Anwendungsorientierte Forschung braucht interaktive Ideen- und Ermöglichungsräume

Wie kann der wichtige Austausch von Hochschulen und Unfallversicherungsträgern im Bereich Forschung weiterentwickelt werden? Die Hochschule der DGUV (HGU) und die Hochschule Bonn-Rhein-Sieg (H-BRS) konzipierten ein interaktives Workshop-Format, das diesem strukturierten und kontinuierlichen Austausch von Wissenschaft und Praxis dienen soll.

Forschung an den Hochschulen für angewandte Wissenschaft

Anwendungsorientierte Forschung stellt sich folgende zentrale Fragen: Wie können wissenschaftliche Diskurse und Forschungsergebnisse sinnvoll in die Praxis transferiert werden? Wie werden Bedarfe der Praxis zur wissenschaftlichen Aufarbeitung und Erforschung an die Wissenschaft übermittelt?

Die damit angesprochene enge Verzahnung von Wissenschaft und Praxis ist Leitidee und kennzeichnendes Merkmal insbesondere von Hochschulen mit einem Angebot von dualen Studiengängen.

Diese Verzahnung und der enge Austausch sind längst gelebte Praxis an beiden Hochschulen, der HGU und der HS-BRS. Hierbei kann beispielsweise auf den Prozess der Studiengangsentwicklungen des Bachelor- und Master-Curriculums für das Public Management Sozialversicherung verwiesen werden. Als Maxime wurde hier definiert: „Curriculumentwicklung aus der Praxis für die Praxis“.[1] Die beiden Hochschulen wollen diesen Austausch, der im Bereich der Lehre bereits etabliert ist, nun im Bereich der hochschulseitigen Forschung gemeinsam weiterentwickeln.

Beide Hochschulen begreifen sich als „Universities of Applied Sciences“. Der Übergang von „Fachhochschulen“ zu „Universities of Applied Sciences“ ist keine rein sprachliche Umetikettierung. Sahen sich tradierte Fachhochschulen insbesondere dem Primat der Lehre verpflichtet, stellen sich Universities of Applied Sciences einem breiteren Aufgabenkatalog – dies gilt vor allem für den Aspekt der Forschung. Der Stellenwert dieser Aufgabe wird durch ihre gesetzliche Verankerung gestärkt. So heißt es etwa im Hessischen Hochschulgesetz (HHG), das für die HGU Geltung hat, im § 4 Abs. 3 Satz 1:

„Die Hochschule für angewandte Wissenschaften ermöglicht durch anwendungsbezogene Lehre, Forschung und Entwicklung eine wissenschaftliche oder künstlerische Ausbildung, die zur selbstständigen Anwendung wissenschaftlicher und künstlerischer Erkenntnisse und Methoden in der beruflichen Praxis befähigt.“

Somit gehört die Forschung neben einer praxisnahen, am Bedarf der Unfallversicherungsträger ausgerichteten Ausbildung zu den Kernaufgaben der beiden Fachhochschulen. Diese zeichnen sich durch eine anwendungs- und umsetzungsorientierte Forschung aus. Entsprechend gehört es zu den Aufgaben der lehrenden Professorinnen und Professoren, Forschungs- und Entwicklungsvorhaben durchzuführen.

Beide Hochschulstandorte nutzen die im Curriculum des gemeinsamen Studiengangs Sozialversicherung, Schwerpunkt Unfallversicherung, angelegten studentischen Forschungsmöglichkeiten, um gezielte Lösungen für konkrete gesellschaftliche und wirtschaftliche Probleme zu entwickeln. Dazu gehören angeleitete studentische Forschungsprojekte, die Bachelorarbeiten und eine breite Palette an Wahlfächern. Darüber hinaus führen Professoren und Professorinnen eigene Forschungsarbeiten durch und sind an Forschungsverbünden beteiligt.

Für die HGU und den Fachbereich Sozialpolitik und Soziale Sicherung der H-BRS bedeutet die anwendungsbezogene und praxisnahe Umsetzung angewandter Forschung, dass die Unfallversicherungsträger sowie weitere Akteurinnen und Akteure des Systems der gesetzlichen Unfallversicherung unmittelbar einzubeziehen sind. Durch den direkten Austausch und die Kommunikation lassen sich die relevanten Forschungsprojekte identifizieren, organisieren und umsetzen.

Dies ist ganz im Sinne des Wissenschaftsrates, der empfiehlt, „Ermöglichungsräume für einen offenen Austausch mit unterschiedlichen Partnern, für die Kooperationen über Grenzen von Forschungsfeldern und gesellschaftlichen Bereichen hinweg“[2] zu schaffen und zu etablieren. Ganz im Sinne dieser Empfehlung arbeiten beide Hochschulen gemeinsam an Konzepten, wie diese „Ermöglichungsräume“ im Bereich der Sozialversicherung gestaltet und systematisch weiterentwickelt werden können.

Das Forschungsforum der Hochschulen als Ermöglichungsraum

Anwendungsorientierte Forschung bezieht sich unmittelbar auf den allgemeinen Ablauf (sozial)wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns.[3] Zu Beginn steht die Identifikation der Problemlage beziehungsweise Herausforderungen, von denen dann spezifische Forschungsfragen abgeleitet und formuliert werden sollen. In den nachfolgenden Schritten folgen die Auswahl der Forschungsmethode und die Ergebnisauswertung, wobei für anwendungsorientierte Forschung die Frage der Relevanz und das Wirkungspotenzial durch den Transfer in die Praxis mitbeachtet werden müssen.[4]

Die Hochschulen wählten das Konzept eines Innovationsworkshops, um einen gut strukturierten, interaktiven und ergebnisoffenen Ermöglichungsraum zu schaffen, der sich wiederum klar am wissenschaftlichen Erkenntniskreislauf orientiert. In der Durchführung eines solchen Innovationsworkshops können typischerweise verschiedene Phasen unterschieden werden (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1: Ablauf eines Innovationsworkshops | © Eigene Darstellung in Anlehnung an Steiner/Diehl 2011, S. 84
Abbildung 1: Ablauf eines Innovationsworkshops ©Eigene Darstellung in Anlehnung an Steiner/Diehl 2011, S. 84

Hierbei gilt es zu beachten, dass sich der Ideensuchraum verkleinert, aber die Ausarbeitungstiefe von Stufe zu Stufe konkretisiert und sich inhaltlich vertiefen kann.

Unter anderem aufgrund coronabedingter Rahmenbedingungen haben sich die beiden Hochschulen für ein zweigeteiltes Konzept entschieden: zum einen ein virtueller Kick-off über WebEx im Dezember 2021 und nachfolgend ein Präsenzworkshop im Mai 2022 in Berlin.

Das grundlegende Konzept lässt sich wie in Tabelle 1 abbilden.

Tabelle 1: Konzept des Innovationsworkshops | © Eigene Darstellung
Tabelle 1: Konzept des Innovationsworkshops ©Eigene Darstellung

Kick-off und Vorstellung laufender Forschungsaktivitäten

Auftakt war eine Online-Veranstaltung im Dezember 2021, auf der die Hochschulen ihre Forschungsaktivitäten der vergangenen Jahre vorgestellt haben. Dazu gehörten zum Beispiel folgende Projekte:

  • Einflussfaktoren auf die Studienwahl von Einsteigerinnen und Einsteigern in die gesetzliche Unfallversicherung
  • Auswirkungen der digitalen Transformation auf die Unternehmensentwicklung
  • Psychische Beanspruchungen durch die Online-Lehre
  • Die inklusiv geprägte Unternehmenskultur als Grundlage für nachhaltige Personalentscheidungen zur langfristigen Personalbindung im öffentlichen Dienst
  • Implementierung von Qualitätsmanagementsystemen in die Verwaltung von Unfallversicherungsträgern
  • Interdisziplinäre Herausforderungen durch Homeoffice

Workshop und Forschungsbedarfe aus Sicht der Unfallversicherungsträger

Am 19. Mai 2022 folgte ein erster Präsenzworkshop der HGU und der H-BRS mit Praxisvertretern und -vertreterinnen der Unfallversicherungsträger.

In einem an die Open-Space-Methode angelehnten Vorgehen wurden zunächst Themen, Trends und Transferbedarf der Praxis gesammelt. In einem weiteren Schritt wurden zu drei Themen in Arbeitsgruppen konkrete Forschungsfragen und -ansätze formuliert.

Das Ziel des Präsenzworkshops lautete, die Forschungsbedarfe und Fragestellungen von den Unfallversicherungsträgern zu erfahren und gemeinsam zu überlegen, wie diese durch die Hochschulen unterstützt werden können. Teilgenommen haben Vertreterinnen und Vertreter von zehn Unfallversicherungsträgern sowie fünf Professorinnen und Professoren. Zudem haben drei Unfallversicherungsträger und die DGUV Forschungsbedarfe schriftlich eingereicht.

Im Folgenden soll zunächst kurz auf die Bedeutung der Forschung für die Hochschulen, die Ergebnisse des Workshops sowie Schritte der weiteren Zusammenarbeit eingegangen werden.

Gemeinsam mit den schriftlich eingereichten Vorschlägen wurden die in Tabelle 2 aufgeführten Themen als Forschungsbedarf identifiziert.

Tabelle 2: Identifizierte Themen mit Forschungsbedarf | © Eigene Darstellung
Tabelle 2: Identifizierte Themen mit Forschungsbedarf ©Eigene Darstellung

Zu den drei letztgenannten Themen wurden anschließend folgende Forschungsfragen formuliert:

  1. Welche Erwartungen haben junge Menschen an (berufsbezogene) Social-Media-Informationen? Reicht es aus, wenn Social-Media-Kanäle in erster Linie informieren, oder sollen sie interaktiv aufgebaut sein?
  2. Welche Kriterien sind für junge Menschen bei der Ausbildungs- und Arbeitsplatzwahl relevant? Welchen Stellenwert hat die „Verbeamtung“ für Personen, die sich bewerben?
  3. Wie können wir in relevanten Studiengängen über die Arbeitsplätze und Berufschancen bei der gesetzlichen Unfallversicherung informieren?
  4. Wie können wir unsere Mitgliedsunternehmen für den Kontakt zur Zielgruppe der Berufswählenden und Berufseinsteigenden nutzen?

Wissensmanagement und neue Lernformate sind interdependent und lassen auch die Kultur von (lernenden) Organisationen nicht unbeeinflusst. Daher geht es nicht nur um rein methodische Weiterentwicklungen, sondern auch um sich verändernde Haltungen aus der Anwendung neuer Lernformate.

  1. Mit welchem Ansatz kann die Erfahrung im Wissensmanagement nachhaltig gesichert werden?
  2. Welche Auswirkungen haben neue Lernformate auf die Kultur der Organisation?
  3. Wie können sich Bachelor-/Master-Studiengänge hinsichtlich neuer Lernformate und Veränderungen der Organisation weiterentwickeln?
  4. Welche Kompetenzen werden benötigt, um die Haltung der Führungskräfte/Beschäftigten hinsichtlich neuer Lernformate weiterzuentwickeln?
  5. Wie beeinflussen neue Lernformate die didaktischen Methoden in der Lehre?

Die fortschreitende Digitalisierung birgt Möglichkeiten, aber auch Grenzen für die Beschäftigten im Bewusstsein, Verstehen und Lernen. Die Geschwindigkeit, in der sich die Arbeitswelt und die Bedingungen verändern, können wir nicht beeinflussen. Diese Entwicklung kann in Menschen Angst auslösen, nicht Schritt halten zu können. Angst ruft Blockaden, Vermeidungen, Selbstisolation, aber auch langfristige psychische Auswirkungen und eine Verringerung kognitiver Leistungen hervor. Deshalb ist es wichtig, alle Beschäftigten in dieser Geschwindigkeit mitzunehmen.

  1. Welche Auswirkungen haben geänderte Geschäftsprozesse und Workflows durch die Einführung neuer IT-Systeme/künstliche Intelligenz auf die Beschäftigten?
  2. Wie bewältigen Mitarbeitende und Führungskräfte die Angst vor neuen Anforderungen der Digitalisierung? Wie beeinflusst die Unternehmenskultur die Angstbewältigung?
  3. Wie nehmen die Hochschulen die Beschäftigten mit ihren individuellen Lerngeschwindigkeiten mit und motivieren sie zum lebenslangen Lernen?
  4. Wie stellen die Hochschulen sicher, dass Digitalisierung die Entgrenzung nicht fördert?
  5. Welche neuen Berufsbilder im Bereich der Ausbildung und Studiengänge sind zukünftig für die Unfallversicherungsträger relevant?
  6. Steigert die Durchdringung der Digitalisierung tatsächlich die Arbeitsproduktivität? Wie wird die Arbeitsproduktivität bei den Unfallversicherungsträgern gemessen?

 

Der Diskurs zwischen Unfallversicherungsträgern und Hochschulen soll weitergeführt werden. Besonders wichtig ist es den Vertreterinnen und Vertretern der Unfallversicherungsträger, die vorhandenen Formate zu nutzen und die Kompetenz aus ihrer Praxis einzubeziehen. Dazu gehört es auch, Freiräume für die wissenschaftliche Weiterentwicklung der (ehemaligen) Studierenden zu schaffen.

Genauer in den Blick genommen werden folgende Formate:

  • Studentisches Forschungsprojekt
  • Wahlfach
  • Hausarbeit und Bachelorarbeit sowie
  • wissenschaftliche Hochschulstudien

Ziel ist es zu prüfen, inwieweit die Forschungsbedarfe den Formaten zugeordnet beziehungsweise durch eine Kombination von Formaten realisiert werden können.

Die Forschung über die DGUV-Hochschulstandorte erscheint insbesondere bei den Themen vorteilhaft, bei denen eine enge Zusammenarbeit mit der Praxis sowie eine Begleitung des Transfers der Forschungsergebnisse in die Praxis erforderlich erscheinen.

Weitere Literatur

Steiner, S.; Diehl, B. (2011): Durchführung der Innovationsworkshops. In: Belz, F.-M.; Schrader, U.; Arnold, M. (Hrsg.): Nachhaltigkeitsinnovation durch Nutzerintegration, Marburg: Metropolis Verlag.