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Wheelie oder nicht Wheelie, das ist hier die Frage

Ein Bauleiter, der auf dem Weg vom Büro zu einer nahe gelegenen Baustelle mit seinem Motorrad während des Fahrens auf nur einem Reifen verunglückt, steht gemäß § 8 Abs. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) VII unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung, wenn nicht erwiesen ist, dass es sich hierbei um einen "absichtlichen Wheelie" gehandelt hat.

§ Landessozialgericht Hamburg, Urteil vom 04.05.2022 – L 2 U 32/21 –, juris

Der Kläger war auf einer betriebsbedingten Fahrt mit seinem Motorrad unterwegs, stürzte und verletzte sich. Über die Umstände dieses Sturzes besteht Streit. Gestützt auf Zeugenaussagen gingen der beklagte Unfallversicherungsträger und das Sozialgericht (SG) Hamburg davon aus, dass die Sturzursache ein Wheelie (absichtliches Hochziehen des Vorderrades, um auf dem Hinterrad zu fahren) des Klägers war, und verneinten einen Arbeitsunfall. Der Kläger trug vor, er habe als besonnener Verkehrsteilnehmer, noch unerfahren auf seinem neuen Motorrad (Einzylindermotor, konzipiert als "Rennmaschine") einen Fahrfehler begangen, wodurch er eine Zeit lang auf dem Hinterrad fuhr und beim Wiederaufsetzen des Vorderrades gestürzt sei. Das Landessozialgericht (LSG) Hamburg bejaht eine versicherte Tätigkeit des Klägers zum Unfallzeitpunkt, allein weil er auf einer betriebsbedingten Fahrt war (Rn 31), und verlagert die Problematik auf Kausalitätserwägungen, konkret auf die Frage der rechtlich wesentlichen Zurechnung der "Realisierung einer in den Schutzbereich des jeweils erfüllten Versicherungstatbestandes fallenden Gefahr" (Rn 33). Hier könne als konkurrierende Mitursache zur Motorradfahrt als versicherte Tätigkeit ein Wheelie nicht angenommen werden. Zeugenaussagen hierzu seien nicht ergiebig, die bloße Möglichkeit als Beweis einer Mitursache reiche nicht aus. Die entsprechende Beweislosigkeit gehe zulasten der Beklagten, da für sie das Vorliegen einer solchen Mitursache günstig wäre.

Das Ganze mag im Ergebnis "richtig" sein, im rechtlichen Vorgehen eher nicht. Die Frage, ob der Kläger einen Wheelie gemacht hat oder nicht, stellt sich in der Prüfung der versicherten Tätigkeit als anspruchsbegründende Tatsache. Sollte der Kläger einen Wheelie hingelegt haben, also "gespielt" und damit eine private, eigenwirtschaftliche Handlung vollzogen haben, stehen wir vor folgender Frage: War dies „nur“ ein Spielen? Dann scheidet eine versicherte Tätigkeit aus. Oder war das eine "spielerisch ausgeübte" versicherte Tätigkeit und damit eine "gemischte Tätigkeit", also zeitgleich und untrennbar zusammen eine versicherte und eine private Tätigkeit? Dann liegt eine versicherte Tätigkeit vor; dies mit der Folgefrage, ob sich im Unfallgeschehen ein privates oder ein betriebliches Risiko realisiert hat. Zutreffend dürfte Ersteres sein. Bei einem Wheelie davon auszugehen, dass trotz aller damit verbundenen Spielerei die versicherte Fahrt ja weitergehe, und damit zeitgleich von einer Handlungstendenz des Klägers auszugehen, dem angestrebten Ziel streckenmäßig näher zu kommen, dürfte doch lebensfremd sein. Ein Wheelie dürfte sich als alleinige Spielerei darstellen, womit eine versicherte Tätigkeit im (späteren) Unfallzeitpunkt nicht vorliegt und sich jede weitere Kausalitätsbetrachtung verbietet.

Das Schwierige dabei ist, dass insbesondere die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) im Bereich der versicherten Tätigkeit auf die letzte Handlungssequenz vor dem Unfall abstellt – und genau die ist hier im Streit: Wheelie oder Fahrfehler? Diese Frage trifft auf die versicherte Tätigkeit als anspruchsbegründendes Tatbestandsmerkmal eines Arbeitsunfalls; wenn hier Beweislosigkeit eintritt (Wir wissen nicht, wie es war), dann geht dies zulasten der Versicherten, womit ein Arbeitsunfall abzulehnen ist. Die einzige „Rettung“ des Klägers im vorliegenden Fall wäre, aus der bisherigen versicherten Tätigkeit (betriebsbedingte Fahrt) – bis zum Beweis des Gegenteils – darauf zu schließen, dass diese auch im Unfallzeitpunkt vorgelegen habe. Das tun wir beispielsweise bei "einsamen Unfällen" am Arbeitsplatz, wenn vor dem Unfall eine versicherte Tätigkeit ausgeübt worden ist. Können wir das hier auch tun? Das BSG hat das in seinem Urteil vom 12. Dezember 2015 (B 2 U 8/14 R, juris), auf das sich das LSG Hamburg bezieht, gerade nicht getan.

Dazu kommt noch eine Frage: Wozu kauft sich ein besonnener Motorradfahrer eine "Rennmaschine"? Der Kläger wird es wissen und er weiß auch die Antwort auf die zentrale Frage: Wheelie oder nicht Wheelie?


Die Inhalte dieser Rechtskolumne stellen allein die Einschätzungen des Autors/der Autorin dar.