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Ausgabe 7/2020

„Dritter Ort“ – nunmehr grenzenlos?

Neben der notwendigen Handlungstendenz der Versicherten „ist nicht zusätzlich … einschränkend zu fordern, dass der Weg zum Ort der Tätigkeit, den der Versicherte nicht von seinem Lebensmittelpunkt … aus angetreten hat, unter Berücksichtigung aller Umstände des jeweiligen Einzelfalles in einem angemessenen Verhältnis zu dem üblichen Weg zwischen dem häuslichen Bereich und dem Ort der Tätigkeit steht“.

§ BSG, Urteile vom 30.01.2020 – B 2 U 2/18 und 20/18 –, juris

Mit zwei Urteilen vom 30. Januar 2020 hat das Bundessozialgericht (BSG) seine Rechtsprechung zum sogenannten „Dritten Ort“ im Wegeunfallrecht geändert. Was ist ein „Dritter Ort“ und worum geht es hier?

Bei der Festlegung unfallversicherter Wege kennt § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII nur den Ort der Arbeitsstätte und versichert Wege, die zur Arbeitsstätte und wieder davon wegführen. Der andere Grenzort dieser Wege („zu Hause“) wird nicht genannt, woraus zu folgern ist, dass dieser andere Grenzort jeder andere Ort als „zu Hause“ sein kann; eben ein „Dritter Ort“. Damit das Ganze nicht aus dem Ruder läuft, stellen bisher zwei Anforderungen an den „Dritten Ort“. So wird zum einen verlangt, dass der tatsächliche oder geplante Aufenthalt am „Dritten Ort“ mindestens zwei Stunden beträgt, was damit zusammenhängt, dass bei einer privaten Unterbrechung versicherter Wege auch auf zwei Stunden abgestellt wird, ehe eine Lösung vom Unfallversicherungsschutz zu sehen ist. Diese Anforderung hat „gehalten“.

Bei der anderen Anforderung, der sogenannten Angemessenheitsklausel, wurde gefordert, dass der Weg vom oder zum „Dritten Ort“ in einem angemessenen Verhältnis zum üblichen Weg von oder nach „zu Hause“ steht. Hierbei wurde unter anderem auf Entfernung, Zeit und Unfallrisiko abgestellt sowie darauf, was am „Dritten Ort“ getan wurde oder getan werden sollte: war das rein privater Natur, war die Angemessenheitsprüfung eher streng; wurde oder sollte dagegen am „Dritten Ort“ mittelbar auch etwas Betriebsdienliches getan werden (zum Beispiel ein privater Arztbesuch – Gesundheit dient auch dem Betrieb), wurde großzügig geprüft. Feste Berechnungsgrößen gab es nicht. Damit bricht nun das BSG; es will bei Wegen nur noch auf die Handlungstendenz der Versicherten abstellen, die Arbeitsstätte zu erreichen oder zu verlassen. Die Entfernung des „Dritten Ortes“ von der Arbeitsstätte im Verhältnis von „zu Hause“ – egal wie groß – soll keine Rolle mehr spielen.

Während die betroffenen Versicherten „jubeln“ – sie hatten sich jeweils mehrere Stunden rein privat in einer fremden Wohnung aufgehalten, von der aus sie dann zur Arbeitsstätte fuhren (üblicher Weg zur Arbeit/Weg vom „Dritten Ort“ zur Arbeit – einmal 4,3 km/15,7 km und einmal 2 km/44 km) –, sollte die gesetzliche Unfallversicherung den Blick näher auf die Urteilsbegründung richten und fragen, welche Folgen, welche Fragen sich daraus ergeben.

Das BSG stellt allein auf Wege vom „Dritten Ort“ zur Arbeitsstätte ab und bemüht hier bei der Handlungstendenz – soweit ersichtlich – erstmals das Phänomen einer gemischten Motivationslage; die Versicherten hätten bei ihrem Weg zwei subjektive Ziele: einerseits das betriebliche Ziel, die Arbeitsstätte zu erreichen; andererseits das private Ziel, einen Besuch zu beenden. Das Ganze sei aber versicherte Tätigkeit, weil objektiv eine versicherungsbezogene Handlungstendenz zu erkennen sei (die Arbeitsstätte soll pünktlich erreicht werden, was auch ohne den privaten Besuch notwendig gewesen wäre). Schön und gut: Aber was ist mit Wegen von der Arbeitsstätte zum „Dritten Ort“? Wo ist hier die betriebsbezogene Handlungstendenz, wenn jemand zum Beispiel von der Arbeitsstätte in ein weit entferntes Kino fährt, um dort den Film „Titanic“ zu sehen, der weit mehr als zwei Stunden dauert? Soll es hier keinen Versicherungsschutz geben? Will das BSG in Zukunft unterscheiden zwischen Wegen vom „Dritten Ort“ und zu ihm hin?

Wesentlicher Aspekt der Abkehr des BSG von der Angemessenheitsklausel war, dass diese gar nicht im Gesetz zu finden sei. Es sei vor dem Hintergrund des Vorbehalts des Gesetzes (vgl. § 31 SGB I) weder erlaubt, diese als ungeschriebenes negatives Tatbestandsmerkmal zulasten der Versicherten zu berücksichtigen, noch sei dies im Wege einer sogenannten teleologischen Reduktion des weiteren Wortlauts des § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII möglich, weil es hier an einer planwidrigen Lücke im Gesetz fehle. Das „zu Hause“ und der „Dritte Ort“ seien gleich zu behandeln. Auch das hört sich zunächst gut an, hakt aber an einer Stelle: Wieso fordert die gesetzliche Unfallversicherung dann noch einen mindestens zweistündigen Aufenthalt am „Dritten Ort“? Hiervon steht auch nichts im Gesetz. Im Gesetz steht bekanntlich gar nichts. Wenn der „Dritte Ort“ wirklich mit „zu Hause“ gleichgestellt werden soll, dann müsste auch die Zwei-Stunden-Grenze fallen – oder?

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