Von der Vision zur Veränderung

Chance oder Risiko, Herausforderung oder Bedrohung? Bei der Zukunftsforschung geht um die Analyse und längerfristige Prognose von Wandlungsprozessen. Sie kann eine Orientierungs- und Entscheidungshilfe für Management, Politik und Verwaltung sein. Stärker als andere Wissenschaften ist sie abhängig von Vertrauen, weil sie nicht also vor Eintreten der Entwicklung nachweisbar ist.

Warum eigentlich Zukunftsforschung?

1942 erschien posthum Stefan Zweigs autobiografisches Werk „Die Welt von gestern“. Darin charakterisiert er seine Lebenswelt um 1900 als goldenes Zeitalter des Versicherungswesens (siehe Infokasten). Diese Beschreibung trifft rund 50 Jahre später auf die einflussreiche Diagnose des Historikers Reinhart Koselleck von einem Auseinanderdriften von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont. Koselleck stellte in seinen Untersuchungen seit den 1970er-Jahren fest, dass sich über Generationen hinweg geteilte Erfahrungen zunehmend aufgelöst haben. Auch weil Momente, die auf eine Gesellschaft integrativ wirkten, wie zum Beispiel die Religion, an Bedeutung verloren haben. Der Wegfall gemeinsamer Erfahrungen löse in der Folge Unsicherheit aus – so Koselleck.

Vereinfacht ausgedrückt: Die Zukunft als das Noch-zu-Kommende ergibt sich nun nicht mehr aus den Erfahrungen der Vergangenheit, sondern wird als grundsätzlich anders, neu und deshalb unsicher erwartet. Beide scheinbar divergierenden Beschreibungen bilden dabei zwei Seiten der gleichen Medaille und können als Grundüberlegung der modernen Zukunftsforschung gelten: Die Wahrnehmung von Unsicherheiten und permanentem Veränderungsdruck in der Gegenwart bei gleichzeitig zunehmendem Bedürfnis nach Orientierung.

Orientierung und damit Sicherheit soll die Auseinandersetzung mit der Zukunft bieten. Zukunft „begegnet“ uns dabei auf ganz unterschiedliche Weise: Als das explizit Unsichere, nicht klar Erkennbare versuchen wir Zukunft sprichwörtlich festzuhalten und zu bändigen, indem wir auf Veränderungsanzeichen (Trends) achten (damit wir nicht überrascht werden), Pläne machen (damit es so kommt, wie wir uns das vorstellen) oder Versicherungen abschließen (falls es dann doch anders kommt). Zukunft stellt sich hier als Variation einer zukünftigen Gegenwart dar: grundsätzlich „sichtbar“, wenn auch noch undeutlich und sich bestenfalls in Umrissen abzeichnend. Gleichzeitig „begegnet“ uns Zukunft immer wieder implizit in Form von gegenwärtigen Wünschen, Hoffnungen und Erwartungen, Ängsten und Befürchtungen sowie als Ausdruck bestimmter Machtkonstellationen. Hier stellt sich Zukunft als Variation gegenwärtiger Zukünfte dar: grundlegend offen (in Bezug auf ihre tatsächliche Manifestierung) und subjektiv oder an bestimmte Personen oder Gruppen gebunden.

Dieses Gefühl der Sicherheit war der anstrebenswerteste Besitz von Millionen, das gemeinsame Lebensideal. Nur mit Sicherheit galt das Leben als lebenswert, und immer weitere Kreise begehrten ihren Teil an diesem kostbaren Gut. Erst waren es nur die Besitzenden, die sich dieses Vorzugs erfreuten, allmählich aber drängten die breiten Massen heran: das Jahrhundert der Sicherheit wurde das goldene Zeitalter des Versicherungswesens. […] Nur wer sorglos in die Zukunft blicken konnte, genoss mit gutem Gefühl die Gegenwart.“

(S. Zweig: Die Welt von gestern)

Prognosen, Zukünfte, Kontingenz

Gemein ist beiden Sichtweisen die grundsätzliche Erwartung von Veränderungen eines Status quo. Freilich ist ihr Umgang mit Ungewissheit und Unsicherheiten dabei unterschiedlich. Die Unterschiede lassen sich dabei in drei grundsätzliche Zugänge der Zukunftsforschung unterteilen.

So sollen Prognosen für einzelne Themenbereiche einen verlässlichen Rahmen für zukünftige Entwicklungen bieten, sodass Entscheidungen dann in Bezug auf diesen Rahmen optimiert werden können. Demnach besteht ein unmittelbarer Handlungs- und Entscheidungsdruck, für den Zukunftsstudien in Form einer klassischen Entscheidungsunterstützung unmittelbar orientierend wirken sollen. Prognostische Zukunftsstudien bedienen sich dabei vorwiegend klassischer statistischer Verfahren. Durch anerkannte „exakte“ Verfahren werden scheinbar unsichere Entwicklungen in berechenbare Größen überführt. Wissen über zukünftige Entwicklungen wird damit zur Frage der wissenschaftlichen Exaktheit und Güte. Die Zukunft wird berechnet und im engen Wortsinn von Prognose vorhergewusst. Eine breite Akzeptanz generierend, bieten Prognosen Personen mit Entscheidungsbefugnis damit eine Art Entlastungsfunktion wie zum Beispiel in Form von Konjunktur- und Demografieprognosen. Gleichzeitig entstehen aus den kommunikativen Vorteilen der Exaktheit auch die wesentlichen Probleme von Prognosen. Je präziser Aussagen über zukünftige Entwicklungen getroffen werden, desto mehr müssen Prognosen komplexitätsreduzierende Annahmen insbesondere in Bezug auf relevante Faktoren und deren Interdependenzen und Kausalbeziehungen treffen. Das Risiko eines Irrtums in Bezug auf das tatsächliche Eintreffen der prognostizierten Zukunft steigt somit bei komplexen Themenbereichen und längeren Zeithorizonten. Als vereinfachte Alltagserfahrung trifft diese die meisten von uns, beispielsweise wenn wir dem Wetterbericht für den nächsten Tag Glauben schenken und daraus entsprechende Entscheidungen ableiten. Einem Wetterbericht aber, der uns das Wetter für einen Tag im nächsten Jahr vorhersagt, schenken wir höchstens spekulative Aufmerksamkeit, bei aller suggerierten Exaktheit der Datenerhebung und -darstellung.

Bei komplexeren Themenbereichen steht nicht die Prognose, sondern die Identifikation von potenziellen Entwicklungen im Vordergrund. Die Gegenwart wird analysiert, Veränderungsanzeichen (Trends) identifiziert und die potenziellen Entwicklungen beschrieben. Durch explorative Verfahren wie zum Beispiel der Szenariotechnik oder der Delphitechnik werden etwa alternative Entwicklungspfade und deren zukünftige Ausprägungsmöglichkeiten durch eine elaborierte Analyse der zugrunde liegenden Einflüsse, Interdependenzen und erkennbaren Kausalitäten untersucht. Die in Prognosen suggerierte Gewissheit einer „vorhergewussten“ Zukunft wird dabei ersetzt durch die Annahme mehrerer alternativer Entwicklungspfade. Die Zukunft erscheint hier als Potenzialität oder als Zukünfte. Sprachlich ein Novum, sind die so identifizierten Zukünfte dennoch weder beliebig noch abschließend in ihrer Auswahl. Denn durch wissenschaftliche Gütekriterien und Standards wird zwar eine hohe Verfahrenstransparenz sichergestellt und so der Beliebigkeit Einhalt geboten. Aufgrund der erkenntnistheoretischen Grenzen des Wissens und des daraus resultierenden Nichtwissens gerade in Bezug auf neue Problemfelder (zum Beispiel künstliche Intelligenz) kann es aber immer auch anders kommen. Dennoch werden durch diese Art der Orientierung Entscheidungsträgern begründete Selektionsmöglichkeiten geboten. Explorative Verfahren produzieren somit Erkenntnisse auf Vorrat, deren Diversität und unterschiedliche Begründungen einen Vorteil für informierte Entscheidungen darstellen können.

Die Kontingenz der Zukunft – also die Annahme, dass es so, wie es ist, nicht notwendig ist und die Zukunft deshalb gestaltbar ist – und die daraus resultierende Vorstellung, die Zukunft sei gestaltbar und stelle sich eher in Form von zukünftigen Möglichkeiten („Zukünfte“) denn in Prognosen dar, ist verlockend und verunsichernd zugleich: Denn wie und für welche Möglichkeit soll man sich entscheiden, mit welcher Begründung? Diese Problematik zeigt sich vor allem bei Zukunftsfragen, die von großer Diversität oder Divergenz geprägt sind (zum Beispiel Medizinethik). Hier Orientierung über die Analyse und die Beschreibung weiterer Entwicklungsmöglichkeiten zu geben, ist nicht sinnvoll. Einen konstruktiveren Weg bieten partizipative Verfahren, die die diversen Gruppierungen nicht als Adressaten von Entscheidungen, sondern als legitime Mitbestimmende integrieren. Dadurch können grundlegende Annahmen über zukünftige Entwicklungen sowie Hoffnungen und Ängste miteinander geteilt werden. So erhöht sich nicht nur die informatorische Basis von Entscheidungen. Partizipative Verfahren können auch helfen, die inhärente Unsicherheit von Zukunftswissen nicht als Problem, sondern als Möglichkeit zur Gestaltung zu vermitteln. Denn mit der Offenheit von Zukünften gestalterisch umzugehen, heißt auch, Mehrdeutigkeiten anzuerkennen, verschiedene Interpretationen zuzulassen – und sie gleichzeitig kritisch hinterfragen zu können und so ein Kontingenzbewusstsein auszubilden.

Zukunftsgestaltung

Zukunftsforschung dient also grundsätzlich der Orientierung von unterschiedlichen Adressaten. Welcher Art die Orientierung und damit der methodische Zugang von Zukunftsforschung ist, hängt dabei vor allem von der Komplexität des Themenbereichs, aber auch dem Umgang mit Unsicherheit und Ungewissheit des Adressaten ab. Festhalten lässt sich jedoch, dass die Ergebnisse von Zukunftsforschung idealtypisch genutzt werden, um sich zu bestimmten Zukunftsentwicklungen verhalten zu können, wenn auch auf drei ganz unterschiedliche Weisen.

So wird erstens durch Zukunftsforschung erzeugtes Wissen präventiv genutzt. Das heißt, durch prognostische oder explorative Verfahren identifizierte Entwicklungen sollen verhindert werden, bevor sie eingetreten sind. Zweitens werden die Ergebnisse der Zukunftsforschung prä-aktiv verwendet, also kann das Eintreffen von Entwicklungen so vorbereitet werden, dass darauf reagiert werden kann, ohne einen größeren Schaden zu nehmen. Drittens dienen die Ergebnisse einer pro-aktiven Gestaltung von Entwicklungen, das heißt, dass versucht wird, erwünschte Entwicklungen bewusst herbeizuführen.

Aus dieser idealtypischen Darstellung der Handlungswirksamkeit von Zukunftsforschung ergeben sich vor allem gesellschaftspolitische Probleme. Zum einem werden damit die jeweiligen Möglichkeitsräume einer Gesellschaft, Organisation oder Gruppe eingeschränkt, und zwar auf Grundlage noch nicht eingetroffener Entwicklungen und Ereignisse. Zukunftswissen ist damit auch immer Macht, auch und gerade in einer verwissenschaftlichen Gesellschaft, insbesondere weil es nicht ex ante (also vor Eintreten der Entwicklung) nachweisbar ist. Wissen über die Zukunft ergibt aber nur Sinn, wenn es entweder zur Herstellung oder Verhinderung einer bestimmten Entwicklung durch Entscheidungen in der Gegenwart genutzt wird. Deshalb ist es womöglich stärker als andere Wissensarten abhängig von Vertrauen (in die Wissenschaft) und Machtverhältnissen (Was ist ein Problem? Wer entscheidet?).

Damit ist kein Fundamentalwiderspruch gegen den Nutzen und den Sinn von Zukunftsforschung formuliert. Vielmehr wird ausdrücklich die Notwendigkeit betont, dass Zukunftsforscherinnen und Zukunftsforscher sich immer ihrer eigenen erkenntnistheoretischen Grenzen, inhärenten Unsicherheiten und Ungewissheiten bewusst sein und diese selbstbewusst kommunizieren sollten. Gleichzeitig bedingt dies eine Öffnung der Diskurse um zentrale Zukunftsthemen (Wie wollen wir leben?), um nicht nur eine breite Öffentlichkeit herstellen, sondern auch einen positiveren Umgang mit Unsicherheit und den sich daraus ergebenden Gestaltungsspielräumen jeder und jedes Einzelnen entwickeln zu können. Der in den vergangenen Jahren prominent gewordene Ansatz der Futures Literacy – also der kompetenten Fähigkeit, Zukunft in ihrer unsicheren Entwicklung zu verstehen – bietet hier einen vielversprechenden Ausgangspunkt. Vielleicht wird dann zur Jahrhundertwende 2100 im Sinne Stefan Zweigs geschrieben werden: „Nur wer kompetent in die Zukunft blicken konnte, genoss sorglos mit gutem Gefühl die Gegenwart.“