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Ausgabe 11/2025

Ermittlung psychischer Belastung von Kindern unter drei Jahren in Kitas

Ein neuartiges Verfahren ermöglicht die Ermittlung der psychischen ­Belastung von Kindern unter drei Jahren in Kindertageseinrichtungen (Kitas). Durch die Umsetzung der aus der Anwendung abgeleiteten Maßnahmen kann langfristig das Wohlbefinden von Kindern sichergestellt und so ihre Gesundheit gefördert werden.

Key Facts

  • Auch für die Versichertengruppe der Kinder ist die Berücksichtigung der psychischen Belastung bei der Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung vorgeschrieben
  • Nach Abschluss eines DGUV-Forschungsprojektes liegt dazu jetzt ein wissenschaftlich fundiertes Verfahren für unter dreijährige Kinder in Kitas vor
  • Dieses Verfahren kann Eingang in die Beratung von Aufsichtspersonen finden

Die Auseinandersetzung mit dem kindlichen Wohlbefinden in der Kindertagesbetreuung ist ein wichtiger Aspekt in der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung, denn sie legt den Grundstein für eine gesunde Entwicklung. Die Förderung und die Sicherung des kindlichen Wohlbefindens wirken sich langfristig auf die sozialen und emotionalen Kompetenzen sowie auf die psychische Gesundheit von Kindern aus.

Die DGUV Vorschrift 1 „Grundsätze der Prävention“ bietet in Verbindung mit dem Arbeitsschutzgesetz die rechtliche Grundlage, um Gefährdungen für die Versichertengruppe der Kinder in Kitas zu erfassen und, wenn ein Vermeiden nicht möglich ist, präventive Maßnahmen – technische, organisatorische oder personenbezogene – zu entwickeln und umzusetzen.[1] [2] Das bedeutet, dass Träger von Kitas in der Pflicht sind zu prüfen, welchen verschiedenen Arten von Gefährdungen Kinder während des Besuchs von Tageseinrichtungen ausgesetzt sind. Eine Art der Gefährdung, die im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung berücksichtigt werden muss, ist die der psychischen Belastung. Für Kinder können dies zum Beispiel sein: eine hohe Personalfluktuation in der Einrichtung, elterlicher Stress und die Art der Stressverarbeitung bedingt durch das Alter des Kindes, eine hohe Lärmbelastung oder eine andere Umgebungssprache als die Muttersprache.[3] Kinder unter drei Jahren gelten in diesem Zusammenhang als besonders vulnerable Zielgruppe: weil sie einerseits noch nicht in der Lage sind, ausreichend verbal zu kommunizieren; andererseits sind sie wegen ihres Entwicklungsstandes grundsätzlich besonders verletzlich.

Psychische Belastung ermitteln

Herkömmliche Verfahren zur Ermittlung der psychischen Belastung sind Fragebögen, Beobachtungsinterviews, moderierte Gruppendiskussionen oder Analyseworkshops. Für Kinder unter drei Jahren sind diese Methoden nicht geeignet. Wie kann eine psychische Belastung für diese Zielgruppe also ermittelt werden? An dieser Stelle setzt das von der DGUV geförderte Forschungsprojekt 0453 „Psychische Belastungen und Beanspruchungen von Kleinkindern in der institutionellen Kinder­tagesbetreuung: Entwicklung und Erprobung einer beobachtungsbasierten Gefährdungsbeurteilung“ an. Im Rahmen des an der Universität Leipzig durchgeführten Projekts wurde ein wissenschaftlich fundiertes Beobachtungsverfahren entwickelt, mithilfe dessen eine Potential- und Gefährdungsbeurteilung zur Ermittlung der psychischen Belastung von Kindern unter drei Jahren durchgeführt werden kann.

Wohlbefinden als Ausgangs- und Zielperspektive

Kindliches Wohlbefinden gilt dabei als Ausgangs- und Zielpunkt der Betrachtungsweise. Für die Gewährleistung von Wohlbefinden – hier als idealer Zielzustand von Kindern zu verstehen – gibt es mit dem Sozialgesetzbuch VIII und der Kinderrechtskonvention entsprechende verpflichtende Vorgaben. Zusätzlich sind die Sicherung und die Förderung des kindlichen Wohlbefindens Aufgabe und Kern der täglichen pädagogischen Arbeit. Je wohler sich Kinder in einer Tageseinrichtung fühlen, desto erfolgreicher können Bildungsprozesse gelingen. Kinder unter drei Jahren sind in Tageseinrichtungen täglich mit Herausforderungen auf verschiedensten Ebenen konfrontiert und lernen und entwickeln sich durch die Bewältigung dieser fort. Die Beziehung zu anderen Kindern, pädagogischen Fachkräften und Eltern unterstützt sie dabei in ihren Entwicklungsaufgaben. Übersteigen die Herausforderungen die kindlichen Bewältigungsstrategien, werden diese zu Belastungen. Solche Belastungen des kindlichen Wohlbefindens können sowohl ­zur Aktivierung von Potentialen beitragen und sich als entwicklungsfördernd herausstellen aber auch zur Überforderung ­werden und somit das Wohlbefinden gefährden.[4] Negative ­Beanspruchungen des kindlichen Wohlbefindens können die kognitive, emotionale und soziale Entwicklung von Kindern beeinträchtigen. Positive Beanspruchungen des kindlichen Wohlbefindens können langfristig das Selbstvertrauen, die Selbstwirksamkeit und die Kompetenzen der Kinder stärken und somit ihre Resilienz fördern.

Je wohler sich Kinder in einer Tageseinrichtung fühlen, desto erfolgreicher können Bildungs­prozesse gelingen.

In dem vorliegenden Beobachtungsverfahren wird das kindliche Wohlbefinden in drei verschiedenen Dimensionen betrachtet:

Die biologische (körperliche) Dimension bezieht sich auf die körperliche Zufriedenheit und den emotionalen Ausdruck. Zum Beispiel: Wie wirkt das Kind? Wirkt es körperlich angespannt, zufrieden, interessiert oder traurig? Zeigt das Kind Freude an Bewegung oder sinnlichen Erfahrungen?

Die psychische (seelische) Dimension bezieht sich auf die Gesichtspunkte Selbstwertgefühl, Selbstwirksamkeit/Handlungskontrolle, Aktivierung von Bildungspotentialen. Zum Beispiel: Wirkt das Kind stolz, wenn es etwas geschafft hat? Signalisiert das Kind seine Bedürfnisse (auch nonverbal)? Wirkt das Kind neugierig und interessiert an Spielangeboten?

Die soziale Dimension bezieht sich auf die emotionale Sicherheit im Umgang mit den Fachkräften und den anderen Kindern sowie die soziale Teilhabe und Beteiligung. Zum Beispiel: Sucht und erlebt das Kind körperliche und emotionale Zuwendung durch Fachkräfte oder andere Kinder bei Kummer oder Überforderung? Nimmt das Kind Kontakt zu anderen Kindern auf?

Potential- und Gefährdungsbeurteilung

Von einer Potential- und Gefährdungsbeurteilung wird gesprochen, um zu verdeutlichen, dass das Ziel der Gefährdungsbeurteilung auch das Erkennen von Potentialen ist. Das Verfahren wurde als „Zwiebelmodell“[5] entwickelt, da sich das kindliche Wohlbefinden auf drei verschiedenen Ebenen einer Kita erfassen lässt.

Der äußere Ring (hellblau in der Grafik) bezieht sich auf die Analyse der organisationalen Ebene und beleuchtet die Rahmenbedingungen der Einrichtung. Zum Beispiel: Raumgestaltung, Abläufe, Spielsituationen, Organisation und Strukturierung. Diese Rahmenbedingungen sollen möglichst einmal pro Halbjahr, mindestens aber einmal im Jahr analysiert werden. Veranschlagt werden dafür je nach Intensität der Auseinandersetzung etwa 4 bis 8 Stunden für die gesamte Einrichtung.

Zwiebelmodell: Kultureller und gesellschaftlicher Kontext
Abbildung 1: „Zwiebelmodell“[6] | Quelle: WOGE, Universität Leipzig

Der mittlere Ring (blau) bezieht sich auf die Analyse der oben genannten Rahmenbedingungen der Einrichtung je Kind. Auch diese Betrachtung soll möglichst einmal pro Halbjahr, mindestens aber einmal im Jahr durchgeführt werden. Veranschlagt werden dafür je nach Intensität der Auseinandersetzung etwa 40 bis 60 Minuten pro Kind. Ein nachgehender Austausch im Team wird empfohlen.

Der innere Ring (dunkelblau) bezieht sich auf die einzelne subjektive und situative Beobachtung des individuellen kindlichen Wohlbefindens im pädagogischen Alltag und wird dabei in den drei oben genannten Dimensionen des kindlichen Wohlbefindens dokumentiert. Diese Beobachtung soll situationsunabhängig mindestens zweimal jährlich durchgeführt werden. Zusätzlich kann eine Erfassung auch anlassbezogen erfolgen, zum Beispiel bei veränderter familiärer Situation oder Wechsel der Bezugsfachkraft. Veranschlagt werden dafür etwa 30 Minuten pro Kind.

In Anlehnung an die Empfehlungen der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) zur Berücksichtigung ­psychischer Belastung in der Gefährdungsbeurteilung wurden dabei für den äußeren und den mittleren Ring fünf von sechs Gestaltungsbereiche festgelegt: Umgebung, Mittel, Aufgabe/Inhalt, Organisation und Soziale Beziehungen. Die Gestaltungsbereiche Umgebung und Mittel werden hier zusammengefasst. Der sechste Gestaltungsbereich Arbeitszeit findet keine Anwendung.[7]

Für die Auswertung stehen Bögen zur Verfügung, die sich in eine teambezogene (äußerer Ring) und eine kindbezogene ­Perspektive (mittlerer und innerer Ring) aufteilen. Die team­bezogenen Beobachtungen werden in einer Übersichtsmatrix zusammengefasst, sodass deutlich wird, wo Potentiale (Ressourcen) und wo Handlungsbedarfe (Gefährdungen) liegen. Eine Teambesprechung eignet sich gut, um eine entsprechende Reflexion durchzuführen. Die kindbezogenen Erkenntnisse werden anhand von Reflexionsfragen durch die beobachtende Fachkraft ausgewertet.

Eine ausführliche Handreichung gibt einen sehr guten Überblick über den gesamten Prozess und beantwortet weitergehende Fragen.

Auf der Grundlage von Beobachtungen kann mit dem neu ­entwickelten Instrument anhand von Merkmalen kindlichen Wohl­befindens nun eine mögliche psychische Belastung erkannt werden. Insgesamt dient die Potential- und Gefährdungsbeurteilung dazu:

  • Gefährdungen, Herausforderungen und Potentiale der ­Kinder in Bezug auf bio-psycho-soziales Wohlbefinden zu beschreiben
  • Merkmale von kindlichem Wohlbefinden und Risikofaktoren einschätzbar zu machen
  • Pädagogische Fachkräfte darin zu unterstützen, das Wohl­befinden von Kindern sicherzustellen und Gefährdungen zu minimieren
  • Veränderungen und Handlungsbedarfe sichtbar zu machen
  • Reflexion des eigenen Handelns bei pädagogischen Fach­kräften anzuregen
  • Kenntnisse und Wissensbestände über die Dimensionen kindlichen Wohlbefindens zu erweitern

Vorteile für Kindertageseinrichtungen

Mit diesem beobachtungsbasierten Verfahren zur Ermittlung psychischer Belastung können Kitas:

  • das aktuelle subjektive Wohlbefinden von Kindern differenziert beobachten und auf dieser Bewertungsgrundlage eine Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung erstellen
  • vorhandene Rahmenbedingungen und ihre Wirkungen auf das Wohlbefinden der betreuten Kinder systematisch einschätzen und mögliche Maßnahmen festlegen
  • die gewonnenen Erkenntnisse als Grundlage für die Verstetigung, Veränderung oder Entwicklung ihrer pädagogischen Strukturen und Prozesse nutzen

Die Anwendung des Instruments hilft Kindertageseinrichtungen gleich drei fachliche Anforderungen in der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung zu erfüllen:

  • Qualitätssicherung und -entwicklung
  • von außen gestellte Dokumentationspflichten
  • Berücksichtigung der psychischen Belastung für Kinder ­unter drei Jahren in der Gefährdungsbeurteilung

Zudem kann das Instrument bei Elterngesprächen unterstützen.

Vorteile für Aufsichtspersonen

Aufsichtspersonen erhalten grundlegende Informationen zu einem neuartigen wissenschaftlich fundierten Instrument und können während ihrer Beratungstätigkeit den Trägern und Mitarbeitenden von Kitas konkret aufzeigen, wie die psychische Belastung der Kinder unter drei Jahren in der Gefährdungsbeurteilung berücksichtigt werden kann.

Informationen und Materialien

Die Materialien stehen kostenfrei zur Verfügung. Das DGUV-Sachgebiet „Kinder­tageseinrichtungen und Kindertagespflege“ hat dazu die erläuternde DGUV Information 202-123 „Potential- und Gefährdungs­beurteilung psychischer Belastung von Kindern unter drei Jahren in Kinder­tages­einrichtungen“ veröffentlicht. In der Publikationsdatenbank sind alle zugehörigen Anlagen zu finden (ausführliche Hand­reichung zur weiter­führenden Erläuterung, Er­fassungsbögen, Auswertungs­bögen, flankierendes Erklär­video). Darüber hinaus sind auf der Website des Sachgebietes weiter­führende Informationen veröffentlicht.

Fußnoten

  1. Gesetz über die Durchführung von Maßnahmen des Arbeitsschutzes zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Beschäftigten bei der Arbeit (ArbSchG), 2024

  2. Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e.V. (DGUV), DGUV Vorschrift 1, Unfallverhütungsvorschrift „Grundsätze der Prävention“, 2013

  3. Rölli Siebenhaar, Marianne, Lecon, Smilla, Scholz, Nadine & Viernickel, Susanne „Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung von Kindern unter drei Jahren in Kindertageseinrichtungen“, Handreichung, 2024

  4. Rölli Siebenhaar, Marianne, Lecon, Smilla, Scholz, Nadine & Viernickel, Susanne „Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung von Kindern unter drei Jahren in Kindertageseinrichtungen“, Handreichung, 2024

  5. Zwiebelmodell: das Wohlbefinden von Kindern in einer Tageseinrichtung wird auf drei Ebenen (Schichten) erfasst, um unterschiedliche Aspekte von Wohlbefinden differenziert zu beobachten.

  6. Rölli Siebenhaar, Marianne, Lecon, Smilla, Scholz, Nadine & Viernickel, Susanne „Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung von Kindern unter drei Jahren in Kindertageseinrichtungen“, Handreichung, 2024

  7. Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie (GDA), „Gestaltungsbereiche und -ziele“, 2025

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