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Ausgabe 12/2024

Neurodiversität: Vielfalt in der Arbeitswelt leben

Gegenüber neurodivergenten Menschen bestehen häufig Vorurteile. Die Kommunikation kann zu Missverständnissen führen. Dabei kann die Arbeitswelt von neurodivergenten Menschen profitieren, wenn ihre besonderen Fähigkeiten berücksichtigt werden. Es ist wichtig, Vielseitigkeit anzuerkennen, zu informieren und zu sensibilisieren.

Key Facts

  • Professor Dr. Dirk Windemuth vom Institut für Arbeit und Gesundheit der DGUV (IAG) ist Psychologe und widmet sich unter anderem den Themen psychische Belastung, Sicherheit und Gesundheit sowie Arbeitsgestaltung der Zukunft. Im Interview beantwortet er Fragen zu Neurodiversität in der Arbeitswelt.

Herr Windemuth, der Begriff Neurodiversität taucht in letzter Zeit immer öfter auf. Bitte erklären Sie uns, was er bedeutet.

Windemuth: Neurodiversität bedeutet neurologische Vielfalt. Man erkennt damit an, dass Menschen in ihrer psychologischen und neurologischen Entwicklung unterschiedlich, also divers sind. Der Begriff wurde von der Autistin Judy Singer in den 1990er-Jahren geprägt.[1]Er soll dazu beitragen, dass beispielsweise Autistinnen und Autisten oder Menschen mit ADHS nicht als krank angesehen werden, sondern als „anders als die meisten Menschen“. Neurodivergente Menschen verarbeiten Reize einfach anders als neurotypische Menschen, also Menschen, deren Wahrnehmung den gesellschaftlichen Erwartungen entspricht.

Was verändert sich durch diese neue Sichtweise?

Windemuth: Das schafft ein völlig neues Verständnis für neurodivergente Menschen. Um es mit den Worten von Dirk Müller-Remus, Gründer der Firma auticon, auszudrücken: „Autismus ist kein Systemfehler, sondern ein anderes Betriebssystem.“[2]Das gilt auch für andere neurodivergente Ausprägungen und mag sich vielleicht nur wie ein Sprachspiel anhören. Dahinter steckt aber viel mehr. Gesellschaftlich müssen wir akzeptieren, dass es nicht nur die eine neurobiologisch richtige Entwicklung gibt. Aus Sicht der Unternehmen können wir mit diesem Verständnis viel einfacher die Perspektive auf die besonderen Fähigkeiten lenken, die neurodivergente Menschen mitbringen. Davon profitieren alle – die Neurotypischen und die Neurodivergenten.

Prof. Dr. Dirk Windemuth, Direktor des Instituts für Arbeit und Gesundheit der DGUV (IAG) | © Stephan Floss/DGUV
Prof. Dr. Dirk Windemuth, Direktor des Instituts für Arbeit und Gesundheit der DGUV (IAG) © Stephan Floss/DGUV

Welche Formen von Neurodivergenz gibt es?

Windemuth: Diese Frage ist zwar wichtig, aber auch kritisch. In der Regel werden darauf Antworten gegeben, die aus einem Denken in den Kategorien gesund versus krank resultieren und verschiedene Diagnosegruppen benennen. Der Begriff Neurodiversität umfasst jedoch alle Varianten neurologischer Gegebenheiten, die von Geburt an bestehen oder genetisch angelegt sind, die neurotypischen und die neurodivergenten. Neurotypisch sind Menschen, deren Wahrnehmung den gesellschaftlichen Erwartungen entspricht. Neurodivergent sind zum Beispiel Autistinnen und Autisten, Menschen mit ADHS, Legasthenie, Akalkulie oderHochbegabung. Sie verarbeiten Reize anders. Neurologische Veränderungen nach Unfällen oder Erkrankungen fallen nicht unter den Begriff Neurodiversität.

Bei ADHS denken viele an zappelnde Kinder, bei Hochbegabung an Professorinnen und Professoren – welche Missverständnisse und Vorurteile gibt es häufig gegenüber neurodivergenten Personen?

Windemuth: Ja, ADHS wurde oft als Zappelphilipp-Syndrom bezeichnet. Mittlerweile weiß man aber, dass ADHS vielseitigeSymptome umfasst. Der etwas abfällige Begriff verdeutlicht aber zwei richtige Dinge: Menschen mit ADHS sind oftmals motorisch unruhig (das „H“ in ADHS steht für Hyperaktivität) und suchen die Spannung, den Kick, oftmals mit Risikoverhalten verbunden. Die Hyperaktivität ist oft bei Kindern ausgeprägter als bei Erwachsenen. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Gerade die Hyperaktivität und die Risikosuche sind bei Mädchen seltener ein Symptom von ADHS als bei Jungen. Das Bild vom Zappelphilipp führt dazu, dass ADHS bei Mädchen häufiger übersehen wird. Der Begriff ist außerdem nicht wertschätzend. Er versperrt den Blick auf besondere Fähigkeiten besonderer Menschen.

Hochbegabte haben als Kinder oft das Problem, dass sie nicht als solche erkannt werden. Sie werden dann unterfordert und ihre gleichaltrigen Spielkameraden sind für sie langweilig. Daraus resultieren zuweilen soziale Probleme und die Kinder gelten als schwierig.

Personen mit einer autistischen Symptomatik verstehen häufig keine Satire und Ironie und können Mimik schwer oder gar nicht deuten. Das erschwert die Kommunikation. Das Gegenüber empfindet die Reaktion als merkwürdig, was zu Missverständnissen oder Konflikten führen kann.

Allen gemeinsam ist, dass sie in ihrem Verhalten als auffällig gelten und schnell mit Vorurteilen versehen werden. Das kann eine Kindheit und Jugend massiv beeinträchtigen und auch den späteren beruflichen Werdegang beeinflussen.

Wie können wir Missverständnisse und Vorurteile abbauen?

Windemuth: Gegen Vorurteile helfen immer positive Erfahrungen mit neurodivergenten Menschen. In Betrieben müssen Führungskräfte diese ermöglichen. Gesellschaftlich müssen wir alle zusammen für eine Enttabuisierung sorgen, informieren und sensibilisieren.
Noch immer versuchen neurodivergente Menschen, ihr Anderssein zu verheimlichen – sehr oft aus berechtigter Angst vor Vorurteilen und Stigmatisierung. Und wir müssen auch bei diesem Thema die sozialen Medien im Blick behalten. Eine Studie aus dem Jahr 2022 belegt zum Beispiel, dass mehr als 50 Prozent der 100 am häufigsten gesehenen TikTok-Videos über ADHS irreführende Informationen beinhalten.[3]

Warum ist es wichtig, Neurodiversität am Arbeitsplatz zu berücksichtigen?

Windemuth: Neurodiversität in der Arbeitswelt zu berücksichtigen, bedeutet, Vielfalt zu leben, und Vielfalt bereichert eine Belegschaft oder ein Team. Für spezielle Aufgaben können die besonderen Fähigkeiten jeder oder jedes Einzelnen genutzt werden. Viele neurodivergente Menschen arbeiten ohnehin in Betrieben, oftmals unerkannt. Wüsste man von ihren Besonderheiten, könnte man sie gezielt fördern, sodass ihre Stärken zur Geltung kommen.

Können Sie das an einem Beispiel verdeutlichen?

Windemuth: Menschen mit ADHS sind beispielsweise oft sehr kreativ und innovativ, denn sie haben andere Denkweisen und schauen über den Tellerrand hinaus. An Dingen, die sie interessieren, arbeiten sie meist extrem konzentriert, intensiv und kreativ. So können für sie beispielsweise Berufe im Bereich Journalistik, Design oder in einigen Handwerksbereichen gut sein. Dabei können sie ihre kreativen Fähigkeiten gewinnbringend zur Problemlösung oder Gestaltung einsetzen. Sie haben für Betriebe also sehr viel Potenzial, das genutzt werden sollte. Werden sie aber falsch eingesetzt, beispielsweise an Orten mit vielen Ablenkungen oder starker Routine, arbeiten sie nicht nur fehlerhafter, sie werden auch unzufriedener, fühlen sich unwohl und können den Betrieb verlassen. Andersherum: Sie sind eine echte Chance für Betriebe, nicht nur, wenn diese vom Arbeits- oder Fachkräftemangel betroffen sind.

Welche Herausforderungen könnten neurodivergente Personen in der Arbeitswelt erleben?

Windemuth: Neurodivergente Menschen werden oft mit den schon erläuterten Vorurteilen konfrontiert. Es kann aber auch sein, dass Konflikte aus Unwissen entstehen. Die Unruhe hyperaktiver Menschen kann nerven – kann aber auch Ausdruck dessen sein, dass sie Aufgaben haben, die für sie nicht geeignet sind. Führen Missverständnisse zu Konflikten im Team und beeinträchtigen das Betriebsklima, ist das möglicherweise ein Zeichen für eine unzureichende Vorbereitung des Arbeitsplatzes auf Beschäftigte mit entsprechenden Besonderheiten. Es sind also vor allem Führung und der richtige Personaleinsatz maßgeblich dafür, ob neurodivergente Menschen sich wohlfühlen und ihre Stärken einbringen können oder ob sich die Vorurteile bestätigen, sie weniger leisten und bald eine neue Beschäftigung in einem anderen Betrieb suchen.

Heißt das, Sie würden neurodivergenten Menschen empfehlen, offen mit ihrem Anderssein umzugehen?

Windemuth: Das kann man nicht pauschal beantworten. Es hängt von den persönlichen Umständen und vom Arbeitsumfeld ab, inwieweit ein Mensch sich öffnen will und kann. Was ich sagen kann: Ein offenes, wertschätzendes Umfeld erleichtert es den Menschen, über sich zu sprechen – nicht nur im Zusammenhang mit Neurodiversität.

Können Sie ein Beispiel nennen, wie Unternehmen von einer neurodiversen Belegschaft profitieren?

Windemuth: Es gibt Betriebe, insbesondere in der IT-Branche, die gezielt Autisten und Autistinnen einstellen. Das ist genial, denn mit ihren herausragenden kognitiven Fähigkeiten in Logik, Analyse, Detailgenauigkeit, Fehler- und Mustererkennung schaffen die Autisten und Autistinnen einen besonderen Mehrwert für Unternehmen, etwa bei komplexen systematischen oder bei naturwissenschaftlich ausgerichteten Aufgaben. Gleichzeitig wird der schlechten Beschäftigungsquote unter den Autistinnen und Autisten und dem Fachkräftemangel entgegengewirkt. Das zeigt an nur einem Beispiel, wie massiv die Vorteile für Betriebe und neurodivergenteBeschäftigte sein können, und bestätigt: Gute Inklusion ist für alle Menschen und Betriebe vorteilhaft.

Das Interview führten Katrin Wildt und Stefan Boltz.

 

Fußnoten

  1. Chapman, R. (2020): The reality of autism: On the metaphysics of disorder and diversity. In: Philosophical Psychology, 33(6), S. 799–819, https://research-information.bris.ac.uk/ws/portalfiles/portal/241133636/Reality_of_autism_final_edit.pdf (abgerufen am 20.09.2024).

  2. auticon Deutschland GmbH: https://auticon.com/de/ (abgerufen am 20.09.2024).

  3. Yeung, A.; Ng, E.; Abi-Jaoude, E. (2022): TikTok and Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder: A Cross-Sectional Study of Social Media Content Quality. In: The Canadian Journal of Psychiatry, 2022, 67(12), S. 899–906, doi:10.1177/07067437221082854.

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