Fehlverhalten im Gesundheitswesen

Auch im Gesundheitswesen kommt es zu missbräuchlichem Verhalten und strafbaren Betrügereien. Das GKV-Modernisierungsgesetz hat die Bekämpfung dieses Fehlverhaltens strukturiert, doch es gibt noch viel zu tun.

Die Thematik "Fehlverhalten im Gesundheitswesen" wird zunehmend als gesamtgesellschaftliches Problem angesehen, das konsequent angegangen werden muss. Durch Fehlverhalten geht Geld der Versicherten sowie der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber verloren, das dann nicht mehr für die Versorgung kranker und pflegebedürftiger Menschen zur Verfügung steht. Auch die Strafverfolgungsbehörden sehen Straftaten im Gesundheitswesen als juristische, aber auch gesellschaftspolitische Herausforderung an, weshalb immer mehr Bundesländer durch Schwerpunktstaatsanwaltschaften und Zentralisierung bei den Polizeidienststellen für einen kontinuierlichen Erfahrungsaufbau und Spezialisierung sorgen.

Durch das GKV-Modernisierungsgesetz wurden zum 1. Januar 2004 die §§ 197a SGB V und 47a SGB XI eingeführt, die eine deutliche Professionalisierung und Spezialisierung brachten. Es wurden Stellen zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen als organisatorische Einheiten eingeführt. Diese Stellen decken in der Regel Sachverhalte sowohl der Kranken- als auch der Pflegekasse ab. Sie haben Fällen und Sachverhalten nachzugehen, die auf Unregelmäßigkeiten oder auf rechts- respektive zweckwidrige Nutzung von Finanzmitteln im Zusammenhang mit den Aufgaben der jeweiligen Krankenkasse oder des jeweiligen Verbandes hindeuten. Jede Person kann sich in diesen Angelegenheiten an die Krankenkasse und die weiteren dort genannten Organisationen wenden. Nach der Gesetzesbegründung soll diese Berichtspflicht Transparenz und die „Selbstreinigungskräfte“ fördern. Manipulationen sollen verhindert und die Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben der Stelle nach § 197a SGB V (Polizeieffekt, Mittelrückforderung, Reduzierung von Betrugshandlungen) dokumentiert werden.

Im Abstand von zwei Jahren berichten die Stellen dem Vorstand der Krankenkasse sowie dem Verwaltungsrat über die Arbeit und Ergebnisse. Der Bericht wird des Weiteren der zuständigen Aufsichtsbehörde sowie dem GKV-Spitzenverband vorgelegt. Letzterer erstellt aus allen eingegangenen Berichten einen Gesamtüberblick aller Krankenkassenarten.[1]

Gesetze sollen Lücken schließen

Der Gesetzgeber ist sich bewusst, dass es neben der Verfolgung von Fehlverhalten auch auf die Vermeidung ankommt. Daher wird oft versucht, bei neuen Gesetzesvorhaben Lücken zu schließen, die vorher Einfallstore für Betrug oder Korruption waren. Mit den Pflegestärkungsgesetzen II und III wurden Befugnisse zu Qualitäts- und Abrechnungsprüfungen durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) kombiniert und erweitert. Durch regelhafte oder anlassbezogene Kontrollen des MDK können, sofern die Abschreckung durch anstehende Überprüfungen allein nicht wirkt, Fehlverhaltensfälle systematischer erkannt werden. Ergebnisse von Prüfberichten des MDK führen zu mehr Transparenz und können bei substanziellem Anfangsverdacht in einer Strafanzeige münden.

Fehlverhalten kommt in allen Bereichen der Gesundheitsversorgung vor: zum Beispiel bei Apotheken, Ärztinnen und Ärzten, Heilmittelerbringerinnen und Heilmittelerbringern, Hebammen, Krankenhäusern, ambulanten Pflegediensten, Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern, aber auch bei Versicherten. Grundsätzlich beginnt die Arbeit der Stelle zur Bekämpfung von Fehlverhalten mit dem Eingang externer oder interner Hinweise (intern: durch eigene Auswertungen festgestellte Auffälligkeiten), die auf Unregelmäßigkeiten hindeuten. Im Zeitraum von 2016 bis 2017 gingen bei der AOK Baden-Württemberg 240 interne und 467 externe Hinweise ein, insgesamt wurden 1.029 Fehlverhaltensfälle bearbeitet.

Hinweise können schriftlich, telefonisch oder online – auch anonym – übermittelt werden. Allerdings gestalten sich bei anonymen Hinweisen aufgrund fehlender Zeuginnen und Zeugen die Ermittlungstätigkeiten deutlich schwieriger.

Die Aufgaben der Stelle der AOK Baden-Württemberg sind insbesondere:

  • Vorermittlungen im Rahmen einer quantitativen und qualitativen Fallanalyse
  • Aufklärung von Sachverhalten in Zusammenarbeit mit anderen Fachbereichen und den 14 AOK-Bezirksdirektionen (in jeder AOK-Bezirksdirektion gibt es erfahrene Ansprechpersonen für die Fehlverhaltensbekämpfung)
  • Vermeidung von weiteren Schäden und Fehlverhalten
  • Verhandlung von Rückforderungsvereinbarungen und Durchsetzung von Rückforderungen
  • enger Austausch und Zusammenarbeit mit anderen Krankenkassen und dem GKV-Spitzenverband
  • Erstattung von Strafanzeigen und Kooperation mit Polizeidienststellen und Staatsanwaltschaften
  • Aussage als Zeugin oder Zeuge im Rahmen von Gerichtsverfahren

Ein zentrales Register fehlt bislang

Fehlverhalten macht keinen Halt vor Landesgrenzen und Versicherten anderer Krankenkassen – es nutzt die organisatorischen sowie räumlichen Grenzen vielmehr für kriminelle Handlungen. Sind Leistungsanbietende in einem Bundesland aus straf- oder vertragsrechtlichen Gründen ausgeschlossen, so ist es für sie zum Beispiel im ambulanten Pflegebereich oft sehr leicht, in einem anderen Bundesland – unerkannt – ein analoges Unternehmen aufzubauen. Länderübergreifende Datenbanken oder zentrale Register gibt es nicht, mit denen die Kranken- und Pflegekassen in der Lage wären, Muster und betrügerisch handelnde Anbietende zu erkennen. Ein vernetztes Arbeiten, verbunden mit sinnvoller Arbeitsteilung, wird auch aufgrund steigender Fallzahlen und wachsender Komplexität immer wichtiger. Um bundesweit Hinweisen nachgehen und Fälle umfassend beleuchten zu können, arbeitet die AOK Baden-Württemberg im Fachteam der AOK-Fehlverhaltensstellen mit, aber auch kassenartenübergreifend gibt es regelmäßige Kooperationstreffen zum fachlichen Austausch – fallbezogen auch mit Staatsanwaltschaften, Vertreterinnen und Vertretern der Kriminalpolizei sowie der Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigung. Zur Erfüllung ihrer gemeinsamen Aufgaben dürfen die Stellen untereinander auch personenbezogene Daten austauschen, um Fehlverhalten feststellen und gemeinsam bekämpfen zu können.

Zu den häufigsten Fehlverhaltensmustern gehören:

  • Abrechnung von nicht erbrachten Leistungen, sogenannte „Luftleistungen“
  • Überweisungen gegen Provision
  • Doppel- und Mehrfachabrechnungen von Leistungen
  • Arzneimittelmissbrauch, oft in Verbindung mit Ärztehopping
  • Krankenversicherungskartenmissbrauch, zum Beispiel durch Weitergabe der Karte an Dritte
  • falsche Angabe von Sachverhalten in Leistungsanträgen wie zum Beispiel bei der Pflegeversicherung
  • Fehlen von Qualifikationen oder gefälschte Qualifikationsnachweise

Die AOK Baden-Württemberg konnte in den Jahren 2016 und 2017 rund 1,2 Millionen Euro an gesicherten Rückforderungen verzeichnen. Trotz dieser Ergebnisse ist von einer größeren Dunkelziffer an Straftaten und Fehlverhalten auszugehen. Dies hängt auch damit zusammen, dass Abrechnungen von Leistungen oft nur schwer auf ihre Richtigkeit geprüft werden können, da das korrekte Erbringen der Leistungen meist auf der Basis von Vertrauen erfolgt und Patientinnen und Patienten aus Gründen asymmetrischer Interventions- und Informationskenntnisse nur in den seltensten Fällen erkennen, dass sie – und damit die Kranken- oder Pflegekasse – betrogen wurden.

Schwierigkeiten ergeben sich immer wieder bei den Staatsanwaltschaften und polizeilichen Ermittlungsbehörden, da diese oft nicht die notwendigen Ressourcen haben, um alle Fälle zeitnah zu verfolgen. Kontinuierliches Umpriorisieren, mehrfacher Zuständigkeitswechsel bei Staatsanwaltschaft und Polizei, aufwändig auszuwertende Massendaten nach Beschlagnahmungen sowie die Komplexität des Vertrags- und Sozialrechts führen oft dazu, dass zwischen Anzeige und Entscheidung in der Regel weit mehr als ein Jahr vergeht. Um die Strafverfolgung und die Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen zu verbessern, ist der konsequente Aufbau sogenannter Schwerpunktstaatsanwaltschaften für Delikte im Gesundheitswesen bundesweit wünschenswert. Der Freistaat Bayern geht hier mit gutem Beispiel voran.

Die Stelle der AOK Baden-Württemberg ist davon überzeugt, dass die Fehlverhaltensbekämpfung im Gesundheitswesen nur durch kontinuierliche Weiterentwicklung erfolgreich sein kann. Schlüsselfaktoren dabei sind:

  • Verstärkung der kassenübergreifenden Kooperation
  • Nutzung digitaler Möglichkeiten: Einsatz kassenübergreifender Datenbanken, maschinelles Lernen zum (präventiven) Aufdecken von Betrugsmustern
  • Wille und Weitsicht des Gesetzgebers, Einfallstore für Fehlverhalten kontinuierlich zu schließen
  • gezielter Ressourcenaufbau bei den Strafverfolgungsbehörden sowie personelle Stärkung der Gerichte – insbesondere auch in Baden-Württemberg.