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Ausgabe 10/2025

Versicherungsschutz des Vorsitzenden eines gemeinnützigen Vereins

Beim Aussteigen und Entladen von Zelten aus einem Bus des Pfadfindervereins ist der Vorsitzende als ehrenamtlich in der Wohlfahrtspflege Tätiger nach § 2 Abs. 1 Nr. 9 SGB VII versichert.

Der Kläger ist Vorsitzender („Stammesmeister“) eines eingetragenen gemeinnützigen Pfadfindervereins, für den die beklagte Verwaltungs-Berufsgenossenschaft mit bestandskräftigem Bescheid vom 11.02.2022 rückwirkend ihre Zuständigkeit festgestellt hatte. Nach seiner Satzung bezweckt der Verein „zur positiven Entwicklung junger Menschen beizutragen“, und verfolgt gemeinnützige, jugendpflegerische Ziele – vorwiegend durch wöchentliche Gruppenstunden, mehrmalige jährliche Pfadfindertouren und -fahrten, die Fortbildung von Personen in Leitungspositionen sowie durch die Instandhaltung vereinseigener oder gemieteter Gegenstände.

Beim Aussteigen aus dem vereinseigenen Bus, um das geladene Zeltmaterial einer Dichtigkeitsprüfung und Reparatur zu unterziehen, rutschte der Vorsitzende auf Glatteis aus. Das Bundessozialgericht (BSG) wies den Rechtsstreit zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts an die Vorinstanz zurück, da die Verursachung eines Gesundheitsschadens nicht festgestellt worden war. Im Gegensatz zu den Vorinstanzen bejahte der Senat hingegen eine ehrenamtliche Tätigkeit in der Wohlfahrtspflege, die er in diesem Zusammenhang ausführlich definierte. Sie umfasse Tätigkeiten der allgemeinen Jugendhilfe, die am Wohl von Kindern und Jugendlichen orientiert sei und darauf abziele, junge Menschen in ihrer persönlichen, sozialen und gesellschaftlichen Entwicklung zu fördern.

Ein solches weites Verständnis des Begriffs der Wohlfahrtspflege, der nicht auf spezifisch gefährdete und besonders schutzbedürftige Personen begrenzt sei, leitet der Senat aus dem Begriffspaar Gesundheitswesen und Wohlfahrtspflege ab, die das gesamte Spektrum der sozialen Arbeit erfassen. Während Gesundheitswesen medizinisch ausgerichtet sei, trage der Begriff Wohlfahrtspflege sprachlich als auch inhaltlich die Idee der Fürsorge und des Einsatzes für das Wohl anderer in sich und verbinde die historische Tradition der Sozialfürsorge (Caritas) durch die Kirchen („christliche Wohlfahrt“) und die außerkonfessionelle Selbsthilfe („Arbeiterwohlfahrt“) mit den modernen Strukturen des Sozialstaats.

Grundsätzlich erstrecke sich der Begriff auf sämtliche Menschen in allen Lebensphasen und damit auch auf die Kinder- und Jugendhilfe, die auch nach der Satzung der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) Wohlfahrtspflegeunternehmen, die in der Kinder- und Jugendhilfe Pflege-, Hilfe- und Betreuungsdienste anbieten und entsprechende Einrichtungen unterhalten, versichert. Entsprechendes ergebe sich aus den im Sozialgesetzbuch (SGB) VIII aufgezählten klassischen Aufgaben und Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe, zu denen unter anderem die Jugendarbeit in Spiel, Sport und Geselligkeit (§ 11 Abs. 3 Nr. 2 SGB VIII) sowie die Kinder- und Jugenderholung (§ 11 Abs. 3 Nr. 5 SGB VIII) zählten.

Im Zentrum steht ein Tätigsein von Personen, „…die selbst Aufgaben der Jugendhilfe erfüllen und persönlich dazu beitragen, die Entwicklung junger Menschen zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschafts­fähigen Persönlichkeit zu fördern“.

Persönliche Eigenschaften, die für den Versicherungsschutz nach § 2 Abs. 1 Nr. 9 SGB VII sprechen, formuliert der Senat darüber hinaus in der eigenen Wahrnehmung von Aufgaben der Jugendhilfe sowie der Gemeinnützigkeit und erforderlichen Eignung der versicherten Personen. Dies bejahte das Gericht ebenfalls, da der Kläger als Vorsitzender persönlich dazu beitrage, die Entwicklung junger Menschen zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu fördern. Er war für ein als gemeinnützig anerkanntes Unternehmen unentgeltlich tätig, und weder Gegenteiliges aus seinem Verhalten noch sonstige Gründe sprächen dagegen, dass er im Sinne des Grundgesetzes Jugendhilfe als umfassenden Erziehungsauftrag begreift und junge Menschen befähigen möchte, ihre Anlagen und Fähigkeiten zu entwickeln, ihre Persönlichkeit zu entfalten, die Würde Anderer zu achten und ihre Pflichten gegenüber Mitmenschen in Familie, Gesellschaft und Staat zu erfüllen. Aus der engeren Definition der Wohlfahrtspflege in § 66 Abs. 2 Abgabenordnung (AO) als „ausgeübte Sorge für notleidende oder gefährdete Mitmenschen“ folge nichts anderes, da für das Sozialversicherungs- recht die sozialrechtlichen Konkretisierungen im SGB VIII und nicht das Steuerrecht maßgeblich seien. Auch nach der Auseinandersetzung mit der Historie des Begriffs in anderen Kontexten und der Senatsrechtsprechung hält das Gericht ein weites Verständnis des Begriffs für geboten. Denn der Sinn und Zweck des Versicherungsschutzes für Tätigkeiten im Gesundheitswesen und der Wohlfahrtspflege bestehe darin, das im öffentlichen Interesse liegende und dem Wohl der Allgemeinheit dienende gesellschaftliche Engagement im Bereich der sozialen Arbeit zu honorieren und die damit verbundenen Gefährdungsrisiken (insbesondere Infektionsgefahren) auszugleichen. Damit hat der Senat alle vier Auslegungsmethoden (Wortlaut, Systematik, Historie sowie Sinn und Zweck der Vorschrift) für die Auslegung des Begriffs Wohlfahrtspflege und Zurechnung der Tätigkeiten eines Pfadfindervereins zugrunde gelegt.

Da der Kläger auch ehrenamtlich und ohne Entlohnung tätig war, bestand grundsätzlich für ihn in Ausübung seiner Tätigkeit als Vorsitzender Unfallversicherungsschutz nach § 2 Abs. 1 Nr. 9 SGB VII. Dieser abstrakt-generellen Tätigkeit war das konkrete Handeln (Aussteigen aus dem Pfadfinderbus und Abladen von Zeltmaterial) wertend zuzurechnen.

Im Grundsatz mutet es etwas verwunderlich an, dass die Vorinstanzen offensichtlich einem engeren Begriffsverständnis nachhingen und die Pfadfinderbewegung nicht der Wohlfahrtspflege zuzurechnen vermochten. Es liegt augenscheinlich daran, dass sich das BSG in der Vergangenheit für den Begriff der Wohlfahrtspflege vorrangig an der besonderen Schutzbedürftigkeit der betreuten Personen und weniger der institutionellen Einbindung in einer Einrichtung orientiert hatte und man eine solche dem Vereinszweck nicht entnommen hatte (BSG, Urteil vom 31. Januar 2021 – B 2 U 3/11 R – juris, Rn. 18; BSG, Urteil vom 26. Juni 1985 – 2 RU 79/84 – juris, Rn. 16). Pädagogische Jugendarbeit als solche wollte man nicht dazu zählen.

Damit reiht sich diese Entscheidung in eine Serie von Entscheidungen zu einem weiten Begriffsverständnis beim Unfallversicherungsschutz im Ehrenamt ein (Elternbeirat: BSG, Urteil vom 5.12.2023 – B 2 U 10/21 R; Chorsänger: Urteil vom 8.12.2022 – B 2 U 19/20 R; DRK-Ortsvereinsvorsitzender: Urteil vom 8.12.2022 – B 2 U 14/20 R; Tagesmutter: BSG, Urteil vom 31.01. 2012 − B 2 U 3/11 R). Dort wurde jeweils aus dem gemeinwohlorientierten Zweck der Tätigkeit sowie uneigennützigem Handeln ein Unfallversicherungsschutz abgeleitet, ohne dass den weiteren Motivationslagen wie Freude am Singen oder gesellschaftliche Anlässe oder auch der Erfüllung mitgliedschaftlicher Verpflichtungen maßgebliche Bedeutung beigemessen wurde.

Der Senat hat sich im vorliegenden Fall jedoch (was die Ausführlichkeit der Entscheidungsbegründung auf 9 Seiten/PDF-Format zeigt), auch um negative Abgrenzungen bemüht. So wurden rein sportliche Aktivitäten ebenso ausgeschlossen wie die Vermittlung theoretischer Kenntnisse und praktischer Fähigkeiten in schulisch-beruflichen oder sonstigen Kontexten. Ebenfalls ausgeschlossen wurden Aktivitäten, die überwiegend der Lehre und Verbreitung einer Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft dienen beziehungsweise Jugendarbeit von Parteien sowie Vertretung kinder- und jugendpolitischer Forderungen gegenüber Politik und Öffentlichkeit (vgl. die Entscheidungsgründe unter II 2 a). Im Zentrum steht ein Tätigsein von Personen, „…die selbst Aufgaben der Jugendhilfe erfüllen und persönlich dazu beitragen, die Entwicklung junger Menschen zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu fördern (vgl § 1 Abs. 1 SGB VIII).“ Auch wird eine „Verfassungsgewähr“ der Einrichtung gefordert, was eine kritische Auseinandersetzung mit den be- stehenden Verhältnissen nicht ausschließe, solange und soweit die freiheitlich-demokratische Grundordnung und die unveränderbaren Grundsätze der Verfassungsordnung nicht in Frage gestellt würden (Entscheidungsgründe unter II 2 d).

Ob der zugrunde liegende Sachverhalt so weitreichende grundlegende Ausführungen erforderte, sei dahingestellt. In dem Bemühen um Eingrenzung des Begriffs „Wohlfahrt“ im Zusammenhang mit Kinder- und Jugendarbeit kann der Entscheidung aber im Ganzen gefolgt werden. Sie grenzt den angenommenen Versicherungsschutz der Tätigkeiten der traditionellen Pfad- findergruppen überzeugend von rein spielerisch-sportlichen Aktivitäten einerseits und andererseits eindeutig politischen oder weltanschaulichen Zielsetzungen in der Jugendarbeit zahlreicher Vereinigungen und (konfessionellen) Einrichtungen ab.

Die Inhalte dieser Rechtskolumne stellen allein die Einschätzungen des Autors/der Autorin dar.

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