Neues zu asbestbedingten Berufskrankheiten: Update der AWMF-S2k-Leitlinie „Diagnostik und Begutachtung asbestbedingter Berufskrankheiten“
Begutachtungsempfehlungen der DGUV und wissenschaftliche Leitlinien nach AWMF-Schema zu Berufskrankheiten werden in einem gemeinsamen Prozess entwickelt und überarbeitet. Der Beitrag gibt einen Überblick über die wesentlichen Neuerungen und Änderungen der aktualisierten Asbest-Leitlinie.
Einführung
Um eine sach- und fachgerechte ärztliche Begutachtung von Berufskrankheiten auf der Basis des aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu gewährleisten, erstellt und überarbeitet die DGUV in regelmäßigen Abständen Begutachtungsempfehlungen.
Zur Erarbeitung von Leitlinien und Begutachtungsempfehlungen hatte die DGUV 2009 in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (DGAUM) und der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP) die „Gemeinsame Empfehlung bei der Entwicklung von Leitlinien und Empfehlungen zur Begutachtung von Berufskrankheiten“[1] veröffentlicht. Danach sind in einem ersten Schritt die relevanten medizinischen Aspekte der Berufskrankheit zu klären. Dies erfolgt, soweit geboten, in Form einer medizinischen Leitlinie nach AWMF-Standard[2]. Verantwortlich für die Erstellung der Leitlinie sind die organ- beziehungsweise krankheitsspezifischen Fachgesellschaften unter Beteiligung der DGUV. Die unfallversicherungsrechtlichen Belange werden in einem zweiten Schritt in einer Begutachtungsempfehlung bearbeitet, die unter der Federführung der DGUV steht.
Ein bekanntes Beispiel für diese bewährte Vorgehensweise sind die AWMF-S2k-Leitlinie „Diagnostik und Begutachtung asbestbedingter Berufskrankheiten“ und die „Empfehlung für die Begutachtung asbestbedingter Berufskrankheiten – Falkensteiner Empfehlung“ (im Folgenden: Falkensteiner Empfehlung), die 2011 erstmals publiziert wurden.
Wegen der in der praktischen Anwendung von Leitlinie und Falkensteiner Empfehlung gewonnenen Erfahrungen in der Begutachtung asbestbedingter Berufskrankheiten und des aktuellen medizinischen Erkenntnisstandes war es geboten, die Publikationen auf entsprechend anzupassen.
Wissenschaftliche Leitlinien
Wissenschaftliche Leitlinien sind systematisch entwickelte Hilfen für Ärztinnen und Ärzte sowie Patientinnen und Patienten zur Entscheidungsfindung bei bestimmten Krankheiten. Sie beruhen auf aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen zu Diagnostik und Therapie sowie in der Praxis bewährten Verfahren und sollen für mehr Sicherheit in der Medizin sorgen, aber auch ökonomische Gesichtspunkte berücksichtigen.
Medizinische Leitlinien zur Begutachtung von Berufskrankheiten spiegeln den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Diagnostik, zur Feststellung von Funktionseinschränkungen und zur Beurteilung von Ursachenzusammenhängen zwischen Einwirkung und Erkrankung sowie zwischen Erkrankung und Funktionseinschränkungen.[3] Der Grad der Wissenschaftlichkeit hängt vom gewählten Evidenzgrad beziehungsweise der Stufenklassifikation der Leitlinie ab.[4] Leitlinien unterscheiden sich von anderen Quellen aufbereiteten Wissens (zum Beispiel Systematic Reviews) durch die Formulierung von klaren Handlungsempfehlungen, in die auch eine klinische Wertung der Aussagekraft und Anwendbarkeit von Studienergebnissen eingeht.[5]
AWMF-S2k-Leitlinie „Diagnostik und Begutachtung asbestbedingter Erkrankungen“
Eine S2k-Leitlinie ist eine konsensbasierte Leitlinie („k“), die einen strukturierten, von der AWMF definierten Prozess der Konsensfindung durchlaufen hat.[6]
Die Arbeiten am Update der Asbest-S2k-Leitlinie begannen 2016 unter Federführung von DGAUM (Prof. Dr. med. Thomas Kraus, Aachen) und DGP (Prof. Dr. med. Helmut Teschler, Essen) und wurden im November 2020 abgeschlossen. Das Leitlinien-Update ist auf der AWMF-Homepage verfügbar[7]. Anfang 2021 wurden die wesentlichen neuen Aspekte zudem unter Bezugnahme auf die Online-Publikation der Leitlinie in den medizinischen Fachzeitschriften „Pneumologie“ und „Arbeits- Sozial- und Umweltmedizin“ veröffentlicht.
Update 2020
Im Folgenden werden die wesentlichen Neuerungen und Anpassungen des Leitlinien-Updates zusammenfassend dargestellt.
Arbeitsanamnese
Der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) hatte 2015 eine Publikation zu asbesthaltigen Putzen, Spachtelmassen und Fliesenklebern veröffentlicht.[8] Obwohl die Asbestgehalte in Spachtelmassen und Klebern in der Regel gering sind, können bei ihrer Verarbeitung sowohl beim Erstgewerk als auch bei Abbruch und Sanierung erhöhte Faserkonzentrationen freigesetzt werden. Diese möglichen Expositionen sollen bei Personen aus entsprechenden Berufen beziehungsweise Tätigkeiten und Gewerbezweigen nunmehr im Rahmen einer qualifizierten Arbeitsanamnese Berücksichtigung finden.
Schnittstelle zum erweiterten Vorsorgeangebot der DGUV
Der National Lung Screening Trial (NLST, USA 2011) hatte gezeigt, dass Personen mit einem bestimmten Risikoprofil (Raucherstatus, Alter) für das Auftreten von Lungenkrebs von jährlichen Untersuchungen mittels hochauflösender Niedrigdosis-Volumen-Computertomographie (LD-HRCT) profitieren können. Die Ergebnisse des NLST veranlassten die DGUV 2012, ein entsprechendes Angebot zur erweiterten Vorsorge für Personen in der nachgehenden Vorsorge und solche mit einer bereits anerkannten BK-Nr. 4103 (Asbestose) nach Anlage 1 der Berufskrankheitenverordnung (BKV) zu entwickeln.
Nach Etablierung des erweiterten Vorsorgeangebots in einem Pilotverfahren, das ab 2014 durchgeführt wurde, bietet die DGUV versicherten Personen mit einem bestimmten Risikoprofil über die GVS (nachgehende Vorsorge) beziehungsweise die Unfallversicherungsträger (Versicherte mit anerkannter BK-Nr. 4103) seit 2017 LD-HRCT-Untersuchungen zur Früherkennung von Lungenkrebserkrankungen an (EVA-Lunge). Das Angebot erfolgt auf Grundlage von § 5 Abs. 3 Satz 2 der Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV) oder § 26 Abs. 2 Nr. 1 Sozialgesetzbuch VII (SGB). Details zu dem Angebot wurden zuletzt im „DGUV Forum“, Ausgabe 1/2020 vorgestellt.[9] Auch weil der Auftrag zur Durchführung des erweiterten Vorsorgeangebots mit einer (Nach-)Begutachtung zeitlich gekoppelt sein kann, wurde das erweiterte Vorsorgeangebot jetzt in das Leitlinien-Update aufgenommen. Durch die Koppelung sollen insbesondere im Hinblick auf den Strahlenschutz Doppeluntersuchungen und unkoordinierte Untersuchungsangebote vermieden werden. Das erweiterte Vorsorgeangebot ersetzt keine (Nach-)Begutachtung.
Biomarker zur Früherkennung von Mesotheliomen
Eine weitere Neuerung in der Leitlinie ist die Berücksichtigung des Einsatzes von Biomarkern zur Früherkennung des malignen Mesothelioms (BK-Nr. 4105). Wissenschaftlich konnte gezeigt werden, dass die Biomarker Mesothelin und Calretinin etwa ein Jahr vor der klinischen Diagnose eines malignen Mesothelioms in prädiagnostischen Plasmaproben ansteigen.[10] Diese Befunde wurden in einem Kollektiv mit anerkannter BK-Nr. 4103 erhoben. Unklar ist derzeit noch, inwieweit Versicherte von einer möglichen Vorverlagerung des Diagnosezeitpunkts profitieren können. Die Leitlinie empfiehlt daher den Einsatz von Biomarkern möglichst nur in Studien, in denen innerhalb von Hochrisikogruppen die Diagnosestadien und die Prognose von Personen mit Screening mit denjenigen von Personen ohne Screening verglichen werden.
Pathologie – Asbestos Airways Disease
Das Leitlinien-Update enthält weiterhin die ursprüngliche Definition der Asbestose nach CAP-NIOSH (College of American Pathologists-National Institute of Occupational Safety and Health). Gleichwohl wurde ein Aspekt einer neuen Definition, die auf der letzten Helsinki-Konferenz 2014 (Wolff et al., 2015)[11] vorgestellt wurde und von Roggli et al. stammt, übernommen: die sogenannte Asbestos Airways Disease, eine mit Asbestkörpern assoziierte, auf die Bronchioluswand beschränkte Fibrose ohne Beteiligung der Alveolarsepten. Eine histologisch gesicherte Asbestos Airways Disease kann lungenfunktionsanalytisch diagnostizierte asbestbedingte obstruktive Funktionseinschränkungen erklären. Nach den Maßgaben des Leitlinien-Updates stellt die Asbestos Airways Disease eine Form der frühen Asbestose dar.
Radiologie
Das Leitlinien-Update erläutert, dass nach einer walisischen Studie ein sogenanntes UIP-Muster (Usual-Interstitial-Pneumonia-Muster) im hochauflösenden Computertomogramm (HRCT) bei Personen mit gesicherter Asbestexposition eher selten zu beobachten ist und dass keine Dosisabhängigkeit zwischen UIP-Muster und Asbestbelastung ableitbar ist. Ein UIP-Muster kann daher nicht als charakteristisch für eine Asbestose angesehen werden. Dies hat zur Konsequenz, dass allein aus der Bildgebung keine eindeutige Asbestose abgeleitet werden kann. Computertomographisch eindeutige Fälle fibrosierender Lungenerkrankungen ohne den gleichzeitigen Nachweis einer asbestbedingten Erkrankung der Pleura können deshalb nicht eindeutig einer Asbestose zugeordnet werden. Sind gleichzeitig Pleuraplaques vorhanden, kann die Diagnose asbestbedingter Veränderungen des Lungengewebes aber hinreichend wahrscheinlich werden.
Klinische Beurteilung und Funktionsdiagnostik
Das Leitlinien-Update enthält eine ausführliche Darstellung zur Methodik der Lungenfunktion, insbesondere zur Bedeutung der Spirometrie inklusive Flussvolumenkurve, der Bodyplethysmographie, der Messung der Diffusionskapazität sowie der Ergometrie beziehungsweise Spiroergometrie. Spirometrische Untersuchungen sind zwar essentieller Bestandteil der Lungenfunktionsdiagnostik im Rahmen der Begutachtung, reichen im Regelfall aber nicht aus, da sie stark mitarbeitsabhängig und weniger sensitiv als die Ganzkörperplethysmographie (GKP) sind. Insbesondere bei der sogenannten Asbestos Airways Disease kommt der Flussvolumenkurve als sensitivem Indikator einer Flusslimitierung in den kleinen Atemwegen und der Ganzkörperplethysmographie als weitgehend mitarbeitsunabhängiger Methode ein hoher Stellenwert zu.
Des Weiteren wurden die neuen Referenzwerte der Global-Lung-Initiative (GLI) , die die Grenzwerte der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) ersetzten, aus der Spirometrie-Leitlinie übernommen. Dabei sollen nicht nur isolierte Lungenfunktionsparameter für die Beurteilung herangezogen, sondern alle Lungenfunktionsuntersuchungen und -verfahren integrativ betrachtet werden.
Eine zentrale Rolle spielt die Bewertung aller Lungenfunktionsdaten (Spirometrie, Ganzkörperbodyplethysmographie) im Verlauf. In Fällen mit anerkannter Berufskrankheit, bei denen der untere Mindestsollwert (Lower Limit of Normal, LLN) nicht unterschritten wird, deren forcierte Vitalkapazität (FVC) und/oder das forcierte expiratorische Volumen in einer Sekunde (FEV1) aber den individuellen Ausgangswert um zehn Prozent und mehr unterschreitet, ist eine solche Konstellation bei der Bewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) zu berücksichtigen. Dies unterstreicht die Bedeutung der Lungenfunktionsdaten für den zeitlichen Verlauf und die Notwendigkeit, dass die Vorbefunde vollständig in den Akten verfügbar sind.
Eierstockkrebs
Zum 1. August 2017 wurde die BK-Nr. 4104 um die maligne Erkrankung „Eierstockkrebs“ erweitert. Neben einer kurzen Darstellung der Anerkennungskriterien und der wissenschaftlichen Grundlagen enthält das Leitlinien-Update den Entwurf einer vorläufigen MdE-Tabelle. Die MdE-Tabelle soll bei der anstehenden Überarbeitung der Falkensteiner Empfehlung nochmals diskutiert und gegebenenfalls angepasst werden.
Rehabilitation
Zu den Aufgaben der gesetzlichen Unfallversicherung gehört die Wiederherstellung der Gesundheit und der Leistungsfähigkeit einer versicherten Person nach Eintritt einer Berufskrankheit. Dabei sind die zur Verfügung stehenden Maßnahmen und Behandlungsoptionen in der Diagnostik, Prävention, Akuttherapie und Rehabilitation im Einklang mit den etablierten medizinischen Standards zur jeweiligen Erkrankung durchzuführen. Dem Kapitel Rehabilitation wurde deshalb ein Abschnitt zu akutmedizinischen Behandlungsoptionen vorangestellt. Unter anderem wird auf neuere medikamentöse Ansätze wie beispielsweise die Therapie mit Pirfenidon und Nintedanib eingegangen. Die Sinnhaftigkeit des Einsatzes dieser Medikamente bei einer Asbestose kann nach der aktuellen wissenschaftlichen Datenlage noch nicht abschließend beurteilt werden. Die Leitlinie empfiehlt den Einsatz daher im Rahmen von Studien. Des Weiteren wird erstmals die Lungentransplantation als seltene Option bei schweren Asbestosen thematisiert.
Das Leitlinien-Update gibt detaillierte Empfehlungen zu stationären Rehabilitationen und erstmals auch zur strukturierten Trainingstherapie. Patientinnen und Patienten mit asbestbedingten Erkrankungen können ausweislich der aktuellen wissenschaftlichen Datenlage nicht nur von einer drei- bis vierwöchigen stationären pneumologischen Rehabilitationsmaßnahme, sondern auch von einer strukturierten ambulanten Trainingstherapie, die über das Leistungsspektrum von Lungensport hinausgeht, profitieren.
Forschungsbedarf und Empfehlungen
Der AWMF-Standard sieht für Leitlinien ein Kapitel zu erkanntem Forschungsbedarf vor. Das Leitlinien-Update enthält verschiedene Empfehlungen, unter anderem, zu prüfen, ob asbestbedingte präinvasive Läsionen des Lungenkarzinoms und des Larynxkarzinoms analog zu den präinvasiven Läsionen des Harnblasenkarzinoms (BK-Nr. 1301) und des UV-bedingten Plattenepithelkarzinoms der Haut (BK-Nr. 5103) als BK-Nr. 4104 anerkannt werden können. Ferner wird angeregt, die Verdopplungsdosis bei BK-Nr. 4104 durch eine aktuelle Literaturauswertung zu überprüfen.
Überarbeitung der Falkensteiner Empfehlung
Wie oben dargestellt, schließt sich im zweistufigen Verfahren bei Leitlinien und Begutachtungsempfehlungen zu Berufskrankheiten im zweiten Schritt die Überarbeitung der Begutachtungsempfehlung, also im konkreten Fall der Falkensteiner Empfehlung, an. Die Arbeiten des von der DGUV geleiteten Arbeitskreises beginnen voraussichtlich im ersten Quartal 2021. Über die Ergebnisse dieses Updates wird zu gegebener Zeit berichtet.