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Ausgabe 11/2025

Regress nach Missachtung der Schutzbedürftigkeit von Auszubildenden

Sowohl ausdrückliche Anweisungen an Auszubildende als auch das Dulden unterstützender Tätigkeiten seitens der Ausbilderinnen und Ausbilder begründen bei Missachtung eindeutiger Sicherheitsbestimmungen grobe Fahrlässigkeit ohne Mitverschulden des Auszubildenden.

Key Facts

  • Urteil des LG Nürnberg-Fürth vom 07.03.2025, Az. 19 O 3214/23
  • Hinweisbeschluss des OLG Nürnberg vom 27.06.2025, Az. 4 U 598/25
  • Beschluss des OLG Nürnberg vom 08.08.2025, Az. 4 U 598/25

Es sollte zum Allgemeinwissen in Unternehmen gehören, dass die Arbeitssicherheitsbestimmungen nicht nur für volljährige Arbeitende gelten und zu beachten sind, sondern auch für minderjährige Auszubildende. Für letztere gelten indes zusätzliche Bestimmungen des Jugendarbeitsschutzgesetzes, die der besonderen physischen und psychischen Situation Minderjähriger Rechnung tragen.

Im konkreten Fall, der den gerichtlichen Entscheidungen zugrunde lag, befand sich ein 16-jähriger Auszubildender zum Elektriker im ersten Lehrjahr zusammen mit dem nach der Beendigung einer langjährigen Geschäftsführertätigkeit einer GmbH nur noch geringfügig beschäftigten Rentner ungesichert auf einem ca. 8 Meter hohen Dach und half, eine schwere Holzpalette vom Dach zu werfen. Unglücklicherweise geriet der Auszubildende mit dem Fuß in eine an der Palette befindliche Plastikschlaufe, wurde deshalb von der heruntergeworfenen Palette mit vom Dach gezogen und verletzte sich schwer. Die zuständige Berufsgenossenschaft erkannte den Unfall als Versicherungsfall an, entschädigte diesen und nahm den Arbeitskollegen auf Erstattung der Aufwendungen gemäß § 110 SGB VII in Anspruch. Da von jeglichen Sicherheitsvorkehrungen abgesehen wurde, obwohl die tödlichen Gefahren jedermann klar vor Augen standen, haben sowohl das Landgericht als auch das Oberlandesgericht Nürnberg eine grobe Fahrlässigkeit des Arbeitskollegen zu Recht bejaht.

Der in Anspruch Genommene verteidigte sich unter anderem mit dem Argument, dass er den Auszubildenden gar nicht aufgefordert habe, ihm zu helfen und er den Auszubildenden damit gar nicht in die von der Rechtsprechung bereits als subjektiv besonders verwerflich anerkannte Situation eines psychischen Zwangs gebracht habe. Wenn der Auszubildende in einer solchen Situation seine Mithilfe anbiete und er diese annehme, führe dies nach Meinung des Beklagten entweder bereits zum Ausschluss seines grob fahrlässigen Handelns oder zu einem erheblichen Mitverschulden des Auszubildenden. Letzterer Argumentation folgten die Gerichte nicht und sahen aufgrund der besonderen Schutzbedürftigkeit von Auszubildenden sowohl eine grob fahrlässige Verursachung des Arbeitsunfalls des Jugendlichen durch den Kollegen als gegeben an als auch ein Mitverschulden des 16-jährigen Auszubildenden als nicht nachgewiesen.

Das OLG Nürnberg hat in seinem Beschluss vom 08.08.2025 hierzu ausgeführt:

Das grobe Verschulden des Beklagten liegt darin, dass er nicht nur bei Arbeiten auf dem Dach die hierauf bezogenen Arbeitsschutz- und Unfallverhütungsvorschriften missachtet hat, sondern darüber hinaus als Vorgesetzter gemeinsam mit dem Versicherten eine besonders gefahrenträchtige Tätigkeit auf dem Dach ausgeführt hat. Es kommt insoweit nicht darauf an, ob der Beklagte die Hilfe des Versicherten hinsichtlich der gefährlichen Tätigkeit angefordert hat (Weisung). Er hat es jedenfalls zugelassen, dass sich der Versicherte an dieser Tätigkeit (Herab- werfen der alleine nicht zu bewältigenden Holzpalette vom 8 m hohen ungesicherten Dach) beteiligt hat. Unerheblich ist, dass der Versicherte sich eigentlich gar nicht an der konkreten Arbeit, nämlich dem Herunterwerfen der Paletten, beteiligen sollte. Der Beklagte hat jedenfalls als Vorgesetzter die Hilfeleistung durch den Versicherten angenommen und die Tätigkeit mit diesem gemeinsam ausgeführt. Er hätte als Vorgesetzter des Versicherten nicht nur das ungesicherte Arbeiten auf dem Dach, sondern auch dessen Hilfe hinsichtlich der erkennbar gefährlichen Tätigkeit ablehnen müssen. Das hat er nicht getan.

Darüber hinaus hat das OLG Nürnberg entschieden, dass der Fall einer ausdrücklichen Weisung an einen Untergebenen nur ein Unterfall einer psychischen Zwangslage und damit ein Fall des nicht autonomen Handelns des später Geschädigten darstellt. Das Ausnutzen eines bestehenden Vorgesetztenverhältnisses (in Kenntnis der Gefährlichkeit der gemeinsamen Tätigkeit) steht hinsichtlich des Gewichts des Verschuldens einer ausdrücklichen Weisung gleich. Denn auch wenn ein Auszubildender seinem Vorgesetzten behilflich zur Seite springen wollte, als er gesehen hat, dass dieser mit der schweren Palette nicht alleine zurechtkam, geschah dies, um sich als Auszubildender gegenüber seinem Vorgesetzten zuvorkommend und zupackend zu verhalten. Ob ein Auszubildender hierfür konkret angewiesen war oder er sich aufgrund der Situation von sich aus veranlasst sah, mit anzupacken, wenn sein Vorgesetzter in Not war, ändert nichts daran, dass seine Entscheidung nicht autonom, sondern aufgrund der Umstände und insbesondere des bestehenden Weisungsverhältnisses faktisch erzwungen war, weil er seinem Vorgesetzten helfen musste, um als Auszubildender auf dem Bau gegenüber seinem Vorgesetzten einen guten Eindruck zu machen.

Die Entscheidungen der Nürnberger Gerichte präzisieren und verfeinern die seit längerem existierende Rechtsprechung, wann über die allgemeine Rechtsprechung zu den Aufwendungsersatzansprüchen von Unfallversicherungsträgern gemäß §§ 110, 111 SGB VII hinaus aufgrund der besonderen Schutzbedürftigkeit von Auszubildenden eine grobe Fahr- lässigkeit der Ausbilder bejaht und zugleich ein Mitverschulden des regelmäßig unerfahrenen Auszubildenden ausscheidet.
Dies erleichtert in zukünftigen vergleichbaren Fällen die Anspruchsdurchsetzung.

Die Inhalte dieser Rechtskolumne stellen allein die Einschätzungen des Autors/der Autorin dar.

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