Geschichte der Selbstverwaltung in der Unfallversicherung (Teil II)
Die Grundlagen der deutschen Sozialgesetzgebung wurden im deutschen Kaiserreich gelegt und das System der Selbstverwaltung erfolgreich als grundlegendes Prinzip eingeführt. Der Erste Weltkrieg und danach die Entstehung der ersten deutschen Demokratie brachten neue Herausforderungen, in denen sich die Sozialversicherung als stabiler Anker bewährte und ausgebaut wurde.
Key Facts
- Mit Anerkennung der Gewerkschaften kam es zu einer sozialpartnerschaftlichen Sozialpolitik unter Festigung des Prinzips der Selbstverwaltung sowie zur Demokratisierung der Gremien und Verfahren innerhalb der Sozialversicherung
- In der Weimarer Republik wurde das Leistungsspektrum der Unfallversicherung ausgeweitet auf Wegeunfälle und Berufskrankheiten und den Einsatz von „Unfallverhütungspropaganda“
- Während die Struktur und Funktion der Unfallversicherung im Nationalsozialismus erhalten blieben, fiel die Selbstverwaltung dem Führerprinzip zum Opfer, jüdische Mitglieder und politisch Verfolgte wurden ausgeschlossen
Noch kurz vor dem Ersten Weltkriegwurde die Sozialversicherung mitder Einführung der Reichsversicherungsordnungreformiert. Die einzelnenunter Bismarck eingeführten Versicherungszweige– die Krankenversicherung (1883), die Unfallversicherung (1884) sowiedie Alters- und Invaliditätsversicherung(1889) – wurden nun zum Teil in einemGesetzestext zusammengefasst. Der ErsteWeltkrieg bildete bald eine große Bewährungsprobefür das soziale Versicherungssystem des Kaiserreiches.Während der erste Teil dieses Beitrags[1]die Entstehungshintergründe und erstenReformprozesse der Unfallversicherunghinsichtlich der Selbstverwaltung vorgestellthat, thematisiert dieser Beitrag dieZeit nach Einführung der Reichsversicherungsordnung1913 bis zum Ende des ZweitenWeltkriegs.
Unfallversicherung und Selbstverwaltung im Ersten Weltkrieg
Der Erste Weltkrieg bedeutete nicht nur politischeinen wesentlichen Einschnitt. Die Berufsgenossenschaften hatten währenddes Krieges die höchsten Unfallzahlen undzahlreiche tödliche Unfälle zu verzeichnen,unter anderem wegen mangelnder Kontrolleund ausgesetzten Arbeitsschutzbestimmungen. Zudem stiegen die Unfallzahlendurch die vielen ungelernten Arbeitskräftein zum Teil sehr gefährlichen Branchen,etwa in Munitionsfabriken oder Bergwerken,enorm an.Auch aus finanzieller Sicht war der Kriegverheerend für die Berufsgenossenschaften,da die Reservefonds in Kriegsanleihenangelegt werden mussten, was durch dieeinsetzende Inflation stark belastend wirkte.Unter diesen wirtschaftlich ungünstigen Voraussetzungen schritt die Unfallversicherung in die politisch unruhige Zeit derNovemberrevolution von 1918.
Weimarer Republik – Selbstverwaltung trifft auf Demokratie
Der Übergang zur ersten deutschen Demokratiebrachte strukturell kaum Auswirkungenmit sich. Während sich die politischenund wirtschaftlichen Rahmenbedingungenentschieden änderten, wurde das aus demKaiserreich geerbte System auch nach demErsten Weltkrieg grundsätzlich beibehalten.Die Reichsversicherungsordnung bliebweiterhin bestehen und die praktische Arbeit des Reichsversicherungsamts, derOberversicherungsämter und der Berufsgenossenschaftenlief wie gehabt weiter.In der ersten deutschen Demokratie, nachdem verfassungsgebenden Ort auch WeimarerRepublik genannt, erhielt auch dieSozialversicherung eine neue Basis: DieVerfassung garantierte nun soziale Grundrechteund das bestehende Sozialversicherungssystemwurde dahin gehend gewürdigt,dass in der Weimarer Verfassung in§ 161 als Schutzziel die „Erhaltung der Gesundheitund Arbeitsfähigkeit“ durch „ein umfassendes Versicherungswesen untermaßgebender Mitwirkung der Versicherten“ festgeschrieben wurde.[2]
Anerkennung der Gewerkschaften
Einen wichtigen Entwicklungsschritt fürdie Selbstverwaltung markiert die Anerkennung der Gewerkschaften als Vertretungder Arbeitnehmerschaft. Erste Maßnahmen in diese Richtung erfolgtenbereits während des Ersten Weltkriegs. DerStaat band sie als legitime Interessenvertretungder Arbeiterschaft im VaterländischenHilfsdienstgesetz von 1916 mit in dieKriegswirtschaft ein. Motive dafür lagen inder Wahrung des Friedens in der Heimatundder Aufrechterhaltung der Produktion.Damit trat erstmals ein neuer wichtigerAkteur auch für die Weiterentwicklungder Selbstverwaltung in der Sozialversicherung auf.
Mit der Errichtung der ersten deutschenDemokratie ab 1918 ging auch eine weitereIntegration der Gewerkschaften einher.Dies geschah in Form der völligen Koalitionsfreiheit,also dem uneingeschränktenRecht auf Zusammenschluss zu Interessenvertretungen,der Einführung von Mitbestimmungsrechtenund der Anerkennungals Tarifpartner in der Lohnpolitik. Maßgeblichdrückte sich dies im „Stinnes-Legien-Abkommen“ vom 15. November 1918aus, benannt nach dem Industriellen HugoStinnes und dem GewerkschaftsführerCarl Legien. Arbeitgeber- und Arbeitnehmerschaftbildeten die Zentralarbeitsgemeinschaft,die bis 1924 bestand und eineZusammenarbeit in sozial- und wirtschaftspolitischenFragen regelte, wie etwa dieEinführung des Achtstundentages und derTarifverträge. Dieses Zweckbündnis entstandvor dem Hintergrund drohender Sozialisierungvon Unternehmen.Im Jahr 1920 schuf der Gesetzgeber mit demBetriebsrätegesetz die Grundlage für diebetriebliche Mitbestimmung. So wirkte sichdie Demokratisierung auch auf den Bereichdes Wirtschaftslebens aus. Auf diese Weiseerhielt die Arbeiterschaft mehr Mitbestimmungsrechteim Arbeitsschutz.Eine sozialpartnerschaftliche Sozialpolitikmit der Selbstverwaltung als Grundkonstruktwurde zu einem wichtigen Leitbildder Weimarer Republik. Die Phase derrechtlichen Anerkennung sollte jedochmit der Zerschlagung der Gewerkschaftennoch im Jahr der Machtergreifung 1933jäh enden.
Von der Inflation zur Innovation
Zunächst zeigten die wirtschaftlichen Krisen,insbesondere die 1923 auf ihren Höhepunkt kommende Inflation, wie wichtigund wie groß der Bedarf an einem Systemder sozialen Sicherung war. Die Geldentwertungbedeutete einen schweren Schlagfür die Sozialversicherung und ihre Träger,allen voran die Rentenversicherung, derenRücklagen verloren gingen. Auch auf dieUnfallversicherung wirkte sich die Inflationstark aus: Der Gesetzgeber musste immerwieder auf die Geldentwertung reagieren.Mit einer Reihe von Gesetzen und Verordnungenwurden die Erhöhungen der Zulagenund der Renten geregelt, die aber mitder rasanten Geldentwertung nicht Schritthalten konnten. Gerade die Personengruppen,die Sozialrenten bezogen, gehörten zuden Hauptverlierern der Inflationszeit. AlsKonsequenz der Inflationserfahrung kam eszu einer breiten Reformdebatte um die Rentenund Leistungen der Unfallversicherung.
Schon in der Krisenphase gab es Reformvorhaben,die die Selbstverwaltung der Unfallversicherungbetrafen. So wurden diein der Reichsversicherungsordnung festgeschriebenenWahlmodi der Selbstverwaltungsgremiendurch das „Gesetz überÄnderung der Wahlen nach der Reichsversicherungsordnung“von 1922 geändert.Dessen erster Artikel regelte mit demWechsel des Wortes „Männer“ zu „Deutschen“,dass nun erstmals auch Frauen fürdie Wahlen in die Versicherungsbehördenzugelassen waren. Neben dieser sicherlich bedeutendsten Änderung kam es zu weiterenAnpassungen, die zu einerDemokratisierung der Wahlverfahren führten. Darunterfielen etwa auch die Regelung desEinbezugs landwirtschaftlicher Berufsgenossenschaftenund das Festschreiben desPrinzips der Verhältniswahl.[3]1923 folgteeine Verordnung über Vereinfachungen inder Sozialversicherung. Diese legte fest,dass mindestens ein Vertreter oder eineVertreterin der Versicherten bei der Feststellungvon Leistungen beteiligt werdenmusste.[4]Hiermit erfolgte eine gewisse Demokratisierung der Versicherungsverfahren,wenn dies auch noch keine paritätischeRegelung bedeutete.Neben dieser Demokratisierung bedeuteteeine weitere „Verordnung über Versicherungsträger in der Unfallversicherung“ einenEingriff in die Selbstverwaltung vonseitender Politik. Sie erlaubte Eingriffedes Reichsarbeitsministers in den Bestandder Berufsgenossenschaften und ließ esebenso zu, Landesversicherungsanstaltenzu Trägern der Unfallversicherung zumachen.[5]Gebrauch gemacht wurde vondieser der Krisensituation geschuldetenErmächtigung nicht.
Unfallverhütungspropaganda und Leistungsausdehnung ab 1925
Zu wesentlichen Neuerungen kam es zunächstauf dem Feld der Prävention. Wardiese bisher von eher technischen Regulariengeprägt wie den Unfallverhütungsvorschriften, rückte unter dem Schlagwortder „Unfallverhütungspropaganda“ nunder Mensch in den Mittelpunkt. Schon inden frühen 1920er-Jahren erfuhr die Präventioneinen Bedeutungszuwachs. Daslag sicherlich auch daran, dass man diedamit verbundenen Sparpotenziale erkannte. Dies spiegelte sich zunächst institutionellwider, etwa in der Gründung derZentralstelle für Unfallverhütung (1920),der Arbeitsgemeinschaft für Unfallverhütung(1921) und der UnfallverhütungsbildG. m. b. H. (1924). Letztere gab mit ihremNamen schon die neue Stoßrichtung vor:Mit Mitteln der kommerziellen Reklamesollte nun nach dem Vorbild der amerikanischen„Safety first“-Bewegung für denUnfallschutz geworben werden. Mittel derWahl bildete dabei das Plakat; die neu herausgegebenenBilder wurden aber auchauf Lohntüten, Werbemarken oder Flugblätter gedruckt. Zudem entstanden späterauch Filme und Rundfunksendungen. Abbildung 1 zeigt ein frühes Beispiel, dasim Reichsarbeitsblatt und seiner Beilageabgedruckt wurde. Das Unfallverhütungsplakatstellt letztlich bis heute das wichtigstepräventive Medium dar.[6]
Neben diesem Paradigmenwechsel auf dempräventiven Tätigkeitsfeld der Berufsgenossenschaften kam es 1925 auch zu einerwichtigen und umfangreichen Ausweitungdes Leistungsspektrums. Nach jahrelangenBeratungen sorgte die „Verordnungüber die Ausdehnung der Unfallversicherungauf gewerbliche Berufskrankheiten“,kurz: Berufskrankheitenverordnung, vom12. Mai 1925 dafür, dass nun erstmals auchErkrankungen der Berufswelt entschädigtwurden. Zunächst umfasste das Gesetznur eine begrenzte Zahl von elf genau definiertenLeiden. Dies waren Erkrankungen,die durch Blei, Phosphor, Quecksilber, Arsen, Benzol, Schwefelkohlenstoffverursacht wurden, sowie Hautkrebse, diedurch verschiedene Schadstoffe ausgelöst wurden. Ebenso wurden der graue Star beiGlasmachern, Erkrankungen durch Röntgenstrahlen,die Wurmkrankheit und dieSchneeberger Lungenkrankheit bei Bergleutenanerkannt.
Auch wenn so zunächst nur wenige spezielleSymptome abgedeckt waren, stellte die Ausdehnung der Unfallversicherung aufgewerbliche Berufskrankheiten eine wichtigeZäsur dar. Eine stetige Ausweitung erfolgte:zuerst 1929 mit einer Ausdehnung auf Silikose, umgangssprachlich „Staublunge“,der Bergleute und Erkrankungendurch Pressluftwerkzeuge sowie Berufskrankheiten von Seeleuten, wie Skorbut.[7]
Außerdem trat 1925 das „Zweite Gesetzüber die Änderung in der Unfallversicherung“in Kraft. Es regelte die Anpassungder Unfallrenten an das aktuelle Lohnniveauund weitete den Versicherungsschutzaus auf Unfälle, die auf dem Weg zur odervon der Arbeit stattfanden, die sogenanntenWegeunfälle. Kostensteigernd wirktesich auch die Pflicht aus, die Heilbehandlungnun schon nach der achten Wochezu übernehmen.
Das neue Gesetz legte den Berufsgenossenschaftenzudem die Pflicht zur Berufsfürsorge,also organisatorische und finanzielleHilfe für Arbeitsunfallopfer zur Erlangungeines Arbeitsplatzes, auf. 1928 kam es zueinem dritten Ausdehnungsgesetz, das denVersichertenkreis ausweitete, unter anderemauf Feuerwehren und Rettungsdienste,das Feld der Heil-, Pflege- und Kureinrichtungen,Einrichtungen der Wohlfahrtspflege und des Gesundheitsdienstes. Gerade inder wirtschaftlichen Hochphase der WeimarerRepublik erlebte die Unfallversicherungalso eine enorme Erweiterung ihresAufgabenfeldes, wie es bis heute noch Bestandhat. Die zum Ende der 1920er-Jahreeinsetzende Weltwirtschaftskrise bremstediese Entwicklung allerdings. Angesichtsder schwierigen finanziellen Lage wurdeseitens der Unternehmen der Ruf nach Kürzungenauf der Leistungsseite laut. Durchmehrere Notverordnungen wurden dann1932 geringfügige Renten gekürzt und derStaat musste Überbrückungskredite fürvon der Krise besonders betroffene Berufsgenossenschaftenleisten. Finanziellbesser aufgestellte Berufsgenossenschaftenstützten die schwächeren, um staatlicheEingriffe in die Selbstverwaltung zu verhindern.Denn auch in dieser Krise gab esDruck zur zwangsweisen Zusammenlegungvon Berufsgenossenschaften.[8]

Arbeitslosenversicherung
Schon im Stinnes-Legien-Abkommen von 1918 hatten die Arbeitgeber und Gewerkschaften gefordert, eine paritätisch besetzte Arbeitsverwaltungeinzurichten. Erst mit der wirtschaftlichen Hochphase der Weimarer Republik wurde 1927 durch das Gesetz über Arbeitsvermittlungund Arbeitslosenversicherung eine staatliche Arbeitslosenversicherung eingeführt. Dieser neue Sozialversicherungszweig löste die bisherbestehende Erwerbslosenfürsorge der Gemeinden ab. Nun bestand erstmals ein gesetzlicher Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung, denArbeitgeber und Arbeitnehmer je hälftig finanzierten.
Die Selbstverwaltung funktionierte in der Arbeitslosenversicherung nach einem eigenen neuen System. Die Selbstverwaltungsgremien, die Verwaltungsausschüsse, waren über die Organisationsstruktur hinweg in drittelparitätischer Form besetzt. Berücksichtigt wurden nebenden Vertretern der Arbeitgeber und Arbeitnehmer auch solche der öffentlichen Körperschaften. Dies war als Kompensation für das Zurückdrängen der Kommunen aus dem bisherigen Verfahren gedacht.
Für die Besetzung der Gremien waren für die Vertreter der Sozialpartner keine Wahlen vorgesehen; dies erfolgte für die Arbeitsämter undLandesarbeitsämter über Vorschlagslisten der „wirtschaftlichen Vereinigungen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer“, also Arbeitgeberverbändeund Gewerkschaften. Für das höchste Gremium, die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, bestimmtendie jeweiligen Abteilungen des Reichswirtschaftsrats. Unter den Vertretern der Arbeitnehmer mussten mindestens zwei Angestellte sein. ImÜbrigen regelte der § 14 auch, dass in allen Organen Frauen vertreten sein sollten.[9]
Bei der Einführung der Arbeitslosenversicherung handelt es sich um eine wichtige Ausweitung der deutschen Sozialversicherung undzudemum eine arbeitnehmerfreundliche Weichenstellung. Allerdings war dieser Schritt nach Kriegsende auch lange überfällig, denn imeuropäischen Vergleich hinkte man bei diesem Zweig hinterher.
In der Weltwirtschaftskrise stieß die Arbeitslosenversicherung aufgrund der massiv steigenden Arbeitslosenzahlen an ihre Grenzen. ImStreit um ihre Zukunft zerbrach 1930 sogar die letzte parlamentarische Regierung der Weimarer Republik und beendete so den sozialdemokratischgeprägten Weimarer Staatsinterventionismus.[10]
Unfallversicherung im Nationalsozialismus
Die Machtergreifung der Nationalsozialistenhatte auch auf die Sozialpolitik undgerade das dort herrschende Prinzip derSelbstverwaltung große Auswirkungen. Schwerpunkt der sozialen Politik bildetedie Beschäftigungspolitik, vor allemüber die Überwindung der Arbeitslosigkeitdurch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und die einsetzende Aufrüstung. DieGewerkschaften als Sozialpartner in derSelbstverwaltung wurden verboten und durch die Deutsche Arbeitsfront (DAF)ersetzt.
Die neuen Machthaber hatten für die Sozialversicherungnach der Machtergreifungkeine ideologische Konzeption. Einefundamentale Umwandlung war nicht geplant,weswegen die bestehende Funktionsweiseund Struktur weitgehend unangetastetblieben. Es kam nicht zu radikalen Reformprojekten,was die gesetzliche Grundlageder Sozialversicherung betraf.[11]
Dennoch war die nationalsozialistischePolitik für die Arbeit der Unfallversicherungbestimmend. Grundsätzlich bestandKompatibilität zwischen den Zielen der Sozialversicherungund denen der Nationalsozialisten.Der Nationalsozialismus hattedurchaus ein eigenes Interesse an der Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten.Sein Ziel war die Stärkungder „Volksgesundheit“ als Voraussetzungfür die wirtschaftlichen und militärischenPläne des Regimes. Der Schutz der Gesundheitmit präventiven Mitteln ließ sich problemlosdem der völkischen Ideologie,des Schutzes der „Volksgesundheit“, des„Volkskörpers“ und damit der „Volksgemeinschaft“unterordnen.[12]Wer nicht zu dieser Volksgemeinschaftzählte, wurde ausgeschlossen. So auch ausder Sozialversicherung und ihren Gremien.Im Sinne der Gleichschaltung war ein ersterSchritt die personelle „Säuberung“.[13]Dies erfolgte durch zwei harmlos klingendeGesetze bereits im Frühjahr 1933: das„Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“[14]und das „Gesetz überEhrenämter in der sozialen Versicherungund der Reichsversorgung“[15]. Mit diesenwurden alle verfolgten Gruppen aus deröffentlichen Verwaltung und Selbstverwaltungsgremienausgeschlossen, also alle mit„nichtarischer“ Abstammung und solche,„die nach ihrer bisherigen politischen Betätigungnicht die Gewähr dafür bieten,daß sie jederzeit rückhaltlos für den nationalenStaat eintreten“[16]. Gemeint warenMitglieder der Gewerkschaften, der Sozialdemokratieund der KommunistischenPartei. Auch aus den Ehrenämtern in derUnfallversicherung wurden jüdische Unternehmer ausgeschlossen. Die Repressionentrafen auch jüdische Ärztinnen und Ärzte,die aus der Sozialversicherung ausgeschlossenwurden, was sie vielfach ihrerExistenzgrundlage beraubte.[17]
Schnell geriet auch die Selbstverwaltungder Sozialversicherung unter Druck. In derUnfallversicherung geschah dies auf verschiedenenEbenen durch die Einführungdes „Führerprinzips“, das „Gesetz über denAufbau der Sozialversicherung“ vom 5. Juli1934[18]. Dieses sogenannte Aufbaugesetzbeseitigte alle Formen der Selbstverwaltungin der Sozialversicherung. In Artikel 7,§ 1 hieß es dazu sehr kurz gefasst: „JederTräger der Sozialversicherung hat einenLeiter. Die in den Gesetzen über die Sozialversicherung vorgesehenen Organe derVersicherungsträger fallen weg.“[19]
In der Unfallversicherung bedeutete dies,dass die Geschäfte der Versicherungsträgervon staatlich eingesetzten Leitern wahrgenommenwurden. Ein behördlicherseitsbestellter Beirat beriet diese in Fachfragen.Der Beirat bestand aus „Betriebsführern“,einem Vertreter der Ärzteschaft und der Gebietskörperschaften. Sein Einfluss bliebaber begrenzt.[20]
Ein großer Expertenkreis verblieb unbehelligtauf seiner Position im Reichsarbeitsamtund im Reichsversicherungsamt undarrangierte sich mit den neuen Machthabernund den neuen Strukturen.Ein Beispiel für die Unterordnung unter dasRegime lieferte der Verband der deutschengewerblichen Berufsgenossenschaften, der1935 in einer Denkschrift zum 50-jährigenBestehen der Unfallversicherung das Führerprinzipmit den Leitern beschönigendals „Neuen Geist der Selbstverwaltung“bezeichnete.[21]
Weitere Gesetzgebung und der Zweite Weltkrieg
Der Verlust der seit der Einführung im Kaiserreichbestehenden Selbstverwaltungdurch Arbeitgeber und Arbeitnehmerschaftführte indes nicht dazu, dass sich die Unfallversicherungnicht weiterentwickelte.Selbst im Krieg sollte es noch zu einer Ausdehnungdes Leistungsumfangs kommen.
Weitere repressive Eingriffe, die nun dieEmpfängerinnen und Empfänger vonRenten betrafen, erzeugte das 1936 erlassene„Gesetz über die Änderung einigerVorschriften der Reichsversicherung“. Esentzog die Renten bei staatsfeindlicher Betätigung.[22]
Eine Ausdehnung der Unfallversicherungbrachte die im selben Jahr eingeführte dritte Berufskrankheitenverordnung mit sich.Die Zahl der Berufskrankheiten stieg von 22auf 26, nun wurden unter anderem schwereAsbestosen entschädigt.[23]
Im Jahr 1939 weitete das „Fünfte Gesetzüber Änderungen in der Unfallversicherung“den Versichertenkreis auf SS- undSA-Angehörige aus und änderte den Versicherungsschutzbei bestimmten Details.[24]
Ein sechstes Änderungsgesetz erfolgte imKriegsjahr 1942. Es wirkte sich tiefgreifenderaus, da es die Einbeziehung allerBeschäftigten in allen Unternehmen vorsah,also eine pauschale Ausdehnung desVersicherungsschutzes bedeutete.[25]Diesestellte den Übergang von der Betriebsversicherunghin zu einer Personenversicherungdar.
Dieser Leistungsausbau im Krieg hatte –ebenso wie verschiedene andere Aufbesserungender Sozialleistungen – einen starkpropagandistischen Hintergrund zur Beruhigungder „Heimatfront.“[26]
Sehr kompatibel mit der nationalsozialistischenPolitik und Ideologie zeigte sichauch die seit Mitte 1925 angewandte Unfallverhütungspropaganda.Mit den hierentstandenen Medien und der spezifischenBildsprache ließen sich auch die politischenBotschaften der Nationalsozialistenin den Betrieb transportieren.[27]Unfallschutzwar zudem ein wichtiger Aspektfür eine funktionierende Kriegswirtschaft(siehe Abbildung 2). Sie wurde ausgebautund flächendeckend eingesetzt.
An dieser Stelle muss konstatiert werden,dass bezüglich der Unfallversicherung inder Zeit des Nationalsozialismus noch erheblicherForschungsbedarf besteht. Nichtnur die Abwicklung der Selbstverwaltung,sondern auch die Verwaltungs- und Entschädigungspraxisvor und im Krieg wieauch der Umgang mit Zwangsarbeit undKonzentrationslagern sowie die personellenKontinuitäten nach 1945 sind nochweitgehend unerforscht.

Kontinuität durch die Krisenzeiten?
Seit der Einführung der Reichsversicherungsordnungim Kaiserreich bis 1945blieben die Funktion und die Verfahrender Unfallversicherung größtenteils bestehen.Dies spricht grundsätzlich für einprinzipiell resilientes System, und dies obwohlnach der Machtergreifung 1933 einesder wichtigsten Legitimationsprinzipien,die Selbstverwaltung, als tragendes Konstrukteliminiert wurde. Erst nach 1945 solltedieses tragende Element erneuertwerden. Vermeintlichen Leistungsausdehnungen inder NS-Zeit steht entschieden eine bedeutende Einschränkung entgegen, nämlichder Ausschluss aller als staatsfeindlich und rassenideologisch ausgegrenzte Bevölkerungsgruppen,die auch in diesem KontextOpfer des Nationalsozialismus sind. Unterdieser Voraussetzung lässt sich in der NS-Zeitnur schwerlich von einer „Sozial“-Versicherungsprechen.
Fußnoten
-
DGUV Forum 1-2/2024
-
RGBl. 1919, S. 1414.
-
RGBl. 1922, S. 455–458.
-
RGBl. 1923, S. 1057–1062.
-
RGBl. 1923, S. 1063 f.
-
Knoll-Jung, S.: Vom Schlachtfeld der Arbeit – Aspekte von Männlichkeit in Prävention,Ursachen und Folgenbewältigung von Arbeitsunfällen in Kaiserreich und Weimarer Republik, Stuttgart 2021, S. 173–221; Knoll-Jung, S.: Vom Maschinenschutz zur Unfallverhütungspropaganda – Paradigmenwechselpräventiver Praktiken in der Unfallversicherung zur Zeit der Weimarer Republik. In: Hähner-Rombach, S. (Hrsg.): Geschichte der Prävention, Stuttgart 2015, S. 17–40.
-
Schürmann, C.: Die Regulierung der Silikose im Ruhrkohlenbergbau bis 1952 Staat, Unternehmen und die Gesundheit der Arbeiter, Wiesbaden 2011, S. 41–64.
-
Vgl. RGBl. 1931 S. 731.
-
Vgl. RGBl. 1927, S. 187–218.
-
Schmidt, M.: Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, Opladen 1998, S. 47–60.
-
Schmidt, M.: Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, Opladen 1998, S. 62 f.
-
Vgl. Frei, N.: Medizin und Gesundheitspolitikin der NS-Zeit, München 1991.
-
Vgl. DGUV: 125 Jahre gesetzliche Unfallversicherung,Berlin 2010, S. 54–56.
-
RGBl. 1933, S. 175–177.
-
RGBl. 1933, S. 277–283.
-
RGBl. 1933, S. 175.
-
Vgl. Schmidt M.: Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, Opladen 1998, S. 71.
-
RGBl. 1934. S. 577–580.
-
Ebd. S. 578.
-
Vgl. DGUV: 125 Jahre gesetzliche Unfallversicherung, Berlin 2010, S. 57.
-
Tänzler, F.: 50 Jahre Unfallversicherung. Eine Denkschrift, Berlin 1935, S. 52.
-
RGBl. 1936, S. 1128–1140.
-
RGBl. 1936, S. 1117–1120.
-
RGBl. 1939, S. 267–282.
-
RGBl. 1942, S. 107–115.
-
Schmidt M.: Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, Opladen 1998, S. 63.
-
Vgl. zu dieser Thematik: Schwoch, R.: Ein neuer Weg zur Leistungssteigerung der Betriebe. Unfallverhütungsbilder in der NS-Propaganda. In: Kuhn, J.; Göbel, E. (Hrsg.): Gesundheit als Preis der Arbeit? Gesundheitliche und wirtschaftliche Interessen im historischen Wandel, Frankfurt am Main 2003, S. 79–98.