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„Deeskalationstrainings sollen Handlungsalternativen aufzeigen“

Gewalt kann am Arbeitsplatz und außerhalb in verschiedensten Formen auftreten. Wie können sich Beschäftigte im Zuge der Prävention auf Gewaltvorfälle vorbereiten? Deeskalationstrainings beginnen mit einem Perspektivenwechsel.

Herr Eggeling, Sie beschäftigen sich beruflich mit den Themen Deeskalation und Gewaltprävention. Was sind nach Ihrer Beobachtung generell die Auslöser für Gewalt?

Eggeling: Gewalt ist meiner Ansicht nach eine Variante von menschlichem Verhalten, um handlungsfähig zu bleiben. Je mehr sich jemand in die Ecke gedrängt fühlt, desto eher wird die Person sich dafür entscheiden, Gewalt als eine Art Ultima Ratio zu nutzen, um sich aus dieser Zwangslage zu befreien. Das kann überall passieren. Ich selbst habe als Sozialarbeiter lange in der Drogenhilfe gearbeitet. Dort kann das genauso vorkommen wie in einer Eltern-Kind-Gruppe, bei der Feuerwehr, bei Lehrern und Lehrerinnen oder in Behörden.

Also immer dann, wenn Menschen keine andere Lösung mehr finden?

Eggeling: Genau. Das ist der wesentliche Aspekt von Gewalt, in dem wir deeskalierend ansetzen können. Es gibt natürlich immer noch die vorsätzliche Tat, wie zum Beispiel einen Banküberfall. Dort kann man nicht mehr steuernd und deeskalierend eingreifen oder zumindest nur sehr begrenzt.

Seit 2019 ist Max Eggeling als Fachberater für Psychosoziale Notfallversorgung (PSNV) bei der Feuerwehr Lüneburg tätig. | © Sebastian Heinatz
Seit 2019 ist Max Eggeling als Fachberater für Psychosoziale Notfallversorgung (PSNV) bei der Feuerwehr Lüneburg tätig. ©Sebastian Heinatz

Wie sieht es bei Einsatzkräften aus: Was sind hier die Auslöser von Gewalt und wie kann man deeskalieren?

Eggeling: Speziell auf die Einsatzkräfte bezogen muss man sehen, dass sie es auf der anderen Seite fast immer mit Menschen in Extremsituationen zu tun haben. Die Menschen stehen ja nicht morgens auf und denken sich: „Super, heute Abend brennt meine Wohnung ab!“ Stattdessen ist die Situation für sie immer eine Irritation im Alltag. In der Regel haben sie dafür noch keine Handlungsstrategie entwickelt, weil sie damit nicht gerechnet haben. Der Klassiker bei Einsatzkräften sind Übergriffe im Bereich von Verkehrsregelungsmaßnahmen. Die Menschen sind dann oft nicht in der Lage, auf die veränderte Situation umzuschalten, weil ihr Tagesablauf anders geplant war. Das mag absurd klingen, ist aber die Erfahrung der meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer und auch meine eigene.

Kommen wir generell auf Gewalt bei der Arbeit zu sprechen. Welches sind denn die häufigsten Formen von Gewalt, mit denen Menschen bei der Arbeit konfrontiert sind?

Eggeling: Nach meiner Erfahrung und aus Untersuchungen von Behörden, Beamtenverbänden oder Einsatzkräften ist dies in der Regel verbale Gewalt, also beschimpft oder bedroht zu werden. Das hat oft eine gewisse Dramatik, weil man sich dagegen nur sehr begrenzt wehren kann. Die Gewalttat geschieht ja, ohne dass ich mich vorbereiten kann. Bis zur körperlichen Gewalt ist es dann aber noch ein relativ großer Schritt.

Wie ist es mit den Betroffenen: Welche Auswirkungen hat Gewalt auf die Personen, die sie erleben?

Eggeling: Das ist pauschal schwierig zu beantworten, weil jeder Mensch anders damit umgeht. Eine häufige Reaktion ist aber eine Form von Verunsicherung. Man rechnet in der Regel nicht damit. Insgesamt kann Gewalt Menschen in vielen Lebensbereichen beeinträchtigen, auch langfristig. Das kann zum Beispiel Verängstigung sein, wodurch Menschen in schlimmster Konsequenz ihre Arbeit nicht mehr ausüben können. Ebenso können Verhaltensänderungen eine Folge sein. Für Einsatzkräfte wiederum spielt auch immer wieder ein hohes Maß an Resignation aufgrund oft gemachter schlechter Erfahrungen eine Rolle. Wir wissen, dass sich negative Erfahrungen erheblich schneller festsetzen als positive.

Schauen wir auf die Prävention. Wie können sich Beschäftigte gegen Gewalt wappnen?

Eggeling: Grundsätzlich denke ich, dass Vorbereitung ganz wichtig ist. Mit Prävention bereitet man sich allerdings auf etwas vor, von dem man hofft, dass man es nie brauchen wird. Insofern geht es mir bei Deeskalationstrainings darum, zunächst einmal klarzumachen, dass Bedrohungslagen in aller Regel plötzlich und unvorhergesehen passieren. Vielleicht, weil jemand ausrastet oder überreagiert. Oft sind es auch Leute, von denen man keine Gewalt erwartet.

Deeskalationstrainings sollen Menschen Handlungsalternativen aufzeigen. Diese dienen ihnen dann für Situationen, auf die sie sich nicht vernünftig vorbereiten können oder von denen sie jahrelang geglaubt haben, dass sie im Arbeitsalltag gar keine Rolle spielen. Man schaut sich für solche Situationen erst einmal die eigene Haltung an und danach, wie man seine Umwelt mit einbeziehen kann. Zentral ist dann das Thema Kommunikation. Einen Großteil von Eskalation kann ich verbal deeskalieren, wenn ich verstehe, was mein Gegenüber eigentlich bewegt. Das erfordert oft ein Umdenken hin zum Verständnis dafür, was das Gegenüber eigentlich möchte, um dann steuernd einzugreifen. Ich möchte nicht die Person, sondern die Situation kontrollieren.

Dafür ist es vermutlich wichtig, ein gutes Maß an Einfühlungsvermögen mitzubringen?

Eggeling: Ja, das ist das eine. Ebenso kann ich mein Gegenüber auch einfach fragen: „Was möchten Sie denn?“ Im Kontext von Arbeit kommen Menschen mit einem bestimmten Anliegen zu den Beschäftigten. Wenn ich weiß, was mein Gegenüber will, dann bin ich auch durchaus in der Lage, das aufzugreifen, und kann darüber versuchen, in einen Dialog zu kommen. Es hilft mir zu verstehen, warum mein Gegenüber gerade Gewalt anwenden möchte, welches Ziel er oder sie erreichen möchte und welchen Weg wir gemeinsam wählen könnten, damit es nicht zu einem Übergriff kommt. Verschärfungen im Strafrecht im Bereich der Einsatzkräfte halte ich beispielsweise für den falschen Ansatz, um Gewalt zu vermeiden. Ziel muss es doch sein, dass gar kein Übergriff stattfindet.

Wie sieht es aus, wenn man Angst hat oder sogar unter einer Art Schockstarre steht? Wie kann man das überwinden?

Eggeling: Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass man in der Regel mit den Leuten reden kann. Aber dazu gehört natürlich ein gewisses Auftreten. Das Thema Vorbereitung und Haltung ist wichtig. Wenn man seine Haltung verändert und überhaupt mitdenkt, dass eine Gefahr oder Bedrohung auftreten kann, wird man auch anders darauf reagieren können, das bietet Sicherheit. So kann man sich bestimmte Techniken schon einmal überlegen und steht nicht vor der Situation, nicht mehr weiterzuwissen. Eine Strategie kann zum Beispiel sein, bei der Beobachtung eines Gewaltangriffs direkt die Polizei zu rufen, statt erst mit der angreifenden Person zu reden. Dann begibt man sich nicht selbst in Gefahr und die Polizei wird mutmaßlich relativ zeitnah am Einsatzort sein. Hier sollte man aber auch zwischen privatem Bereich und Arbeitsbereich unterscheiden. Bei der Arbeit sind wir in der Regel nicht allein, das ist ein entscheidender Punkt.

Kommen wir zurück zu den Deeskalationstrainings. Für wen ist es überhaupt sinnvoll?

Eggeling: Man sollte eher fragen: Für wen ist es nicht sinnvoll? Etwas Neues zu lernen, kann nie schaden. In allen Berufen, in denen man mit Menschen zu tun hat, ist es sinnvoll, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Natürlich gibt es bestimmte Arbeitsbereiche, in denen die Gefahr von Gewalt höher ist, das gilt zum Beispiel für die Arbeit bei Sozialhilfeträgern, Behörden oder für Einsatzkräfte. Aber es kann überall passieren. Arbeitgebende müssen für sich beantworten, wie hoch die Gefahr bei ihnen ist. Sie sollten überlegen, aus welchem Grund Menschen zu ihnen kommen und was ihre Wünsche und Anliegen sind.

Es ist also Aufgabe der Arbeitgebenden, das Gewaltrisiko einzuschätzen?

Eggeling: Nein, das Risiko sollte immer gemeinsam mit den Arbeitnehmenden betrachtet werden. Wenn man ein Team aus zehn Personen hat, wird vermutlich jede von ihnen unterschiedlich mit Gewaltsituationen umgehen. Es mag sehr erfahrene Beschäftigte geben, die schon alles gesehen haben und auch keine Angst haben. Ebenso mag es aber auch junge, unerfahrene Kolleginnen und Kollegen geben, die vielleicht verunsichert sind. Insofern sollten Arbeitgebende und Beschäftigte immer gemeinsam darauf schauen: Wie ist die Situation bei uns und was brauchen wir, um uns sicherer zu fühlen?

Wie sehen Deeskalationstrainings aus und wie ist ihr Ablauf?

Eggeling: Bei mir ist das in der Regel eine Tagesveranstaltung mit einer Mischung aus Theorie und Praxis. Meist beginnen wir mit den Erwartungen und Erfahrungen der Teilnehmenden. Anschließend schauen wir anhand von Modellen, wie Menschen miteinander kommunizieren und wie man das erkennen kann. Wir schauen uns an, was Wünsche und Bedürfnisse des Gegenübers sind. Wie kann man damit umgehen und steuernd auf jemanden einwirken? Danach geht es darum, das Ganze praktisch auszuprobieren: in Rollenspielen, verschiedenen Settings und improvisierten Situationen. Was verändert sich, wenn ich anfange, anders zu sprechen, anders zu kommunizieren?

Es geht auch ganz praktisch um das eigene Auftreten. Wie kann ich mich gut hinstellen, sodass ich mich zum Beispiel schnell zurückziehen könnte oder keine große Trefferfläche biete? Wo gibt es Fluchtmöglichkeiten? Wie kann ich – zum Beispiel in einer Behörde – einen Stuhl zwischen mich und einen Angreifer bringen? Ich übe mit Teilnehmenden aber auch einfache und trotzdem effektive Handgriffe ein, um sich zu befreien. Wir schauen uns mögliche Lösungen immer bezogen auf den Arbeitsplatz an. Ist es zum Beispiel sinnvoll, einen gut werfbaren Blumentopf auf dem Tisch zu haben, an dem ich mit Leuten sitze, die vielleicht aggressiv werden könnten? Zum Schluss behandeln wir noch das Notwehrrecht, um zu schauen, was man darf und was nicht.

Gibt es verschiedene Deeskalationsstrategien, abgestimmt auf unterschiedliche Formen von Gewalt?

Eggeling: Auf jeden Fall. Hier setzen wir auch im Training möglichst weit unten an. Denn je früher ich deeskaliere, desto höher ist die Erfolgswahrscheinlichkeit, dass ich Gewalt verändere. Es gibt zum Beispiel ein Stufenmodell[1] der Eskalation, mit dem man ganz gut arbeiten kann, um zu schauen, auf welchem Level von Gewalt man sich gerade befindet und was man tun kann, um adäquat zu reagieren. Wenn es am Ende wirklich um vollzogene Körperverletzungen geht, dann kann ich nur sagen, dass die Flucht zu ergreifen das Sinnvollste ist. Aber es gibt eine ganze Menge Zeichen im Vorfeld, die wir lesen lernen können. So können wir erkennen, wenn sich eine Situation hochschaukelt.

Sie haben eben bereits ein Stufenmodell angesprochen ...

Eggeling: ... das ein Teil verschiedenster Methoden und Ansätze ist, die man in Gewalttrainings einbauen kann. Es gibt allerdings nicht den Goldstandard, mit dem Deeskalation immer funktioniert. Stattdessen lebt vieles von meinem Gegenüber und auch davon, wie ich mit den vorhandenen Ansätzen umgehe. Es geht darum, zu schauen, mit welcher Methode man sich wohlfühlt. Deswegen versuche ich in meinen Seminaren eine gewisse Methodenvielfalt einzubringen, damit die Teilnehmenden herausfinden können, was ihnen liegt und was eher nicht.

Welche Deeskalationsstrategien haben sich aus Ihrer eigenen Erfahrung in der Praxis am besten bewährt?

Eggeling: Kurzinterventionen können eine gute Lösung sein. Eine Formel heißt „KISS“, für „Keep it short and simple“. Menschen, die sehr hochgefahren sind, sind häufig nicht mehr in der Lage, komplexe Sätze zu verstehen. Das heißt, ich muss sehr kurz, sehr deutlich, aber trotzdem freundlich mit den Leuten reden. Um eine Distanz zu wahren, ist es zum Beispiel gut, Leute konsequent zu siezen. Diese Distanz möchte man haben, weil die Leute dadurch eine möglichst hohe Hemmschwelle haben.

Manchmal nutzen aber alle Versuche nichts und die Deeskalation scheitert. Gibt es einen festen Zeitpunkt, an dem man dies festmachen kann?

Eggeling: Grundsätzlich dann, wenn man das Gefühl hat, nicht mehr in Sicherheit zu sein. Das ist der Moment, in dem man sich aus der Situation zurückziehen sollte. Das muss nicht die völlige Eskalation sein. Aber es bedeutet, dass die Deeskalation gescheitert ist. Idealerweise ist dieser Punkt natürlich weit bevor es zum körperlichen Übergriff kommt.

Was kann man dann noch tun?

Eggeling: Man sollte versuchen, sich Unterstützung zu holen, zum Beispiel durch Kollegen oder Kolleginnen. Oft fehlt aber eine unkomplizierte Möglichkeit, sie zu benachrichtigen. In Psychiatrien gibt es zum Beispiel am Telefon einen Notfallknopf oder ein Hausnotrufsystem. Das ist tatsächlich etwas, das ich je nach Gefährdungspotenzial ergänzend zu Deeskalationstrainings sehr empfehlen kann: sich technische Lösungen dazu zu überlegen. 

Das Interview führte Sebastian Driever.