"Die Dinge entwickeln sich nur sehr langsam"
Es gibt viele Initiativen, die sich für eine Verbesserung von Sicherheit und Gesundheit in den globalen Lieferketten einsetzen. Ein Gespräch mit den britischen Arbeitswissenschaftlern Prof. David Walters und Prof. Philip James über Hindernisse und Möglichkeiten.
Das Risiko von Unfällen am Arbeitsplatz und Berufskrankheiten ist innerhalb der globalen Lieferketten sehr ungleich verteilt: Für Beschäftigte am Anfang der Lieferkette in den Entwicklungsländern ist es wesentlich höher. Was sind die Hauptursachen für dieses Ungleichgewicht?
JAMES: Die Interessen der mächtigsten Akteure innerhalb der Lieferketten sind die ausschlaggebende Triebkraft für die Gestaltung der Lieferketten. In der Regel stehen diese Akteure an der Spitze der Lieferketten und haben ihren Sitz in hoch entwickelten Industrieländern. Die Auswirkungen von Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz innerhalb dieser Ketten spiegeln daher auch oft die Geschäftsinteressen genau dieser Akteure wider. Dazu gehört die Kostenkontrolle ebenso wie die Festlegung strikter Lieferanforderungen. Und das wiederum bedeutet trotz unterschiedlicher Auswirkungen eine höhere Wahrscheinlichkeit von arbeitsbedingten Verletzungen, Todesfällen und Krankheiten, die sich vermeiden ließen. Dies gilt besonders für kleine und Kleinstzulieferer am Anfang der Lieferketten in den Entwicklungsländern, da ihnen nur begrenzte Ressourcen zur Verfügung stehen, um in Präventionsmaßnahmen zum Arbeitsschutz zu investieren. Zudem haben sie kaum eine Chance, sich den Preis- und Lieferanforderungen der Hauptakteure in den Lieferketten zu widersetzen.
WALTERS: Kennzeichnend für globale Lieferketten sind folglich beträchtliche Ungleichheiten im Hinblick auf eine mögliche Gesundheitsgefährdung und Nachteile, die darauf zurückzuführen sind, dass Aufträge an Zulieferer vergeben werden, die nicht in der Lage sind, einen effizienten Arbeitsschutz zu gewährleisten – größtenteils aufgrund des wirtschaftlichen Drucks, der auf ihnen lastet. Diverse Unglücksfälle katastrophalen Ausmaßes in den Fabriken von Rana Plaza, Tazreen Fashions und Ali Enterprises, allesamt Zulieferer großer westlicher multinationaler Konzerne, die 1.500 Todesopfer und noch mehr Verletzte forderten, veranschaulichten dieses Ungleichgewicht natürlich am deutlichsten. Aber darüber hinaus bestimmt es den Alltag einer riesigen Anzahl von Beschäftigten innerhalb der Lieferketten weltweit.
Kurz gesagt: Die ungleichmäßige Verteilung von Unfällen und Krankheiten innerhalb der globalen Lieferketten ist eng verknüpft mit den Unternehmenszielen multinationaler Konzerne in den Industriestaaten sowie deren Durchsetzung auf Kosten von Zulieferern in den Entwicklungsländern, die nicht in der Position sind, sich dieser Gefährdung zu widersetzen.
In verschiedenen Industrieländern wurden Initiativen zur Förderung nachhaltiger Lieferketten ins Leben gerufen. So gründete die deutsche Regierung beispielsweise 2014 eine "Textilallianz". Die Mitglieder dieses Bündnisses engagieren sich für die Verbesserung der sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Bedingungen innerhalb der globalen Lieferketten. Was ist Ihre Meinung zu diesen Initiativen?
JAMES: Die Anzahl der Initiativen zum Schutz und zur Verbesserung der sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Bedingungen innerhalb der globalen Lieferketten ist beeindruckend. Es muss allerdings betont werden, dass nicht alle diese Initiativen freiwillig und rechtsverbindlich sind. Ein 2017 in Frankreich verabschiedetes Gesetz verpflichtet große Unternehmen zu einer angemessenen Sorgfaltspflicht im Hinblick auf möglichen Missbrauch gegen Beschäftigte in globalen Lieferketten, und eine ähnliche Initiative ist in den Niederlanden in Vorbereitung. Und tatsächlich scheint auch Deutschland diesen Weg einzuschlagen.
Die ungleichmäßige Verteilung von Unfällen und Krankheiten innerhalb der globalen Lieferketten ist eng verknüpft mit den Unternehmenszielen multinationaler Konzerne in den Industriestaaten sowie deren Durchsetzung auf Kosten von Zulieferern in den Entwicklungsländern, die nicht in der Position sind, sich dieser Gefährdung zu widersetzen.
WALTERS: Man darf dabei aber auch nicht vergessen, dass private freiwillige Initiativen zur Verbesserung von Arbeitsbedingungen in globalen Lieferketten oftmals auf behördliche Vorschriften und andere Druckmittel zurückzuführen sind. Ein gutes Beispiel dafür ist die Anti-Sweatshop-Bewegung. Durch sie gerieten Unternehmen wie Nike und Gap Anfang der 1990er-Jahre unter Druck, die Arbeitsbedingungen innerhalb ihrer Lieferketten zu verbessern. Eine Initiative als "freiwillig" zu bezeichnen, kann daher irreführend sein. Sie sind vielmehr private, regulatorische Maßnahmen, die in unterschiedlichster Form durchgeführt werden können.
Da wären zum Beispiel praktische Verhaltensregeln einzelner Gesellschaften zu nennen, die oftmals Teil eines unternehmerischen Rahmenprogramms für soziale Verantwortung sind. Oder Initiativen unter Einbeziehung aller Interessengruppen, einschließlich branchenbezogener wie der Textilallianz, sowie internationale Rahmenvereinbarungen zwischen globalen Gewerkschaftsverbänden und Vereinigungen internationaler Konzerne.
JAMES: Aus unserer Perspektive sind alle diese oben genannten Arten von Initiativen begrüßenswert, da sie Möglichkeiten aufzeigen, wie die Macht multinationaler Auftraggeber zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in globalen Lieferketten genutzt werden kann. Bei der Betrachtung des Aspekts, inwieweit dieses Potenzial bisher tatsächlich Nutzen gebracht hat, ist allerdings eine gewisse Vorsicht geboten. Die greifbaren Anzeichen in Bezug auf die Effektivität, sowohl generell als auch konkret im Hinblick auf die Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz, zeigen ein sehr unterschiedliches und unbefriedigendes Bild auf.
Die DGUV hat im Auftrag der deutschen Bundesregierung mehrere Delegationen der Textilindustrie aus Bangladesch zu Schulungszwecken zum Thema Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz empfangen. Welche Auswirkungen erwarten Sie von solchen Schulungsangeboten?
WALTERS: Schulungen zu relevanten Themen rund um Gesundheit und Sicherheit können ganz klar positive Effekte bewirken, denkt man nur an ein stärkeres Risikobewusstsein sowie eine Vertiefung der Kenntnisse und Fähigkeiten, mit diesen Risiken umzugehen oder sie zu minimieren. Jedoch kann ein effektiver Einsatz dieses Bewusstseins, der Kenntnisse und Fähigkeiten nicht als garantiert angenommen werden. Denn sie sind mit denselben Herausforderungen konfrontiert, wie sie die Nutzung der Lieferketten zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen ganz allgemein mit sich bringt und worüber wir zurzeit debattieren. In vielen Situationen sehen sich Führungskräfte wie Beschäftigte gleichermaßen mit Schwierigkeiten konfrontiert, das Erlernte auch umsetzen zu können, da erwünschte und erforderliche Maßnahmen im Konflikt zu den gegebenen finanziellen Prioritäten und Beschränkungen stehen.
JAMES: Es ist deshalb besonders wichtig, Mechanismen zu schaffen, die eine Umsetzung der in den Schulungen vermittelten Kenntnisse durch die Beschäftigten erleichtern. Eine Möglichkeit wäre zum Beispiel die Schaffung eines unabhängigen Organs wie einer staatlichen Aufsichtsbehörde oder eines privatwirtschaftlichen Gremiums, wie es aus dem 2013 geschlossenen Abkommen über Brandschutz und Gebäudesicherheit[1] hervorgegangen ist, um Beschäftigten die Möglichkeit zu geben, Beschwerden mit der Aussicht vorzubringen, dass diesen auch ernsthaft nachgegangen wird. Ein anderer Weg wäre die Gewährleistung der Ratifizierung der IAO-Konventionen über menschenwürdige Arbeit, um den Gewerkschaften und anderen Arbeitnehmervertretungen ein Instrument an die Hand zu geben, Probleme zur Sicherheit und Gesundheit gemeinsam und effizient anzusprechen.
Ungeachtet der diversen Initiativen scheinen sich die Arbeitsbedingungen in vielen Lieferländern kaum oder nur langsam zu verbessern. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
WALTERS: Die Dinge entwickeln sich, wenn überhaupt, tatsächlich nur sehr langsam. Es gibt sogar Anzeichen dafür, dass sie sich aufgrund der wirtschaftlichen Krisensituation im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Pandemie noch verschlechtern könnten. Dieses Bild eines im besten Falle nur beschränkten Fortschritts stimmt natürlich mit den bereits zuvor erwähnten allgemein unbefriedi-genden Auswirkungen von Initiativen zur Verbesserung der Arbeitsstandards in den globalen Lieferketten überein.
JAMES: Grundsätzlich spiegelt es eine tatsächlich wiederkehrende Ironie wider. Der Misserfolg solcher Initiativen basiert darauf, dass man es versäumt, die finanziellen Beschränkungen und damit verbundenen Motivationen, die sich negativ auf die Arbeitsbedingungen auswirken und die in erster Linie überhaupt zur Entstehung schlechter Arbeitsbedingungen führen, sinnvoll zu hinterfragen. Vier Faktoren, die in einer gewissen Wechselbeziehung stehen, können zur Erklärung dieser Misserfolge angeführt werden.
Erstens sind die meisten Initiativen nicht rechtskräftiger Natur und bieten somit einen großen Spielraum für kommerzielle Erwägungen, die Bereitschaft internationaler Auftraggeber zu untergraben, ausreichend Ressourcen für die Erfüllung ihrer Anforderungen entlang der gesamten Lieferkette bereitzustellen, einschließlich der untersten Bereiche der Lieferkette, in denen die Fremdvergabe an Subunternehmer und Heimarbeit allgemein üblich sind. Zweitens existieren nur unzulängliche Kon-trollsysteme zur Überwachung, ob die zur Erfüllung der Anforderungen verfügbaren Ressourcen ausreichend sind. Drittens fehlt es in den Ländern, in denen die Zulieferer ansässig sind, an behördlichen Vorschriften und Arbeitsverhältnissen, die eine derartige Konformität unterstützen. Und der vierte Faktor schließlich bezieht sich auf das Versagen der Initiativen, den Preiswettbewerb der Zulieferer untereinander einzudämmen, der die Senkung der Arbeitskosten zum Ziel und damit eine weitere Verschlechterung der Arbeitsbedingungen zur Folge hat.
Die Anzahl der Initiativen zum Schutz und zur Verbesserung der sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Bedingungen innerhalb der globalen Lieferketten ist beeindruckend. Es muss allerdings betont werden, dass nicht alle diese Initiativen freiwillig und rechtsverbindlich sind.
Was muss passieren, um nachhaltige Verbesserungen in Bezug auf Sicherheit und Gesundheit entlang der gesamten Lieferkette zu erreichen? Und wer muss Ihrer Meinung nach dafür die Verantwortung übernehmen?
WALTERS: Es gibt keine einfachen Lösungen, um die derzeit beschränkte Wirkung von Maßnahmen zu erhöhen, die auf eine Reduzierung oder Überwindung von Gesundheitsgefährdungen und Sicherheitsrisiken aufgrund der kommerziellen Dynamik globaler Lieferketten ausgerichtet sind. Einiges deutet jedoch darauf hin, dass vier Elemente für die Entwicklung effektiver Interventionen von zentraler Bedeutung sind. Dazu gehören:
· der Zwang, dass Abnehmer an der Spitze der Lieferketten rechtsverbindliche vertikale Verpflichtungen eingehen müssen, wie es das französische Gesetz über eine angemessene Sorgfaltspflicht bereits verlangt,
· die Schaffung von Arrangements zur Überwachung der Erfüllung dieser Verpflichtungen durch kompetente und angemessen bezahlte Auditoren oder Inspektoren, die sowohl finanziell als auch im Hinblick auf die organisatorische Struktur von den Abnehmern unabhängig sind,
· die Festlegung von Auflagen für die Abnehmer hinsichtlich der Preise, die an Lieferanten zu zahlen sind, der Laufzeit und Sicherheit von Lieferverträgen sowie
· die Einbeziehung unabhängiger Gewerkschaften in Konzeption von und Aufsicht über solche Initiativen.
Analysen der Arbeitsweise des 2013 geschlossenen – und jetzt aufgelösten – Abkommens, das jedes dieser Elemente in gewissem Maße berücksichtigte, verdeutlichen die Wichtigkeit. Aber der Abschluss derartiger Abkommen wird ganz offensichtlich alles andere als einfach sein, wie die Auflösung des oben genannten Abkommens zeigt. In der Tat gibt es zahlreiche Situationen, in denen ein solches Abkommen nicht zu verwirklichen ist, insbesondere wenn man bedenkt, wie solche Abkommen der aktuellen ökonomischen Orthodoxie und dem anti-behördlichen Ethos, den diese unterstützt, entgegenwirken. Dennoch wird deutlich, dass bisherige Ansätze kleine Erfolge erzielten, und es gibt gewisse Anzeichen, die auf künftige Veränderungen hindeuten.
JAMES: So müssen Gewerkschaften, nicht staatliche Organisationen, konsumentenbasierte Kampagnenorganisationen und andere Initiativen weiterhin Druck ausüben, um die aktuelle Lage infrage zu stellen – sowohl auf einheimischer nationaler Ebene wie auch über internationale Gremien. In vielen Fällen wird eine derartige Ausübung von Druck möglicherweise keinen Erfolg zeigen, aber wenn doch, könnten diese Maßnahmen weitere Erfolge in der Zukunft sichern.
Klar ist, dass die geschlossenen Abkommen nicht nur die oben genannten Elemente verkörpern, sondern darüber hinaus Systeme zur Kontrolle der Lieferkette etablieren müssen, die alle Interessengruppen mit einbeziehen und darauf ausgerichtet sind, das Verhalten auf allen Ebenen innerhalb der Branche und in breiteren Marktsegmenten zu beeinflussen. Nur auf diese Weise werden sie genügend Zugkraft gewinnen, um die Wettbewerbsdynamik, die derzeit furchtbar schlechte Arbeitsbedingungen bei den Zulieferern in armen Ländern zur Folge hat, wirksam zum Positiven zu beeinflussen.
Das Interview führte Elke Biesel, Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV).