellt dabei eine vermittelnde Größe dar, die den Zusammenhang zwischen neuen Formen der Arbeit und Konsequenzen für die Gesundheit und Leistung erklären kann. Diese Zusammenhänge können durch betriebliche und individuelle Strategien beeinflusst werden, wobei eine ungünstige Kombination von Anforderungen und Ressourcen negative Konsequenzen für Gesundheit und Leistung nach sich ziehen kann.
Facetten der Arbeitsdichte
Arbeitsverdichtung wird oft mit einer hohen Menge an Aufgaben unter Zeitdruck assoziiert.[6] Allerdings wird dadurch die Komplexität dieses Konstrukts nicht vollständig erfasst. Deswegen erfolgte im Rahmen des Projekts AVENUE eine inhaltliche Eingrenzung von Arbeitsdichte. Auf Grundlage einer umfassenden Literaturrecherche wurden Gespräche mit betrieblichen Fachleuten geführt (zum Beispiel Personalfachkräfte, Betriebsrat, betriebliches Gesundheitsmanagement) sowie Beschäftigte zu Workshops eingeladen. Diese Gespräche resultierten in einer großen Sammlung von Aussagen (möglichen Fragebogenitems), die mit dem Begriff der Arbeitsverdichtung assoziiert wurden. Um diese Information zu komprimieren, wurden explorative und konfirmatorische Faktorenanalysen in mehreren empirischen Untersuchungen durchgeführt, die schließlich in sieben abgegrenzten Facetten der Arbeitsdichte resultierten.[7] Entsprechend diesen sieben Facetten kann sich Arbeitsdichte in einer hohen Menge an Aufgaben zeigen, die in einem gewissen Zeitraum zu erledigen sind (Menge), in Aufgaben, die parallel bearbeitet werden müssen (Gleichzeitigkeit) oder zeitlich gehäuft auftreten (Arbeitsspitzen). Charakteristisch für eine hohe Arbeitsdichte kann auch ein hohes Ausmaß an Abstimmung mit anderen Beschäftigten sein (Interdependenz). Weitere Facetten betreffen hinderliche Faktoren, wie etwa ein hohes Ausmaß an Unterbrechungen (Unterbrechungen), fehlende Klarheit hinsichtlich der eigenen Rolle und den Aufgaben (Unklarheit) sowie die Erreichbarkeit für berufliche Angelegenheiten außerhalb der regulären Arbeitszeit (erweiterte Erreichbarkeit).
Die Differenzierung zwischen verschiedenen Facetten der Arbeitsdichte lässt eine spezifische Beschreibung der jeweiligen Situation am Arbeitsplatz zu und ermöglicht die Anwendung bei einer Vielzahl von unterschiedlichen Tätigkeiten. Durch die Zerlegung in einzelne Facetten können im Anschluss gezielte Maßnahmen abgeleitet werden.
Erfassung von Arbeitsverdichtung
Im Rahmen der Gespräche der Expertinnen und Experten und empirischen Untersuchungen wurde ein Fragebogen zur Arbeitsdichte entwickelt, der die sieben Facetten der Arbeitsdichte mit insgesamt 21 Items erfasst. Entsprechend dem Prozessmodell zur Arbeitsverdichtung wurde auf eine Verknüpfung von neuen Formen der Arbeit (zum Beispiel Arbeiten im Homeoffice) und Facetten der Arbeitsverdichtung (zum Beispiel erweiterte Erreichbarkeit) innerhalb der Items verzichtet. Dadurch sollte zum einen eine suggestive Itemformulierung verhindert werden und zum anderen sollten die Ursachen und Arbeitsdichte unabhängig voneinander erfasst werden. Dies ermöglichte eine empirische Überprüfung, inwieweit die neuen Formen der Arbeit tatsächlich mit einem höheren Ausmaß an Arbeitsdichte einhergehen. Der Fragebogen wurde empirisch validiert[8] und kann auf der Plattform zur Arbeitsdichte ausgefüllt werden (siehe Infokasten).
Auf Grundlage des Fragebogens zur Arbeitsverdichtung wurden ergänzend Bilderskalen zur Arbeitsverdichtung entwickelt und validiert, die eine differenzierte Einschätzung der unterschiedlichen Facetten der Arbeitsdichte erlauben.[9][10] In Abbildung 2 ist die Bilderfolge der Facette Unterbrechungen zu sehen. Die beiden lang gezogenen Klebezettel symbolisieren dabei zwei Aufgaben, die durch verschiedene Ereignisse unterbrochen werden, wie etwa Telefonanrufe, E-Mails oder Besuch von Kolleginnen und Kollegen.
Die Bilderskalen wurden von Soucek und Voss[11] unter einer CC BY-NC-ND-Lizenz veröffentlicht, die eine Weiterverbreitung der Bilder mit Nennung des Urhebers, aber keine Bearbeitung oder kommerzielle Nutzung erlaubt. Die Bilderskalen ermöglichen einen niederschwelligen Zugang zum Thema Arbeitsverdichtung und eignen sich für den praxisorientierten Einsatz in unterschiedlichen Formaten, wie etwa in Interviews oder Workshops. Auf der Plattform zur Arbeitsverdichtung wurde eine Broschüre veröffentlicht, die konkrete Beispiele und Anleitungen für den Einsatz der Bilderskalen im Rahmen eines Workshops enthält.[12]
Arbeitsdichte in der Gefährdungsbeurteilung
Im Rahmen des Projekts AVENUE konnte die Arbeitsdichte als relevanter Belastungsfaktor für die psychische Gesundheit von Beschäftigten bestätigt werden.[13] Daher liegt es nahe, Arbeitsdichte im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung zu berücksichtigen, wie sie gemäß § 5 im Arbeitsschutzgesetz vorgeschrieben ist. Die vorhandenen Materialien und Instrumente auf der Plattform zur Arbeitsverdichtung (siehe Infokasten) lassen sich in die ersten drei Schritte des Prozesses der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen einbinden (Ermittlung und Beurteilung von Gefährdungen sowie Gestaltung von Maßnahmen). Dabei können beispielsweise der Fragebogen oder die Bilderskalen zur Arbeitsdichte verwendet werden, um entsprechende Gefährdungen zu ermitteln. Auf der Plattform zur Arbeitsverdichtung ist eine automatisierte Auswertung hinterlegt, die eine differenzierte Ermittlung und Beurteilung für die einzelnen Facetten der Arbeitsdichte bereitstellt. Schließlich sind auf der Plattform bestehende Maßnahmen zum Umgang mit einzelnen Facetten der Arbeitsdichte aufgeführt, die eine Gestaltung von weiteren Maßnahmen unterstützt. Das Vorgehen ist in der Broschüre zur Arbeitsverdichtung und auf der Plattform detaillierter erläutert (Soucek et al., 2022b).[14]
Zusammenfassung
Neue Formen der Arbeit können sich in einer höheren Arbeitsdichte niederschlagen und sich auf die Gesundheit und Leistung auswirken. Arbeitsdichte umfasst mehrere Facetten, die die Ableitung von Ursachen und Gegenmaßnahmen erleichtern. Im Umgang mit einer hohen Arbeitsdichte sind betriebliche und individuelle Strategien zentrale Ansatzpunkte. Die Instrumente und die Plattform zur Arbeitsverdichtung aus dem Projekt AVENUE können betriebliche Fachleute dabei unterstützen, Arbeitsverdichtung im Betrieb zu thematisieren und in den Prozess der Gefährdungsbeurteilung einzubinden.
Plattform zur Arbeitsverdichtung
Im Rahmen des Projekts AVENUE wurde eine Plattform zur Arbeitsverdichtung entwickelt, auf der bisherige Verfahren zur Diagnose und Intervention zum Thema Arbeitsverdichtung zusammengestellt sind. Darüber hinaus werden weiterführende Materialien zur Verfügung gestellt, wie etwa ein Fragebogen zur Arbeitsdichte mit automatisierter Auswertung und Interpretation der Ergebnisse sowie Materialien zur Gestaltung eines Workshops zur Arbeitsverdichtung.
Die Plattform richtet sich an betriebliche Akteurinnen und Akteure im Bereich Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz (zum Beispiel betriebliches Gesundheitsmanagement, Fachkräfte für Arbeitssicherheit, betriebsärztlicher Dienst, Personalfachkräfte) und soll diese im Umgang mit Arbeitsverdichtung unterstützen. Weitere Informationen siehe unter: www.arbeitsverdichtung.de