In Bildungseinrichtungen Sicherheit und Gesundheit systematisch fördern
Die unterschiedlichen Versichertengruppen – Lehrende auf der einen, Lernende auf der anderen Seite – stellen ein spezielles Merkmal in Bildungseinrichtungen dar. Aber auch die Einrichtungen selbst, mit ihren verschiedenen Aufträgen, weisen Besonderheiten auf, die es bei der Präventionsarbeit zu berücksichtigen gilt.
Key Facts
- Was macht die Präventionsarbeit in Bildungseinrichtungen aus? Und welche Besonderheiten gilt es zu beachten? Ein Interview mit Annette Michler-Hanneken, Leiterin des Fachbereichs „Bildungseinrichtungen“ (Unfallkasse NRW) sowie Biljana Miljković, als DGUV-Vertretung zweier Sachgebiete im Fachbereich „Bildungseinrichtungen“.
Frau Michler-Hanneken, welche Besonderheiten muss die Präventionsarbeit in Bildungseinrichtungen berücksichtigen?
Annette Michler-Hanneken (AMH): Die Präventionsarbeit in Bildungseinrichtungen unterscheidet sich in einigen Aspekten von der in Betrieben. Dies liegt zum einen daran, dass wir mit unseren Angeboten verschiedene Zielgruppen erreichen wollen, nämlich die Beschäftigten auf der einen Seite und die Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf der anderen Seite. Diese sind in ihrem Arbeits- und Lernumfeld unterschiedlichen Gefährdungen und Belastungen ausgesetzt, so dass differenzierte Zugänge erforderlich sind, um Präventionsmaßnahmen zu etablieren.
Um ein Beispiel zu nennen: Das Gesichtsfeld, also der mit beiden Augen erfassbare Bereich, ist bei Kindern seitlich noch um etwa 30 Prozent eingeschränkt. Erst im Alter von zehn bis zwölf Jahren entspricht das Gesichtsfeld dem eines Erwachsenen. Dies hat große Bedeutung, nicht nur im Rahmen der Spiel- und Bewegungsangebote, sondern auch im Bereich des Straßenverkehrs, wo die Auswirkungen eines eingeschränkten Gesichtsfeldes sehr viel dramatischer sein können. Das müssen wir bei unseren Überlegungen und Angeboten sowohl für die Kinder als auch für die pädagogischen Fachkräfte berücksichtigen. Wir haben natürlich auch die Gefährdungen und Belastungen der Beschäftigten in den Bildungseinrichtungen im Blick, insbesondere die Leitungen. Sie sind für uns erste Ansprechpersonen, wenn es um die Etablierung von Maßnahmen zur Sicherheit und Gesundheit geht. Darin unterscheiden wir uns nicht von den Betrieben.

Wenn bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten bei Kindern noch nicht so ausgeprägt sind, wie kann dann eine angemessene Prävention gelingen?
AMH: Um wirksame Maßnahmen ableiten zu können, ist es erforderlich, sich mit der Entwicklung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu beschäftigen. Insbesondere jüngere Kinder haben einen natürlichen Bewegungsdrang und eignen sich ihre Umwelt über Bewegung an. Das unterstützen wir, indem wir Hinweise zur Bewegungsförderung geben, die die Entwicklung von Sicherheits- und Gesundheitskompetenzen fördern und gleichzeitig sichere Rahmenbedingungen schaffen.[1] Weitere Erkenntnisse haben wir aktuell im Rahmen eines durch die DGUV geförderten Forschungsprojektes zur Berücksichtigung der psychischen Belastung von Kindern unter drei Jahren in Kindertageseinrichtungen in der Gefährdungsbeurteilung erhalten. Da sich der Spracherwerb bei den Jüngsten unserer Versicherten erst noch entwickelt, ist Verhaltensbeobachtung durch die pädagogischen Fachkräfte ein wesentlicher Aspekt des Verfahrens (siehe auch „Ermittlung psychischer Belastung von Kindern unter drei Jahren in Kitas“).
Das Leben der Jugendlichen wiederum ist geprägt durch die herausfordernde Phase der Pubertät. Die Reorganisation des Gehirns geht einher mit einem erhöhten Risikoverhalten. Gleichzeitig stehen Identitätsfindung und Autonomieentwicklung im Vordergrund. Das macht es allen an der Erziehung und Entwicklung beteiligten Personen schwer, so vermeintlich langweilige Themen wie Sicherheit oder vorausschauendes Verhalten zu platzieren. Gleichzeitig bekommen Einflüsse aus dem Umfeld einen größeren Einfluss, ich denke hier insbesondere an den Freundeskreis oder die sozialen Medien. Dank wissenschaftlicher Erkenntnisse wie zum Beispiel durch das von der DGUV Forschungsförderung geförderte Projekt „YOLO – Sicheres Radfahren bei Kindern und Jugendlichen zwischen 10 und 14 Jahren“[2] liegen uns wertvolle Informationen vor, die die neurobiologischen Hintergründe erläutern und gleichzeitig Empfehlungen geben, wie durch gezielte (Bewegungs-)Angebote die Selbststeuerung und Risikokompetenz der Jugendlichen gefördert werden können.
Junge Erwachsene befinden sich häufig in einer Übergangsphase, in der Unabhängigkeit und Eigenverantwortung gestärkt, persönliche Freiheit und Entdeckungsfreude bedeutsamer und die individuelle Persönlichkeit gefestigt werden. Auch in dieser Lebensphase sind die jungen Menschen noch sehr empfänglich für Einflüsse aus ihrem Umfeld – sowohl im positiven wie im negativen Sinne.
Zusammengefasst kann man sagen, dass wir es im Bereich der Schülerunfallversicherung mit einer Versichertengruppe zu tun haben, die aufgrund der großen Altersspanne und des unterschiedlichen Reifegrades eine sehr hohe Heterogenität aufweist. Die Erziehung und Förderung, also das Aufstellen von Regeln auf der einen Seite und die Ermöglichung von Freiräumen auf der anderen Seite, sollten sich daher an dem Entwicklungsstand der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen orientieren und insbesondere in Kindertageseinrichtungen und Schulen unerwartetes Verhalten mit einbeziehen, da selbstreguliertes und zielgerichtetes Handeln nicht selbstverständlich vorausgesetzt werden kann. Dies gilt gleichermaßen für eine sicherheits- und gesundheitsgerechte Gestaltung des Umfeldes.
Biljana Miljković (BM): Ich würde gerne noch etwas ergänzen: Die angesprochene Vielfalt in Bildungseinrichtungen erfordert eine Prävention, die nicht nach dem Gießkannenprinzip funktioniert, sondern differenziert, zielgerichtet und ressourcenorientiert ausgerichtet ist. Um wirksam zu sein, muss Prävention die Lebenslagen, kulturellen Hintergründe, individuellen Fähigkeiten und sozialen Rahmenbedingungen der jeweiligen Zielgruppen berücksichtigen – von der frühen Kindheit bis ins junge Erwachsenenalter. Dies erfordert die Entwicklung von passgenauen Maßnahmen unter aktiver Einbeziehung der jeweiligen Perspektiven. Partizipation ist hierbei ein zentrales Prinzip: Wer mitgestalten darf, erfährt Selbstwirksamkeit und identifiziert sich stärker mit präventiven Angeboten. Dazu gehören altersgerechte Zugänge ebenso wie geschlechtersensible, kultursensible und inklusive Ansätze.

Um wirksam zu sein, muss Prävention die Lebenslagen, kulturellen Hintergründe, individuellen Fähigkeiten und sozialen Rahmenbedingungen der jeweiligen Zielgruppen berücksichtigen.
Biljana Miljković (DGUV)
Die Versichertengruppen in der Schülerunfallversicherung sind aber nicht der einzige Unterschied zur allgemeinen Unfallversicherung, oder?
AMH: Das stimmt. Ein weiterer wesentlicher Unterschied liegt in der Zielsetzung, die Bildungseinrichtungen und Betriebe bei ihrer Arbeit verfolgen. Kindertageseinrichtungen, Schulen und Hochschulen unterliegen einem ministeriellen Betreuungs-, Erziehungs-, Bildungs- bzw. Forschungsauftrag. Ihr Ziel ist es, Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten – also Kompetenzen – zu vermitteln und die jungen Menschen bei ihrer persönlichen Entwicklung und gesellschaftlichen Teilhabe bestmöglich zu begleiten. Die Arbeit insbesondere in Kindertageseinrichtungen und Schulen ist in der Regel durch festgelegte Bildungs- bzw. Lehrpläne, pädagogische Konzepte und eine eher langfristige Zielsetzung geprägt. In den Hochschulen spielt unter anderem die akademische Freiheit eine wichtige Rolle. Betriebe hingegen sind wirtschaftliche Organisationen, die Produkte oder Dienstleistungen herstellen und verkaufen, um Gewinne zu erwirtschaften.
Was jedoch sowohl für Bildungseinrichtungen als auch Betriebe gleichermaßen gilt, ist die Tatsache, dass Sicherheit und Gesundheit die Qualität der Ergebnisse und das Wohlbefinden der Beteiligten beeinflussen. Bei den Betrieben sprechen wir dann in der Regel von finanziellen Gewinnen, bei den Bildungseinrichtungen von Lernergebnissen und Abschlüssen. Hinsichtlich des Wohlbefindens der Beschäftigten geht es aber immer auch um Personalgewinnung und -bindung, also um die Attraktivität der Arbeitgebenden.
Auch die Strukturen der Bildungseinrichtungen sind bei der Präventionsarbeit zu berücksichtigen. Beispielhaft möchte ich für die Kindertageseinrichtungen die Trägervielfalt und je nach Ausrichtung die zugrundeliegenden pädagogischen Konzepte nennen. Als Mitarbeiterin oder Mitarbeiter der gesetzlichen Unfallversicherung ist es wichtig, sich hierüber zu informieren, um zum Beispiel im Rahmen der Beratung möglichst bedarfsgerechte Angebote zu unterbreiten und Gespräche vor Ort auf Augenhöhe führen zu können. In den öffentlichen Schulen müssen die unterschiedlichen Verantwortungsbereiche, nämlich des Sachkostenträgers für den äußeren Schulbereich und des Schulhoheitsträgers für den inneren Schulbereich, bekannt sein, damit ich mich rechtssicher vor Ort verhalten kann. In Hochschulen stellen die Aufbau- und Ablauforganisation eine besondere Herausforderung dar. Für die Präventionsarbeit ist es wichtig, zum einen die hierarchische Struktur und die Organisationseinheiten einer Hochschule, wie zum Beispiel Fakultäten, Fachbereiche, Institute, Studiengänge und Verwaltungseinheiten, zu kennen. Zum anderen sind die Prozesse und Abläufe innerhalb der Hochschule und damit verbunden die Verantwortungsbereiche für Sicherheit und Gesundheit von Bedeutung.
Wie sieht denn aktuell das Unfallgeschehen in Bildungseinrichtungen aus? Gibt es Entwicklungen, die besonders auffallen?
BM: Im Jahr 2024 wurden rund 1,1 Millionen Schul- und Kitaunfälle gemeldet, womit ein Rückgang um knapp 2 Prozent zu verzeichnen ist. Das freut uns natürlich! Der größte Teil dieser Unfälle entfiel auf verhaltensbedingte Unfälle im Sportunterricht sowie auf Pausenhöfen und Verkehrsflächen. Auffällig ist, dass in Grundschulen und Kitas vor allem Bewegungsspiele und Toben häufig zu Unfällen führen – das spiegelt den von Frau Michler-Hanneken eingangs erwähnten natürlichen Bewegungsdrang wider, der birgt aber auch Risiken. Da neben den Schulunfällen aber auch die Schulwegunfälle ein Hauptrisiko darstellen, legt die DGUV besonderen Wert auf Mobilitätsbildung und Verkehrserziehung. Im Vorjahresvergleich ist die Zahl der meldepflichtigen Schulwegunfälle übrigens um rund 5 Prozent gesunken.
Wir beobachten einen Anstieg der psychischen Belastung, insbesondere bei älteren Schülerinnen und Schülern und unter Studierenden im Hochschulbereich.
Biljana Miljković (DGUV)
Zudem beobachten wir einen Anstieg der psychischen Belastung, insbesondere bei älteren Schülerinnen und Schülern im Schulbereich und unter Studierenden im Hochschulbereich. Diese spiegeln sich zwar seltener in einschlägigen Unfallstatistiken wider, sind aber für die Prävention zunehmend relevant. Dazu gibt es ein von der DGUV gefördertes Forschungsprojekt, welches zum Ziel hat, mittels des Bielefelder Fragebogens[3] eine Gefährdungsbeurteilung zu Studienbedingungen an verschiedenen deutschen Hochschulen durchzuführen und organisationale Ressourcen und Belastungen, die mit der psychischen Gesundheit Studierender in Zusammenhang stehen, an den beteiligten Hochschulen zu identifizieren (siehe auch „Projekt untersucht Studienbedingungen und Gesundheit Studierender“).
Passend zum Stichwort Unfallgeschehen: Die gesetzliche Unfallversicherung hat sich der Vision Zero verpflichtet. Wie lässt sich dieses Leitbild konkret auf Bildungseinrichtungen übertragen?
BM: Die Vision Zero ist mehr als ein Ziel – sie ist ein Kulturwandel. In Bildungseinrichtungen heißt das: Sicherheit und Gesundheit müssen systematisch in die pädagogische Arbeit eingebunden werden. Dazu gehört, Risiken im Alltag nicht nur zu erkennen, sondern auch präventiv zu vermeiden.
Praktisch bedeutet das zum Beispiel: Bewegungsfreundliche Raumgestaltung, sichere Spielgeräte, eine bewusste Pausenaufsicht, die nicht nur „da ist“, sondern aktiv begleitet. Aber auch psychosoziale Prävention – etwa gegen Mobbing oder bei Überlastung im Schulalltag – ist Teil der Vision Zero.
Wir fördern diesen Kulturwandel durch spezifische Programme wie das „Sichere Schule“-Portal, durch Fortbildungen für pädagogisches Personal und durch unsere Materialien, die Prävention altersgerecht vermitteln – etwa in den Zeitschriften „KinderKinder“ und „pluspunkt“ für Beschäftigte in Kindertagesstätten und Schulen[4], der Initiative „Jugend will sich-erleben“[5] für junge Erwachsene in Berufsschulen oder über das Programm „MindMatters“[6] zur Förderung der psychischen Gesundheit in der Schule.
Wenn es gelingt, dass Sicherheit und Gesundheit in den Bildungseinrichtungen im alltäglichen Handeln einen hohen Stellenwert einnehmen, dann prägen sich auch bei den Heranwachsenden gesundheitsförderliche Kompetenzen und Haltungen aus, die sie befähigen, selbstbestimmt ein erfolgreiches und gesundes Leben zu führen. Dies trägt auch zu einem Sicherheitsbewusstsein im späteren Berufsleben bei und ist ein wichtiger Beitrag zur Unfallprävention – ein Leben lang. Eine solche Kultur der Prävention berücksichtigt bei allen Entscheidungen in der Einrichtung die Auswirkungen auf die Sicherheit und Gesundheit und hat dabei sowohl die Lernenden als auch das Bildungspersonal im Blick. Gelingt es, einen Ort zu schaffen, an dem sich Lernende und Lehrende gleichermaßen wohl und sicher fühlen, hat dies wiederum Auswirkungen auf die Bildungsqualität.
Warum hat die Unfallprävention ab dem jungen Kindesalter eine so hohe Bedeutung?
BM: Die meisten Unfälle in Bildungseinrichtungen haben nur leichte Verletzungen zur Folge, dennoch hat die Unfallprävention ab dem jungen Kindesalter eine hohe Bedeutung. Neben der Schaffung von sicheren Rahmenbedingungen geht es darum, die Kinder auf den Umgang mit Risiken vorzubereiten. Hier spielen die Bewegungsförderung und die Ausprägung sozialer Kompetenzen eine große Rolle. Ziel ist es, dass die Kinder Bewegungssicherheit und Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten erlangen, Fairness und Rücksichtnahme erlernen und letztlich Verantwortung für das eigene Handeln übernehmen. Aber auch in den Bildungseinrichtungen und auf den damit zusammenhängenden Wegen ereignen sich schwere und tödliche Unfälle. Diese gilt es unbedingt zu vermeiden. Erreicht werden soll dies zum einen durch bauliche (technische) Sicherheit und organisatorische Maßnahmen (zum Beispiel Aufsicht und Regelsetzung), aber auch durch die Förderung der Ausprägung von Kompetenzen – vor allem der Risikokompetenz.
Die Aneignung von Risikokompetenz ist ein zentraler Baustein der Entwicklung von Sicherheits- und Gesundheitskompetenzen im Kindesalter. Damit Kinder lernen, sich sicher zu verhalten, müssen sie lernen, mit Risiken umzugehen. Ohne Risiko keine Sicherheit. Das Zulassen von Risiken und Wagnissen gehört ebenso zu einer kindgerechten Förderung der Sicherheits- und Gesundheitskompetenzen wie das Reglementieren und Verbieten. Dadurch sehen wir uns mit der Herausforderung konfrontiert, einerseits eine Welt schaffen zu wollen, in der keine Unfälle geschehen und in der wir das Risiko für Unfälle minimieren, aber andererseits auch diese risikobehafteten Situationen zuzulassen und anzubieten, um die Entwicklung von Sicherheits- und Gesundheitskompetenzen zu stärken.
AMH: Die Ausführungen von Frau Miljković machen deutlich, dass das pädagogische Personal ein wichtiges Bindeglied zu den Kindern darstellt. Die beschriebenen Anforderungen setzen nicht nur fachliche Kompetenzen voraus, sondern auch eine hohe Reflexionsfähigkeit und Empathie. Gerade die Beziehung zwischen Fachkräften und jungen Menschen ist von großer Bedeutung, um eine gesunde Entwicklung zu fördern und sie auf ihrem Weg zu selbstbewussten und verantwortungsvollen Erwachsenen zu unterstützen. Daher ist die Beratung häufig ein Türöffner, um Kontakt zu den Einrichtungen aufzubauen.
Ein zentrales Thema auf dem Bildungsweg junger Menschen sind Übergänge – von der Kita zur Grundschule, von der Schule in die Ausbildung oder ins Studium. Warum sind diese Transitionen für die Präventionsarbeit so wichtig?
BM: Transitionen sind sensible Phasen. Sie stellen Kinder und Jugendliche vor neue Anforderungen: eine wechselnde Umgebung, andere Bezugspersonen, veränderte Erwartungen. Diese Veränderungen können Stress auslösen, zu Verunsicherung oder auch zu Rückzugsverhalten führen – oder umgekehrt zu übermäßigem Risikoverhalten, zum Beispiel in der Pubertät.
Übergänge im Bildungsweg – etwa von der Kita in die Schule oder von der Schule in Ausbildung oder Studium – sind für die Präventionsarbeit deswegen besonders wichtig, weil sie mit verdichteten Entwicklungsanforderungen verbunden sind. In kurzer Zeit müssen Kinder und Jugendliche viele neue Anforderungen bewältigen, was großen Einfluss auf ihre weitere Entwicklung und Gesundheit haben kann. Diese Übergänge bieten sowohl Chancen als auch Risiken – je nach sozialer Lage, Unterstützungsangeboten und individueller Lebenswelt.
Für die Prävention bedeutet das: Wir müssen diese Übergänge aktiv mitdenken. Beim Übergang in die Berufswelt zum Beispiel setzen Programme wie „Jugend will sich-er-leben“ oder das „Lernen und Gesundheit“-Portal der DGUV[7] an. Sie helfen jungen Menschen, sich selbst als verantwortliche Akteure für ihre Gesundheit und Sicherheit wahrzunehmen. Wichtig ist auch die Zusammenarbeit mit Eltern, Ausbildenden und Lehrkräften – sie alle sind Teil eines Netzwerks, das Sicherheit und Gesundheit fördern kann. Ziel der Prävention sollte es sein, Potenziale und Ressourcen zu stärken, statt Defizite zu fokussieren. Bildungseinrichtungen tragen dabei eine besondere Verantwortung: Durch gezielte Maßnahmen wie Kooperationen, Willkommenskultur, Schnuppertage, Patenschaften oder Berufsorientierung können sie Übergänge sicher, gesund und erfolgreich gestalten.
Aber auch Aspekte wie Mobilitätsbildung und Verkehrserziehung sind wichtig – insbesondere wegen des erhöhten Unfallrisikos bei veränderten Wegen und Verkehrsmitteln während Übergangsphasen.
Nicht zuletzt zeigen inzwischen etablierte Präventionsketten, also koordinierte kommunale Netzwerke zur Gesundheitsförderung, wie bedeutsam die Zusammenarbeit aller Akteurinnen und Akteure ist. Denn gelingende Übergänge sind keine individuelle, sondern eine gemeinsame gesellschaftliche Aufgabe.
Pädagogisches Personal braucht nicht nur fachliche Kompetenzen, sondern auch eine hohe Reflexionsfähigkeit und Empathie.
Annette Michler-Hanneken (Unfallkasse NRW)
Zum Abschluss: Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Prävention in Bildungseinrichtungen?
AMH: Ich wünsche mir, dass Bildungseinrichtungen mit den notwendigen Ressourcen sowohl finanzieller als auch personeller Art ausgestattet werden. Das würde unsere Arbeit an vielen Stellen erleichtern und bereits einige Probleme lösen. Außerdem wünsche ich mir mehr Wertschätzung für die Arbeit, die das pädagogische Personal in den Einrichtungen leistet. Viele Themen, wie zum Beispiel Bewegungsmangel, Sprachbarrieren oder – sehr aktuell – die Auswirkungen von Social Media, können nicht von den Einrichtungen alleine bearbeitet werden, sondern müssen als gesamtgesellschaftliche Aufgaben gesehen und bewältigt werden. Hier können wir als Unfallversicherungsträger mit unseren Möglichkeiten dazu beitragen, die Arbeit vor Ort sicher und gesund zu gestalten.
BM: Dem kann ich nur zustimmen! Ergänzen möchte ich, dass ich mir wünsche, dass Prävention und Gesundheitsförderung als integraler Bestandteil von Bildungsqualität verstanden werden. Sicherheit und Gesundheit dürfen nicht als „zusätzliche Aufgabe“ gesehen werden, sondern als Fundament für erfolgreiches Lehren und lebenslanges Lernen sowie für ein gesundes Aufwachsen. Die Verwirklichung guter gesunder Bildungseinrichtungen mit einer Verbesserung der Gesundheitsqualität in den Einrichtungen und einem Mehr an Sicherheits- und Gesundheitskompetenz der Versicherten und Beschäftigten ist meiner Meinung nach zielführend.
Dafür braucht es eine systematische Verankerung – etwa in Curricula, in Ausbildungsgängen für pädagogische Fachkräfte, in der Architektur von Bildungseinrichtungen. Und es braucht Beteiligung: Wenn Kinder, Jugendliche und Erwachsene gemeinsam Verantwortung für Sicherheit und Gesundheit übernehmen, wird Vision Zero gelebte Realität.
Fußnoten
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DGUV Internetportal „Sichere Schule“, https://www.sichere-schule.de/ (abgerufen am 13.08.2025).
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Sicheres Radfahren bei Kindern und Jugendlichen zwischen 10 und 14 Jahren – Der Einfluss von exekutiven Funktionen und Pubertät (Forschungsprojekt FF-FP 0362), https://www.dguv.de/ifa/forschung/projektverzeichnis/ff-fp0362.jsp (abgerufen am 13.08.2025)
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Der „Bielefelder Fragebogen zu Arbeitsbedingungen und Gesundheit an Hochschulen“ ist ein speziell auf den Hochschulkontext zugeschnittenes und bundesweit in der Praxis erprobtes Instrument zur Mitarbeitendenbefragung mit Fokus auf (psychischer) Gesundheit. Siehe: https://www.uni-bielefeld.de/verwaltung/dezernat-p-o/gesundheitsmanagement/bielefelder-fragebogen/ (abgerufen am 13.08.2025).
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KinderKinder, Sicherheit und Gesundheit in Kindertageseinrichtungen, https://www.kinderkinder.dguv.de/ (abgerufen am 13.08.2025); pluspunkt, Sicherheit und Gesundheit in der Schule, https://www.pluspunkt.dguv.de/ (abgerufen am 13.08.2025).
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Jugend will sich-er-leben, https://www.jwsl.de/ (abgerufen am 13.08.2025).
-
MindMatters, https://mindmatters-schule.de/home.html (abgerufen am 13.08.2025)
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Portal Lernen und Gesundheit der DGUV, https://www.dguv-lug.de/ (abgerufen am 13.08.2025).