Passivrauchen am Arbeitsplatz – eine neue Berufskrankheit als Herausforderung für die Unfallversicherungsträger
Über viele Jahre war Tabakrauch in vielen Lebensbereichen allgegenwärtig – auch an Arbeitsplätzen. Die Berufskrankheit "Passivrauchen am Arbeitsplatz" stellt die Unfallversicherungsträger vor die Aufgabe, eine einheitliche und objektive Bewertung der berufsbedingten Belastung zu sichern.
Einleitung
Die gesellschaftliche Stellung des Rauchens hat sich in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend gewandelt. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts wurde das Rauchen nicht selten in Verbindung mit Erfolg vermarktet. Mann war "cool, lässig, ein echter Mann", wenn man rauchte, die Zigarette für die Frau war schlank, lang und ein modisches Accessoire. Viele werden sich noch an den Cowboy als Werbefigur erinnern, der rauchend über die Prärie in den Sonnenuntergang ritt oder sich die Zigarette mit einem Holzscheit aus dem Lagerfeuer anzündete.
Und heute? Niemand wird bestreiten, dass Tabakrauch gesundheitsschädlich ist. Beim Verbrennen beziehungsweise Verglimmen von Tabak in Zigaretten, Zigarren, Zigarillos oder Pfeifen entsteht ein hochkomplexes Gemisch aus mehr als 4.000 Verbindungen, von denen viele nachgewiesenermaßen krebserregend sind, was letztendlich zu dem hohen Risiko einer Lungenkrebserkrankung führt. Wissenschaftliche Untersuchungen führen circa 90 Prozent der Lungenkrebserkrankungen bei Männern und 65 Prozent bei Frauen auf aktives Rauchen zurück.[1]
Während aktives Rauchen eine persönliche Entscheidung ist, stellt sich die Situation bei nicht rauchenden Personen anders dar. Sie sind den beim Rauchen frei werdenden Gefahrstoffen in der Regel unfreiwillig ausgesetzt. Auch nicht rauchende Personen haben ein erhöhtes Krebsrisiko, wenn sie Tabakrauch regelmäßig und in erhöhtem Maße ausgesetzt sind. Dieses passive Rauchen gilt als dritthäufigste Ursache für eine Lungenkrebserkrankung.[2]
Der Ärztliche Sachverständigenbeirat 'Berufskrankheiten' hat empfohlen, 'Lungenkrebs nach langjähriger und intensiver Passivrauchexposition am Arbeitsplatz bei Versicherten, die selbst nie oder maximal bis zu 400 Zigarettenäquivalente aktiv geraucht haben' in die Anlage 1 der Berufskrankheitenverordnung aufzunehmen.
Weltweit wurden im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts weitgehende Rauchverbote mit der Maßgabe erlassen, nicht rauchende Personen vor den krebserzeugenden Inhaltsstoffen des Tabakrauches zu schützen. In zahlreichen Bereichen wie zum Beispiel in Gaststätten, Bürobereichen oder auch öffentlichen Gebäuden wurden Rauchverbote durchgesetzt. Heute ist das Rauchen praktisch nur noch in Außenbereichen möglich und auch hier zeichnen sich weitergehende Verbote ab beziehungsweise sind erste Einschränkungen längst durchgesetzt.
Nichtsdestotrotz können nicht rauchende Personen über viele Jahrzehnte unfreiwillig Tabakrauch ausgesetzt gewesen sein. Dies trifft auch auf den beruflichen Sektor zu, wo es je nach Situation zu erheblichen Belastungen gekommen sein kann. Wer erinnert sich nicht an völlig verrauchte Gaststätten und Diskotheken oder das stark rauchende Teammitglied am Schreibtisch gegenüber, um nur einmal die bekanntesten Beispiele zu nennen.
Nikotin als Leitsubstanz für die Tabakrauchkonzentration
Bei komplexen Substanzgemischen wie Tabakrauch ist es praktisch unmöglich, mit vertretbarem Aufwand alle enthaltenen Komponenten zu erfassen und deren Einzelgehalte zu bestimmen. In solchen Fällen werden bestimmte Substanzen als Leitkomponenten ausgewählt, die charakteristische Bestandteile des Gemisches sind und deren Gehalt in einer direkten Beziehung mit der Emission des Gemisches steht. Es ist dabei nicht notwendig, dass diese Substanz diejenige mit dem größten Gefährdungspotenzial ist. Im Vordergrund stehen analytische Aspekte: Die Substanz sollte möglichst repräsentativ sein, gut erfasst und analytisch robust nachgewiesen werden können.
Die Eignung von Nikotin als Leitkomponente für die Tabakrauchexposition hat Hammond[3] sehr klar dargestellt. Für Nikotin gibt es in der Raumluft keine weiteren Emissionsquellen als Tabakprodukte. Nikotin ist, obwohl selbst nicht krebserregend, daher eine nahezu ideale spezifische Leitkomponente. Andere potenzielle Leitkomponenten sind entweder nicht spezifisch wie zum Beispiel Feinstaub (alle Verbrennungsprozesse setzen Feinstaub frei) oder analytisch deutlich schwieriger nachzuweisen wie Acrylnitril, das ebenfalls beim Rauchen freigesetzt wird.
Wichtig ist vor allem die Korrelation von Nikotin im Tabakrauch zu den krebserzeugenden Inhaltsstoffen. Das konnte in zahlreichen Studien zu polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen, aromatischen Aminen, tabakspezifischen Nitrosaminen oder Benzol gut belegt werden.[4][5] Auch zu leichter flüchtigen Substanzen wie Acrylnitril oder Formaldehyd wurden sehr gute Korrelationen nachgewiesen.[6][7]
Die Berufskrankheit Lungenkrebs durch Passivrauchen am Arbeitsplatz
In Deutschland wurde eine lange und intensive Diskussion darüber geführt, inwieweit die berufliche Exposition gegenüber Tabakrauch als Ursache für eine Berufskrankheit angesehen werden kann. Letztendlich hat der Ärztliche Sachverständigenbeirat "Berufskrankheiten"[8] (ÄSVB) beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) am 29. März 2019 eine wissenschaftliche Begründung vorgelegt und empfohlen, "Lungenkrebs nach langjähriger und intensiver Passivrauchexposition am Arbeitsplatz bei Versicherten, die selbst nie oder maximal bis zu 400 Zigarettenäquivalente aktiv geraucht haben" als neue Berufskrankheit in die Anlage 1 der Berufskrankheitenverordnung (BKV) aufzunehmen[9][10]:
- Die Berufskrankheit (BK) gilt für Personen, die an einem Lungenkrebs erkranken und in ihrem Leben niemals geraucht haben, also als sogenannte "Nieraucher" anzusehen sind. Da schon eine kleinere Zahl aktiv gerauchter Zigaretten das Risiko einer Krebserkrankung deutlich erhöht, hat der ÄSVB die Obergrenze für aktiv gerauchte Zigaretten auf maximal 400 festgelegt.
- Die Exposition gegenüber Tabakrauch muss über viele Jahre vorgelegen haben und intensiv gewesen sein. Hier hat die wissenschaftliche Ableitung ergeben, dass eine langjährige Passivrauchexposition anzunehmen ist, wenn eine intensive Einwirkung durch Tabakrauch von mindestens 40 Jahren nachgewiesen werden kann. "Intensiv" ist die Einwirkung, wenn eine Nikotinkonzentration in der Raumluft von mindestens 50 [μg Nikotin/m³] nachgewiesen werden kann. Rein rechnerisch muss also eine Gesamtkonzentration von 2.000 [µg Nikotin/m³ × Jahre] vorliegen.
Expositionsabschätzung
Für die Anerkennung von Berufskrankheiten ist es notwendig, die Dosis der jeweiligen Person abzuschätzen. Die Nikotinkonzentration [CN] in der Raumluft errechnet sich dabei aus der Nikotinemission [EN] einer Zigarette, der Anzahl der gerauchten Zigaretten pro rauchender Person und Stunde [Nz], dem sogenannten Depositionsfaktor für Nikotin [DN], der Raucherdichte [DR] sowie dem Luftwechsel [n] und kann über folgende Gleichung (1) bestimmt werden[11][12]:
In die Raucherdichte gehen die Anzahl der rauchenden Personen in einem Raum und die Raumgröße ein. Der ÄSVB hat in seiner Begründung für die Berechnung einige Eckpunkte festgelegt: So ist von einer Nikotinemission von 1,4 mg (1.400 µg) pro Zigarette und einem Depositionsfaktor für Nikotin auf Oberflächen von 0,8 auszugehen. Auch für die Rauchintensität wird davon ausgegangen, dass eine rauchende Person pro Stunde zwei Zigaretten raucht. Dies entspräche nach dem Bundes-Gesundheitssurvey über das Rauchverhalten in Deutschland bereits einer stark rauchenden Person mit mehr als 20 gerauchten Zigaretten pro Tag[13]; wobei von diesem Wert bei genauerer Kenntnis im individuellen Fall abgewichen werden kann. Eine sehr stark rauchende Person kann durchaus drei oder vier Zigaretten pro Stunde geraucht haben, eine weniger stark rauchende Person auch nur eine Zigarette pro Stunde.
Für die Höhe der Tabakrauchkonzentration in der Raumluft am Arbeitsplatz ist neben der Anzahl der vor Ort tätigen aktiv rauchenden Personen (Raucherquote) auch die Art der ausgeübten Tätigkeit(en) von Belang.
Mit dieser Formel kann die Nikotindosis an einem individuellen Arbeitsplatz abgeschätzt werden, im abschließenden Schritt muss dann noch die langfristige Dosis
berechnet werden, indem die Einzelbeiträge der verschiedenen Tätigkeitszeiträume nach Gleichung (2) addiert werden, wobei der jeweilige Schichtanteil am Arbeitsplatz [SchAAP] und der Zeitraum der Beschäftigung [DtAP] zu berücksichtigen sind.
Im Grunde handelt es sich um eine recht einfache Berechnung, vorausgesetzt, die für die Berechnung notwendigen Daten sind bekannt. In den vergangenen Jahren hat sich eine Arbeitsgruppe der DGUV unter Beteiligung zahlreicher Unfallversicherungsträger, mit Fachleuten des Instituts für Prävention und Arbeitsmedizin (IPA), der Abteilungen Sicherheit und Gesundheit (SIGE), Versicherung und Leistungen (VL) unter Federführung des Instituts für Arbeitsschutz (IFA) intensiv mit der möglichen Exposition gegenüber Tabakrauch in Arbeitsbereichen befasst. Die Arbeitsgruppe hat nun eine Handlungsempfehlung mit zahlreichen unterstützenden Hinweisen erstellt, wie bei einer BK-Sachbearbeitung vorgegangen werden sollte.[14]
Expositionsabschätzungen in verschiedenen Arbeitsbereichen
Für die Höhe der Tabakrauchkonzentration in der Raumluft am Arbeitsplatz ist neben der Anzahl der vor Ort tätigen aktiv rauchenden Personen (Raucherquote) auch die Art der ausgeübten Tätigkeit(en) von Belang.
Klassifizierung von Arbeitsplätzen
Bereits vor der Einführung der Nichtraucherschutzgesetze gab es Tätigkeiten, bei denen die Exposition gegenüber Tabakrauch gänzlich oder weitgehend ausgeschlossen war.
- Im untertägigen Steinkohlenbergbau oder Reinräumen war das Rauchen streng untersagt und eine berufsbedingte Exposition kann von vornherein ausgeschlossen werden.
- In explosionsgeschützten Bereichen, an Arbeitsplätzen mit hohen Hygieneanforderungen oder bei streng getakteten Arbeiten wie zum Beispiel Fließbandarbeiten war das Rauchen nur in speziellen Räumen oder ausgewiesenen Zeiten (Pausen) möglich. Hier konnten die Beschäftigten nur in Aufenthaltsräumen, Messwarten, Meisterbüros oder Lehrerzimmern Tabakrauch zeitlich begrenzt ausgesetzt sein.
Demgegenüber stehen Arbeitsplätze, bei denen eine täglich mehrstündige Exposition bestehen kann oder konnte, wobei
- zum Beispiel an Außenarbeitsplätzen oder Arbeitsplätzen in Werkhallen mit technischer Lüftung aufgrund der Verdünnung des Tabakrauches in den großen Bilanzräumen nur eine geringe Belastung vorlag. Auch hier waren intensive Expositionen nur zeitlich begrenzt in speziellen Räumen wie zum Beispiel Aufenthaltsräumen, Messwarten, Meisterbüros oder Bauwagen möglich.
Es verbleiben aber immer noch zahlreiche Bereiche, in denen eine berufsbedingte Exposition vorhanden sein konnte beziehungsweise teilweise noch vorliegen kann. Diese Arbeitsbereiche müssen genau betrachtet werden, dazu zählen
- zum Beispiel kleinere Büros oder Großraumbüros, Callcenter, die gesamte Innengastronomie, Fahrerkabinen bei Berufskraftfahrern und -fahrerinnen, kleinere Werkstätten oder auch Messwarten mit Blick auf das Bedienpersonal.
Einige dieser Beispiele sind zum Zeitpunkt der Ersterstellung dieser Handlungsempfehlung durchaus noch aktuell, so ist in einigen Bundesländern in speziellen Gaststätten, in Nebenräumen von Gaststätten oder auch in Spielcasinos das Rauchen noch erlaubt. Andere Berufe, bei denen früher am Arbeitsplatz geraucht werden durfte, fallen heute möglicherweise in die Gruppe mit Exposition gegenüber Tabakrauch in speziellen Räumen.
Es ist auch nicht auszuschließen, dass zum Beispiel das Bedienpersonal in Spezialräumen wie Messwarten über eine Arbeitsschicht länger einer Einwirkung gegenüber Tabakrauch ausgesetzt war beziehungsweise noch ist, weil diese Räume als Raucherraum zweckentfremdet wurden oder immer noch werden.
Beispiele
In der Handlungsempfehlung sind 25 Beispiele zur Expositionsabschätzung ausführlich dargestellt. Vor allem wurden für die wohl am häufigsten betroffenen Arbeitsplätze im Büro- und Gastronomiebereich die wichtigsten Szenarien unter Anwendung der Vorgaben des ÄSVB exemplarisch berechnet. Der kritische Wert der intensiven Exposition von 50 µg/m³ wird nur in Einzelfällen bei Diskotheken überschritten.[15]
Für andere Bereiche erhält man aber durchaus Ergebnisse in einer Größenordnung, dass schon bei kleineren Änderungen in den Grundannahmen, wie zum Beispiel einer geringeren Raumgröße, einer schlechteren Belüftung oder einer größeren Anzahl von gerauchten Zigaretten, diese Grenze durchaus überschritten werden kann.
Neben den oben genannten Arbeitsplätzen wurden auch Sonderfälle wie zum Beispiel Pausenräume betrachtet. In Pausenräumen kann es zwar kurzzeitig zu sehr hohen Nikotinkonzentrationen kommen, letztendlich führt aber die kurze Aufenthaltsdauer dazu, dass bezogen auf die Schicht keinesfalls eine intensive Exposition resultiert.
Das IFA hat in der BK-Anamnese-Software ein Modul zur Berechnung der kumulativen Nikotinexposition bei einer Exposition gegenüber Tabakrauch am Arbeitsplatz (Passivrauchen) erarbeitet. Dieses Modul wird mit dem nächsten Softwareupdate verfügbar sein.
Etwas anders stellt sich die Situation zum Beispiel in Messwarten oder Meisterbüros dar, hier können, falls eine höhere Grundlast vorliegt, die "Zigaretten zwischendurch" von Kolleginnen und Kollegen die Gesamtlast für das nicht rauchende Bedienpersonal in den Bereich der intensiven Exposition verschieben.
Im Verkehrswesen sind die Raumvolumina etwa im Vergleich zu Büroräumen in der Regel sehr klein. Eine Fahrerkabine in Lastkraftwagen oder Transportern oder die Brücke eines Schiffes haben nur wenige Kubikmeter Volumen, damit ist der Bilanzraum sehr klein und trotz in der Regel recht hoher Luftwechselzahlen in diesen Fahrzeugen können durchaus beachtenswerte Nikotinkonzentrationen resultieren.
BK-Software
Im Fall der Exposition gegenüber Tabakrauch in der Raumluft werden einerseits Informationen aus der Arbeitshistorie der Versicherten benötigt, die gegebenenfalls nur eingeschränkt ermittelbar sein können. Dazu gehören zum Beispiel die Anzahl der rauchenden Personen im Arbeitsbereich, die Lüftungssituationen vor Ort, die Größe der mit Tabakrauch exponierten Arbeitsräume, die Expositionszeit je Schicht. Andererseits fließen rauchspezifische Parameter aus der Wissenschaftlichen Begründung der Berufskrankheit "Lungenkrebs durch Passivrauchen" ein. Dazu gehören die Nikotinemission je Zigarette, der Depositionsfaktor und die Anzahl der gerauchten Zigaretten pro rauchender Person und Stunde. Wenn möglich sollte die Anzahl der gerauchten Zigaretten pro rauchender Person und Stunde für den Einzelfall angepasst werden, schließlich handelt es sich dabei um die Zahl, die das Endergebnis der Berechnung bei Weitem am stärksten beeinflusst. Der ÄSVB ist zwar von einer stark rauchenden Person als "Quelle" ausgegangen, aber da ist die reale Bandbreite viel größer.
Um die Unfallversicherungsträger bei der Abschätzung der Einwirkung durch Tabakrauch in jedem individuellen Fall zu unterstützen, hat das IFA in der BK-Anamnese-Software im Programmteil Gefahrstoffe ein Modul zur Berechnung der kumulativen Nikotinexposition bei einer Exposition gegenüber Tabakrauch am Arbeitsplatz (Passivrauchen) erarbeitet. Dieses Modul wird mit dem nächsten Softwareupdate verfügbar sein.