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Aus Zahlen lernen – Kennzahlen als Präventionsinstrument

Kern eines erfolgreichen Wirtschaftsstandorts und seiner Unternehmen ist eine starke Unternehmens- und Präventionskultur. Mit ihrer Datenanalyse und -aufbereitung ermöglicht die Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (BG BAU) sich selbst und den Unternehmen die effektive Planung, Steuerung und Kontrolle der Präventionsarbeit, um so kontinuierliche Verbesserungen im Arbeitsschutz zu erreichen.

Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten bei der BG BAU

Der Bausektor gehört seit jeher weltweit zu den Branchen mit hohen Fallzahlen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten. Zwar sinken die Arbeitsunfallzahlen im langjährigen Vergleich, dennoch liegen sie generell auf einem hohen Niveau. Im Jahr 2020 gab es weniger Arbeitsunfälle in der Bauwirtschaft und im Bereich baunaher Dienstleistungen als 2019. So sank die Zahl der meldepflichtigen Arbeitsunfälle von 106.774 auf 103.970. Das ist ein Rückgang um rund 2,6 Prozent. Auch die meldepflichtigen Wegeunfälle gingen zurück. Sie lagen mit 7.723 Unfällen knapp zehn Prozent unter dem Wert von 2019. Aber: Im Jahr 2020 haben auf deutschen Baustellen leider insgesamt 97 Beschäftigte infolge eines Arbeitsunfalls ihr Leben verloren – 27 mehr als 2019. Dieser jüngste Anstieg bei tödlichen Arbeitsunfällen ist kein rein deutsches Phänomen, sondern wird europaweit verzeichnet: Im Jahr 2018 ereignete sich ein Fünftel aller tödlichen Arbeitsunfälle in der der Europäischen Union (EU) im Bausektor. Die Bauwirtschaft ist im Vergleich mit anderen Wirtschaftszweigen die unfallträchtigste Branche und weist mit 49,83 Unfällen je 1.000 Vollarbeiter (Durchschnitt alle Branchen: 23,50) im Jahr 2020 den höchsten Wert auf, wobei sich diese Zahl in den vergangenen 20 Jahren erfreulicherweise nahezu halbiert hat.

Alles aus einer Hand

Vor dem Hintergrund dieser Daten kommt der BG BAU eine hohe Verantwortung zu – nicht nur bei der medizinischen Behandlung und Rehabilitation von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, sondern auch bei deren Verhütung, also dem Arbeitsschutz. Um bestmögliche Leistungen für Versicherte und Unternehmen zu erreichen, werden Prävention, Rehabilitation, Entschädigung und Beitragswesen zunehmend noch enger verzahnt, um so ein tieferes Verständnis für die Ursachen von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten zu erreichen. Ziel dabei ist es, Treiber zu erkennen und Prognosen hinsichtlich zukünftiger Entwicklungen erstellen zu können. Von besonderem Interesse sind Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten, die eine systematische Steigerung der Frequenz und/oder der Kosten erwarten lassen. Zum Hintergrund: Systematische Steigerungen der Unfallzahlen bei bestimmten Tätigkeiten und/oder Arbeitsplätzen führen in der gesetzlichen Unfallversicherung zeitversetzt zu Beitragssteigerungen bei betroffenen Tarifstellen oder bei der Solidargemeinschaft, während Steigerungen bei einzelnen Mitgliedsbetrieben zu individuellen Beitragszuschlägen führen. Doch neben der wirtschaftlichen Komponente darf nicht vergessen werden, dass sich hinter all den Zahlen viel menschliches Leid verbirgt. Daher gilt es, die Präventionsarbeit so effektiv wie möglich zu gestalten, um die Anzahl und die Folgen von Arbeitsunfällen sowie Berufskrankheiten im Sinne der Vision Zero zu beeinflussen.

Vergleichbar mit dem 3Four50-Modell der Oxford Health Alliance (OHA)[1] aus dem Jahre 2003, wonach drei Risikofaktoren vier Krankheiten bedingen, die mehr als 50 Prozent der weltweiten Todesfälle verursachen, zielt der auf Kennzahlen basierende BG-BAU-Ansatz darauf ab, Unfallarten und Unfallauslöser zu ermitteln, die für die Mehrheit der tödlichen und schweren Arbeitsunfälle beziehungsweise höchsten Unfallkosten verantwortlich sind. Auffällig ist bei vielen Gefahrtarifstellen, dass bestimmte Schwerstunfälle und Berufskrankheiten bis zu 90 Prozent der Kosten für Rehabilitation und Entschädigungen ausmachen. Ziel ist es daher, deren Ursachen priorisiert mithilfe von Kennzahlensystemen nacheinander so zu beeinflussen, dass die Ziele der Vision Zero zeitnah erreicht werden.

Kennzahlen und Kennzahlensysteme

Die Wirksamkeit des Arbeitsschutzes lässt sich mit unterschiedlichen Kennzahlen messen, vergleichen – und damit zugleich steuern. Die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung verfügen über umfassende Statistiken zu Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, insbesondere zu Details wie Häufigkeiten, Tätigkeiten, Unfallauslösern, Ursachen in technischer, organisatorischer und/oder personenbezogener Hinsicht, Kosten sowie Geschlecht, Alter und Ausbildungsstand der betroffenen Personen. Diese Daten lassen sich für eine wirksame Präventionsarbeit nutzen.

Von entscheidender Bedeutung für die Steuerung der Prävention ist die Auswahl von geeigneten und eindeutigen Kennzahlen. Im Fall der BG BAU müssen sie mit dem gesetzlichen Auftrag korrelieren (Verhütung von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren), quantifizierbar sein und Rückschlüsse auf Handlungswirkungen ermöglichen. Kennzahlen sind betriebswirtschaftliche Informationskonzentrate, die Informationen und Sachverhalte in einer Zahl ausdrücken. Sie messen direkt beobachtbare und relevante Tatbestände. Einzelne isoliert betrachtete Kennzahlen haben jedoch aufgrund der vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten nur eine begrenzte Aussagekraft, sodass sie rein integrativ erfasst werden sollten. Erst wenn Kennzahlen zueinander in Beziehung gesetzt werden, lassen sich Ursache und Wirkung erkennen und Verbindungen zwischen Einzelereignissen beleuchten.

Unfallarten, Unfallursachen und Unfallfolgen haben sich in der Bauwirtschaft und den baunahen Dienstleistungen in den vergangenen Jahren beziehungsweise Jahrzehnten nicht grundlegend verändert, sodass die langjährigen Statistiken verlässliche Aussagen und Prognosen durch den Einsatz eindeutiger Kennzahlen erlauben. Leitindikatoren (proaktive Kennzahlen, auch „präventive Kennzahlen“ genannt) der BG BAU bleiben in diesem Beitrag unberücksichtigt. Zur Vorbeugung von Unfällen oder Erkrankungen wäre es grundsätzlich vorteilhaft, wenn es gelänge, bereits im Vorfeld Situationen und Handlungen zu erfassen, die die Gefahr von Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten, also Leistungsfälle, bergen. Was im Fall eines Betriebs sinnvoll und zielführend erscheinen mag, nämlich die Messung von Aufwand, Zeit oder Geld mittels Leitindikatoren zur Bewertung der betrieblichen Arbeitsschutzperformance, wirkt aus Sicht eines bundesweit tätigen Trägers der gesetzlichen Unfallversicherung beim Design der Präventionsarbeit weniger zielführend im Vergleich zur präzisen Analyse, Auswertung und Prognoseerstellung mittels statistisch fundierter Methoden. Was exakt berechenbar ist, ist auch versicherbar und steuerbar. Leitindikatoren werden jedoch beispielsweise bei der individuellen Beratung von Betrieben eingesetzt.

Kennzahlen sollten möglichst eindeutig definiert sein und wenig Spielraum für Interpretationen lassen. Daher wurden bei der BG BAU zunächst die folgenden Tatbestände zur bedarfsgerechten Bildung von Kennzahlen ausgewählt:

  • Tödliche Arbeitsunfälle
  • Meldepflichtige Arbeitsunfälle
  • Kategorie-3-Unfälle[2] und/oder Kategorie-4-Unfälle[3]
  • Unfallkosten in Euro nach n-Jahren (> 5 k[4], > 10 k, > 20 k, > 100 k)
  • Betriebsgröße[5]/Vollarbeiter (1–10, 11–50, 51–250, > 250)
  • Gewerk/Gefahrtarifstelle/Kennziffer

Arbeitsprozesse in der Bauwirtschaft zeichnen sich oftmals dadurch aus, dass im Störungsfall plötzlich hohe Energie freigesetzt wird. Typische Beispiele sind: von hoch gelegenen Arbeitsplätzen abstürzen, von Gegenständen oder Maschinen getroffen werden oder von Baumaschinen oder Lkws überfahren werden. Circa 80 Prozent der tödlichen Arbeitsunfälle auf Baustellen fallen unter diese Kategorien, wobei dem Absturz eine besonders hohe Bedeutung zukommt. Aufgrund des tendenziell hohen Grads der Verletzungsschwere haben Absturzunfälle für die Betroffenen oftmals langwierige gesundheitliche Folgen. Sie machen einen großen Teil der Kosten für Behandlung, Rehabilitation und Rente bei den Unfallversicherungsträgern aus und führen am häufigsten zu neuen Unfallrenten. Der Anteil von Absturzunfällen an neuen Rentenfällen lag bei allen Unfallversicherungsträgern im Durchschnitt bei knapp 40 Prozent in 2018. Die kostenintensivsten Unfallauslöser für die BG BAU sind in diesem Zusammenhang in der Reihenfolge: Leitern (ortsveränderlich), Tritte sowie Dächer und Gerüste oder Terrassen.

Statistiken berühren nicht, persönliche Schicksale schon

Bei der BG BAU machen Absturzunfälle im langjährigen Mittel zwar nur circa acht Prozent aller Unfälle aus, stehen aber für circa 40 Prozent der Gesamtkosten für Heilbehandlung und Rente. Hinzu kommt: Rund 50 Prozent der tödlichen Arbeitsunfälle sind regelmäßig Absturzunfällen zuzuordnen, wobei die betroffenen Personen zu circa 20 Prozent von Dächern, zu circa 20 Prozent von Gerüsten, zu circa 16 Prozent von Leitern, zu circa 13 Prozent von Bauteilen und zu circa elf Prozent von sonstigen Orten abstürzten sowie zu circa 20 Prozent durch Bauteile durchstürzten. Zur spezifischen Aufbereitung der Ergebnisse werden dann noch die Betriebsgrößenklassen und die Gewerke beziehungsweise Gefahrtarifstellen als Kennzahlen in das Kennzahlensystem eingeführt.

Durch die Nutzung von Kennzahlen kann die BG BAU als Sozialversicherung mit Präventionsauftrag immer präziser abschätzen, in welchen Schadens- beziehungsweise Leistungsarten überproportional steigende Fallzahlen sowie tendenziell steigende Fallkosten zu erwarten sind. Gleichzeitig wird die Prävention effektiv, systematisch und nachhaltig, da zielgerichteter und frühzeitiger an der Verhinderung von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren gearbeitet wird. Anders gesagt: Das Verhindern von Leistungsfällen wird effektiver.

Hohe Fallzahlen und Fallkosten bedeuten immer viel menschliches Leid und höhere Lohnnebenkosten. Prävention ist grundsätzlich besser für Betriebe, Versicherte und Gesellschaft als Rehabilitation oder Entschädigung.

Angesichts des Unfall- und Berufskrankheitengeschehens lautet die grundsätzliche Vorgehensweise der BG BAU:

  • Bildung von relevanten Teilmengen
  • Auswertung der Unfallereignisse nach Unfallart, Unfallauslöser und weiteren präventionsrelevanten Faktoren
  • Erkennen und Ermitteln von Unfallursachen
  • Ableiten von Präventionsmaßnahmen

Um das Geschehen zu Arbeitsunfällen qualifiziert zu erfassen, untersuchen die Aufsichtspersonen der BG BAU Arbeitsunfälle nach festgelegten Kriterien unmittelbar nach den Ereignissen. Ihre Ergebnisse werden sowohl für die Präventionsarbeit als auch für die Erbringung von Leistungen in den Bereichen Rehabilitation, Entschädigung sowie beim Thema Regress genutzt. So werden zum Beispiel alle tödlichen Arbeits- und Massenunfälle sowie die Mehrzahl der Arbeitsunfälle mit voraussichtlich schweren Verletzungen und/oder diejenigen Unfälle, die im Zusammenhang mit Schwerpunktaktionen stehen, untersucht. Hauptziel ist die Ermittlung der möglichen Ursachen und Begleitumstände von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten oder von arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren.

Werden nun beispielsweise Absturzunfälle in Kombination mit Leitern aufgrund der Kennzahlensystem-Auswertung auffällig, so werden die entsprechend verschlüsselten Arbeitsunfälle bei der BG BAU systematisch, vertiefend und ganzheitlich untersucht. Als Resultat dieser Auswertungen sind unter anderem die Änderungen bei der TRBS 2121 Teil 2 „Gefährdung von Beschäftigten bei der Verwendung von Leitern“ entstanden, die einige neue Anforderungen bei Tätigkeiten mit Leitern enthalten. Auch bei der Erarbeitung der neuen Unfallverhütungsvorschrift „Bauarbeiten“ (DGUV Vorschrift 38), die in einem intensiven Prozess unter Beteiligung von Experten und Expertinnen der BG BAU, der DGUV, den Sozialpartnern der Bauwirtschaft und staatlichen Stellen entstand, flossen die Erkenntnisse der Auswertungen der BG BAU – speziell zum tödlichen Unfallgeschehen – mit ein. Die neue Unfallverhütungsvorschrift konnte so erheblich gestrafft und – fokussiert auf die bedeutsamen Ursachen für schwere und tödliche Arbeitsunfälle – auf nur 13 Paragrafen beziehungsweise Kernbereiche reduziert werden. Zu den wichtigsten Themen gehören die Standsicherheit und Tragfähigkeit von Bauteilen, bestehende Anlagen und Verkehrsgefahren, der Betrieb von selbstfahrenden Arbeitsmitteln und Fahrzeugen auf Baustellen, Absturz oder auch die Gefahr durch herabfallende Gegenstände.  

Um eine Verhaltensänderung der Beschäftigten herbeizuführen, reichen bloße Statistiken und Daten nicht aus. Vielmehr müssen zusätzlich Unfallberichte, hinter denen jeweils persönliche Schicksale stehen, ausgewertet werden. Beim Thema Arbeitsschutz geht es nicht nur um Zahlen, sondern vor allem um Menschen. Gerade in der Kommunikation gilt es, aus den Zahlenwerken menschliche Geschichten zu machen, um die gewonnenen Erkenntnisse erfolgreich für die Präventionsleistungen Beratung, Überwachung und Information nutzen zu können.

Auswirkungen auf Präventionsleistungen der BG BAU

Die unterschiedlichen Auswertungen berühren die gesamte Palette der Präventionsleistungen im Sinne eines ständigen Verbesserungsprozesses. Die BG BAU entwickelt ihr Präventionsverständnis entlang der Kundenbedürfnisse ohnehin stetig weiter, um den Betrieben mit ihren Versicherten auch bei Arbeitsplätzen im Wandel – etwa durch Digitalisierung beziehungsweise Transformation, geänderte Wettbewerbsbedingungen und demografische Herausforderungen – optimale Präventionsleistungen anbieten zu können.

Die ermittelten Schwerpunkte Absturzsicherung, Staubreduzierung, Asbest und Schutz vor natürlicher UV-Strahlung finden sich in fast allen Präventionsleistungen wieder. Auch plötzlich auftretende Häufungen bei Unfällen mit bestimmten Maschinen und Arbeitsmitteln, wie etwa dem nicht bestimmungsgemäßen Einsatz bestimmter Anschlagmittel beim Umgang mit langen Rammelementen, werden in Forschungs- und Entwicklungsvorhaben aufgegriffen.

Zu beachten ist hierbei, dass mit umfangreichen Präventionsmaßnahmen die Mehrfachansprache von gleichen Zielgruppen verbunden ist, die Überschneidungen von Themen und Maßnahmen mit sich bringt. Insofern ist hier eine Beschränkung auf relevante Aspekte wichtig, um die Akzeptanz von Präventionsansätzen und -programmen bei Betrieben, Versicherten und Aufsichtspersonen nicht zu verlieren. Weniger kann hier an manchen Stellen mehr sein.

Tabelle 1: Präventionsleistungen | © DGUV
Tabelle 1: Präventionsleistungen ©DGUV

Im Rahmen der Präventionsleistungen haben die Berufsgenossenschaften Anreizsysteme entwickelt, mit deren Hilfe besondere Anstrengungen und Maßnahmen im Bereich des Arbeitsschutzes honoriert werden. Die Arbeitsschutzprämien der BG BAU orientieren sich unmittelbar am Unfall- und Berufskrankheitengeschehen der Bauwirtschaft und zielen auf die Reduktion von Gefahren auf Baustellen, sicherere Handmaschinen, Zusatzausrüstungen für Baumaschinen und Baustellen-Lkws, Maßnahmen zur Reduzierung von körperlichen Belastungen sowie Maßnahmen zur Organisation des Arbeitsschutzes und der Qualifikation von Beschäftigten ab. Da der Absturzprävention eine herausragende Rolle aus der Kennzahlenanalyse zukommt, wurden entsprechende Unterstützungsangebote für genau diese „gefährlichen“ Arbeitsplätze und Tätigkeiten abgeleitet.

Tabelle 2: Anreizsystem – Arbeitsschutzprämien gegen Absturz | © BG BAU
Tabelle 2: Anreizsystem – Arbeitsschutzprämien gegen Absturz ©BG BAU

Mithilfe der beitragsabhängigen und beitragsunabhängigen Förderungen[6] der Betriebe werden insbesondere Kleinst- und Kleinbetriebe zu extra Anstrengungen und Investitionen in den Arbeitsschutz motiviert. Die Aussicht auf Nutzen bestimmt das Handeln von Menschen und so unterstützen die Arbeitsschutzprämien die Betriebe dabei, den Nutzen der Arbeitsschutzinvestitionen noch deutlicher zu erkennen, als es der abstrakte Return on Investment (ROI) bei Investitionen in den Arbeitsschutz vermag. Dieser beträgt gemäß Kosten-Nutzen-Analysen einiger Studien 1,5 bis 2,2. Wie wirksam dieser Ansatz in der Praxis ist, zeigt sich zum Beispiel in der Werbung von Unternehmen der Fassaden- und Fensterreinigung. Sie veröffentlichen neuerdings fast ausschließlich Bilder, auf denen Arbeiten mit Teleskopstangen- statt mit Leitereinsatz zu sehen sind. Die Arbeitsschutzprämien unterstützen wirksam das Einfordern von Arbeitsschutzmaßnahmen durch Fördern.

Die Betriebsbesichtigung als Teil der Überwachungs- und Beratungsleistung gilt als besonders „geeignetes Mittel“ der Prävention. Sie ist elementar für die Tätigkeit der Präventionsdienste, da die hoheitlichen Befugnisse der Aufsichtspersonen es ermöglichen, Betriebe eigeninitiiert und zielgerichtet zu erreichen. Sie sollen dort Präsenz zeigen, wo risikobasiert beziehungsweise bedarfsorientiert der größte Präventionsbedarf besteht. Die Besichtigungen erfolgen einerseits anlassbezogen, aber andererseits auch aufgrund einer Priorisierung entsprechend dem angenommenen Risiko. Dieser risikoorientierte Ansatz dient auch dem effizienten Ressourceneinsatz der BG BAU. Daher kommen auch hier Kennzahlensysteme zum Einsatz, um zum Beispiel Betriebe mit mehrjährigen Beitragszuschlägen, das heißt hohem Unfallgeschehen, herauszufiltern und individuell zu ganzheitlichen Themen zu beraten. Ziel ist es, diese Betriebe zur Verbesserung des betrieblichen Arbeitsschutzes zu motivieren. Mit dem Beitragszuschlagsverfahren soll erreicht werden, dass Unternehmen mit hoher Unfalllast zusätzlich zum Beitrag zu weitergehenden Zahlungen herangezogen werden können, um finanzielle Lasten gerechter zu verteilen. Unternehmen, die aufgrund von Arbeitsunfällen überdurchschnittlich hohe Aufwendungen verursachen, zahlen deshalb einen Zuschlag von bis zu 30 Prozent des individuellen Beitrags. Dies entlastet langfristig Unternehmen, die ein geringes oder kein Unfallgeschehen aufweisen, und schafft zugleich einen Anreiz für Unfallverhütung.

Dieser Ansatz auf Basis des Zuschlagsverfahrens lässt sich mithilfe von geeigneten Kennzahlensystemen weiter verfeinern, um zum Beispiel regionale Listen beratungsbedürftiger Betriebe mit einem hohen Unfallaufkommen und/oder strukturellen Schwächen (Anordnungen, Bußgelder, Regress und Ähnlichem) zu erstellen. Analysiert und bewertet werden Betriebe, die in vergangenen Jahren auffällig geworden sind, das heißt Betriebe, die im Referenzjahr

  • (meldepflichtige) Arbeitsunfälle oder
  • Heilbehandlungskosten für Arbeitsunfälle oder
  • einen Beitragszuschlag oder
  • Anordnungen oder Ordnungswidrigkeitsverfahren

hatten.

Ziel ist es, in jeder Betriebsgrößenklasse die Betriebe zu besichtigen und zu beraten, die überdurchschnittliche Unfalllasten und/oder Unfallhäufigkeiten aufweisen.

Wissenstransfer

Das konkrete Wissen eines Trägers der gesetzlichen Unfallversicherung über seine Branchen ist ein zentraler Vorteil des Sozialversicherungssystems in Deutschland, das im internationalen Vergleich zu niedrigen Beiträgen und guter Arbeitsschutzperformance führt. Die DGUV-Fachbereiche, in denen Aufsichtspersonen und sonstige Präventionsfachleute der Unfallversicherungsträger, Vertretungen der DGUV und ihrer Institute, Vertretungen der Sozialpartner, des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS), der Länder, der Hersteller und Betreiber sowie besondere Sachverständige mitwirken, erarbeiten eine für alle Unfallversicherungsträger verbindliche, einheitliche und gesicherte Fachmeinung zu Präventionsthemen. Bei dieser Arbeit in den DGUV-Fachbereichen und bei der Kooperation im Rahmen der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) kommt der Kennzahlenanalyse und -auswertung eine immer wichtigere Rolle zu.

Auch dienen die auf Branchen spezialisierten Träger der gesetzlichen Unfallversicherung mit ihrem Fachwissen als eine Art Frühwarnsystem für Wirtschaft, Wissenschaft und Politik, da sie die relevanten Entwicklungen der Arbeitswelt frühzeitig erkennen, untersuchen und mit ihren Expertinnen sowie Experten entsprechende Gegenmaßnahmen entwickeln können.

Grenzen der Datenerhebung und -analyse

Seit es die gesetzliche Unfallversicherung gibt, ist asymmetrische Information eines ihrer Kernprobleme. Stets verfügen Mitgliedsbetriebe und Versicherte über bessere Informationen zur Einschätzung der individuellen beziehungsweise betrieblichen Risiken als der jeweilige Unfallversicherungsträger. Dieser berechnet die durchschnittlichen Risiken für die Gesamtheit und für einzelne Gruppen, was zwar dem Gedanken der Solidargemeinschaft Rechnung trägt, aber individuelle Prävention erschwert. Mithilfe von Mustererkennungen auf Basis einer Unfall-Vollerfassung wird es zunehmend möglich sein, die Präventionsperformance von jedem Betrieb und jedem Versicherten zu analysieren und mittels Überwachung und Beratung positiv zu beeinflussen, aber auch zu sanktionieren. Vermutlich wird dieser innovative Ansatz auf hohe Akzeptanz bei den Betrieben mit ihren Versicherten treffen, aber auch kritische Fragen aufwerfen, beispielsweise „Wie weit dürfen Datenanalyse und Datenauswertung gehen?“ und „Wie weit will eine Solidargemeinschaft das Fehlverhalten Einzelner tolerieren?“ Bislang fließt wegen der großen Anzahl der zu verschlüsselnden Merkmale nur eine Stichprobe von annähernd 6,7 Prozent der meldepflichtigen Unfälle in die Unfallstatistik der DGUV ein, die anschließend auf die Referenzzahlen der Arbeits- und Wegeunfälle hochgerechnet werden.

Transformation durch Digitalisierung

Digitalisierung verändert die Arbeitswelt. Auch in der öffentlichen Verwaltung und in der gesetzlichen Unfallversicherung wird sie eine immer größere Rolle spielen. Das wirft viele neue Fragen auf, etwa die Frage nach dem möglichen Nutzen der Digitalisierung für die Präventionsarbeit. Intelligente Systeme sind in der Lage, große Datenmengen zu analysieren und Muster zu erkennen, Dokumente auszulesen und dabei Fachwissen zu möglichen Problemen zur Vorbereitung von Entscheidungen aufzubereiten. Dadurch werden sich Zeitabläufe massiv verkürzen, die Qualität des Verwaltungs- und Präventionshandelns wird sich spürbar verbessern und auch die personellen Ressourcen von Verwaltungen und Arbeitsschutz werden sich verändern. An den Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) in der Verwaltung und der Präventionsarbeit der Unfallversicherungsträger müssen hohe Anforderungen gestellt werden, die zunächst in intensiven Diskursen entwickelt und als selbstverpflichtende Leitlinien für die Praxis konkretisiert werden müssen. KI-Projekte sind immer dann erfolgreich, wenn sie auf Basis großer Datenmengen – also auch Daten von Dritten – umgesetzt werden, was eine Fülle an zu bewältigenden Herausforderungen bei der Einhaltung von Anforderungen des Datenschutzes und der Datenqualität mit sich bringt.

Daten sind Rohstoffe. Die Herausforderung liegt darin, sie sinnvoll aufzubereiten, um sie bestmöglich nutzen zu können. Das in diesem Beitrag beschriebene Vorgehen der Prävention der BG BAU bei der Nutzung von Kennzahlen aus dem Arbeitsunfall- und Berufskrankheitengeschehen wird sich schon bald dank neuer Analysemethoden von deskriptiven Analysen[7] (gespeist aus historischen Daten) zu prädiktiven[8] (modelliert aus vorhandenen und neuen Daten) weiterentwickeln. Mithilfe statistisch-mathematischer Modelle und KI-Unterstützung werden relevante Muster in den Datensätzen noch besser erkannt, beschrieben und ausgewertet werden können als heute und mit Daten aus globalen Netzwerken ergänzt werden. An der hier vorgestellten Vorgehensweise wird sich jedoch grundsätzlich nichts ändern. Es geht darum, sogenannte unstrukturierte Daten aus Datensilos zu erfassen und aufzubereiten mit dem Ziel, hieraus Erkenntnisse für die heutige sowie morgige Präventionsarbeit zu ziehen. Ziel ist dabei stets die Vision Zero – eine Welt ohne tödliche oder schwere Arbeitsunfälle.