Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung mal anders – erste Erfahrungen mit dem OHS-Dialog

COVID-19 hat die Welt verändert – auch mit Blick auf Gesundheitsschutz, Arbeitsorganisation und zwischenmenschliche Aspekte im beruflichen Umfeld. Durch die mit der Pandemie einhergehenden Einschränkungen und Anpassungen ergeben sich neue Herausforderungen für viele Beschäftigte – und besondere Bedingungen für eine Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung. In dieser Ausnahmesituation geht die Bayer AG mit einem digitalen Dialogansatz neue Wege.

Einleitung und Hintergrund

Die Coronapandemie hat die Akteurinnen und Akteure im Arbeits- und Gesundheitsschutz binnen kürzester Zeit aktiviert, vorhandene Pandemiepläne zu aktualisieren, regelmäßig die Gefährdungslage zu beurteilen und mit geeigneten Schutzmaßnahmen zu reagieren. Von jetzt auf gleich wurden Beschäftigte ins Homeoffice geschickt, Schichtsysteme angepasst und innerbetriebliche Verhaltensregeln aufgestellt. Diese massiven Änderungen in der Arbeitsorganisation, -aufgabe und -umwelt sowie im sozialen Miteinander sind ein idealtypischer Auslöser für die Durchführung einer anlassbezogenen Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung (GBpsych) – allerdings unter den von Corona diktierten Bedingungen. In der Bayer AG wird zurzeit an einer digitalen Lösung für die GBpsych gearbeitet, die Anfang 2021 pilotiert werden soll. Doch zuvor ein Blick zurück in die Zeit vor Corona.

Die regelmäßige oder anlassbezogene Durchführung einer GBpsych ist in allen EU-Mitgliedstaaten sowie in zahlreichen anderen Ländern (unter anderen Australien, Brasilien, China, Indonesien, Kanada und Mexiko) durch den Gesetzgeber vorgeschrieben (zum Beispiel Dir. 89/391/EEC, Dir. 2007/30/EC und Arbeitsschutzgesetz – ArbSchG). Der noch immer eher geringe Umsetzungsgrad in Deutschland zeigt, dass es Unsicherheiten seitens der betrieblichen Verantwortlichen gibt: Nur circa 20 Prozent der Unternehmen haben das Thema "Psyche" in der Gefährdungsbeurteilung berücksichtigt und nur 5 Prozent implementierten einen vollständigen GBpsych-Prozess.[1] Diese Unsicherheiten lassen sich beseitigen, wenn man das Vorgehen dem Prozess der klassischen Gefährdungsbeurteilung anpasst[2], beim Setting und der Methodik jedoch auf Dialoginstrumente setzt.

Massive Änderungen in der Arbeitsorganisation, -aufgabe und -umwelt sowie im sozialen Miteinander sind ein idealtypischer Auslöser für die Durchführung einer anlassbezogenen Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung (GBpsych) – allerdings unter den von Corona diktierten Bedingungen.

Der Gesetzgeber verpflichtet Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber dazu, die Risiken beziehungsweise Gefährdungen durch psychische Belastungen zu ermitteln und zu vermeiden – allerdings bleibt offen, wie diese Ermittlung zu erfolgen hat. Dies begünstigt den Einsatz nicht valider Instrumente. Schuller et al. (2018) untersuchten das Spektrum betrieblicher Vorgehensweisen auf Basis von betrieblichen Fallstudien und kamen zur Empfehlung, dass das methodische Vorgehen so ausgerichtet sein soll, dass sowohl ein systematischer Überblick über die gesamte psychische Belastungssituation im Unternehmen als auch ein tieferes Verständnis für Entstehungsbedingungen kritischer Belastungsausprägungen im konkreten betrieblichen Kontext ermöglicht wird.[3]

Die GBpsych folgt der Tradition etablierter Arbeitsanalyseverfahren[4]. Da es kein "Psychometer" gibt, sind objektive Beobachtungsmethoden eher nicht geeignet. Es empfiehlt sich, mit den Betroffenen im Dialog die subjektive Sicht von Belastungsmomenten zu erheben. Dieser Dialog beinhaltet in der Bayer AG eine Grobanalyse (Mitarbeiterbefragung) und eine Feinanalyse (Workshop). Das neu entwickelte zweischrittige Verfahren fokussiert sowohl die rechtlichen Anforderungen (Belastungsfaktoren, die von außen auf den Menschen einwirken) als auch zusätzliche gesundheitswissenschaftliche Faktoren (persönliche und organisatorische Ressourcen sowie mittel- und langfristige Beanspruchungsfolgen). Mithilfe dieses ganzheitlichen und gestaltungsorientierten Vorgehens lassen sich konkrete Umsetzungsmaßnahmen ableiten und evaluieren.

Gesundheits- und Sicherheitsdialog

Ziel ist die Entwicklung und Etablierung eines globalen Gesundheits- und Sicherheitsdialogs, um diese wichtigen Themen dauerhaft innerhalb der Organisation im Gespräch zu halten, so das individuelle Bewusstsein  für gesundheits- und sicherheitsrelevante Inhalte zu schärfen und die gemeinsame Präventionskultur weiterzuentwickeln. Die GBpsych ist Kernbestandteil dieses Dialogs, der von zahlreichen anderen Dialogbestandteilen flankiert wird (zum Beispiel jährlicher "Bayer Safety Day" und monatliche "Health & Safety Moments"). Die Aufgabe der globalen Fachfunktion folgt der Philosophie "Freedom in a Frame" und besteht darin, zusammen mit den Regionen und Ländern optimale Rahmenbedingungen und Vorgaben zur Verfügung zu stellen, damit die Beschäftigten der einzelnen Standorte zum Mitmachen motiviert werden.

Ziel ist die Entwicklung und Etablierung eines globalen Gesundheits- und Sicherheitsdialogs, um diese wichtigen Themen dauerhaft innerhalb der Organisation im Gespräch zu halten, so das individuelle Bewusstsein dafür zu schärfen und die gemeinsame Präventionskultur weiterzuentwickeln.

Die Anforderungen an diesen globalen Gesundheits- und Sicherheitsdialog mit 100.000 potenziellen Partnerinnen und Partnern sind hoch: Die Inhalte müssen in ein funktionales und attraktives Design eingebettet sein, der Dialog darf nicht ins Stocken geraten und die Beteiligten müssen den Mehrwert erkennen. In einem ersten Pilotprojekt im Jahr 2019 – einer Organisationseinheit in Deutschland mit 1.500 Beschäftigten – wurden diese Anforderungen erfolgreich umgesetzt.

Grobanalyse mit dem OHS-Survey

Der in der Grobanalyse eingesetzte Fragebogen blickt auf eine inzwischen über 20-jährige Geschichte zurück: vom "Fragebogen zum Arbeits- und Gesundheitsschutz" (FAGS) über die "Gesundheitsbefragung" bis zur aktuellen Version "Occupational Health and Safety Survey".[5][6][7] Der Fragebogen konnte im Laufe der Zeit immer weiter optimiert werden, liegt als digitale und Papierversion vor und stellt mit 110 Items ein sehr schlankes, aber dennoch reliables, valides und inhaltlich vollständiges Instrument dar.

In Tabelle 1 findet sich eine Übersicht der vier Dimensionen mit den jeweiligen Hauptskalen (die Hauptskalen der "Anforderungen" besitzen jeweils noch Subskalen) und der dazugehörigen Item-Anzahl sowie den Cronbachs Alpha-Werten. Bei Cronbachs Alpha handelt sich um ein Maß für die Reliabilität einer Skala (Werte über .800 sind "sehr gut", Werte über .900 sind "exzellent"[8]).

© Thorsten Uhle
Tabelle 1: Hauptskalen mit jeweiliger Item-Anzahl und Reliabilitätskennwerten (Cronbachs Alpha; N = 907) des OHS-Survey ©Thorsten Uhle

Im Pilotprojekt konnten die Beschäftigten in einem sechswöchigen Zeitfenster die digitale Version des Fragebogens am Bildschirmarbeitsplatz oder auf dem Tablet ausfüllen – deutlich mehr als 70 Prozent der Belegschaft haben das genutzt. Nach Beendigung der Befragung standen bereits am Folgetag die Gesamt- und Bereichsreports zur Verfügung. Alle relevanten Ergebnisse finden sich in einer einzigen Abbildung, dem sogenannten "OHS Cockpit" wieder (siehe Abbildung 1). In dem Cockpit sind mehrere Tausend Einzelinformationen zusammengefasst, statistisch signifikante Auffälligkeiten sind farblich hervorgehoben ("Ampelschema") und fallen beim Betrachten sofort ins Auge – durch das Anklicken relevanter Bereiche im Cockpit öffnen sich weitere Detailinformationen. Neben statistischen Signifikanztests sind auch "Gesetzmäßigkeiten aus der Empirie"[9] in die Auswertungsalgorithmen programmiert worden.

OHS Cockpit  | © Thorsten Uhle
Abbildung 1: Ausschnitt aus dem OHS Cockpit mit fiktiven Werten einer Skala ©Thorsten Uhle

Bei der Anwendung erhält man mithilfe des Cockpits empirisch gestützte Empfehlungen für die weiteren Schritte, unter anderem für die Feinanalyse.

Feinanalyse mit Dialog-Workshops

Die in der Grobanalyse negativ auffälligen Skalen können in der Feinanalyse vertieft ausgewertet und mit Beispielen aus dem Arbeitsalltag konkretisiert werden. Ziel ist die Erarbeitung von Maßnahmenvorschlägen durch die Beschäftigten für die „paritätische Kommission GBpsych“. Die von den Unfallkassen und Berufsgenossenschaften im Jahr 2019 publizierte Methodik "kommmitmensch-Dialogbox" wurde in einem kleinen Forschungsprojekt für die Bedarfe des Gesundheits- und Sicherheitsdialogs in der Bayer AG angepasst.[10]

Die Anforderungen an den globalen Gesundheits- und Sicherheitsdialog mit 100.000 potenziellen Partnerinnen und Partnern sind hoch: Die Inhalte müssen in ein funktionales und attraktives Design eingebettet sein, der Dialog darf nicht ins Stocken geraten und die Beteiligten müssen den Mehrwert erkennen.

Im Pilotprojekt wurden vier halbtägige Dialog-Workshops durchgeführt: drei Workshops mit Beschäftigten und einer mit Führungskräften (jeweils zwischen 7 und 12 Teilnehmende). Die Teilnehmenden wurden zu Beginn in die Methodik eingeführt (Videoclip) und erarbeiteten dann selbstständig, um ein "Spielfeld" sitzend, konkrete Maßnahmenvorschläge.

In einem Spieldurchgang sind vier Stufen zu durchlaufen: Auf der ersten Stufe wird eine aus der Grobanalyse negativ auffällige Skala mit Beispielitems in Erinnerung gerufen. Erfahrungsgemäß gibt es zwischen vier und sieben auffällige Skalen und damit die gleiche Anzahl an Spieldurchgängen. Auf Stufe zwei sollen die Teilnehmenden Dialogkarten, die für jede Skala der Grobanalyse entwickelt wurden, einer Kulturstufe zuordnen (gleichgültig – reaktiv – regelorientiert – proaktiv – wertorientiert), um sich so als Gruppe auf das Kulturkontinuum zu eichen. Auf der dritten Stufe werden konkrete Alltagsbeispiele gesammelt, die den Kulturstufen zugeordnet und aus denen auf Stufe vier erste Maßnahmenideen abgeleitet werden.

Spielfeld Dialog-Workshop | © Thorsten Uhle
Abbildung 2: "Spielfeld" des Dialog-Workshops (Feinanalyse) in Anlehnung an den kommmitmensch-Dialog ©Thorsten Uhle

Im Pilotprojekt wurden 39 Maßnahmenideen entwickelt, die anschließend von der paritätischen Kommission geclustert und in handhabbaren Maßnahmenpaketen verabschiedet wurden. In der Evaluation vergaben die Beteiligten Höchstnoten (1,1 bis 1,4 nach Schulnoten) bezüglich der Zufriedenheit und Akzeptanz mit der Methodik, der Relevanz und Umsetzbarkeit der Maßnahmenideen sowie des Spaßfaktors.

Weiteres Vorgehen

Im Jahr 2020 fanden weitere Pilotierungen im deutschen Sprachraum statt, mit dem Ziel, zusätzliche Digitalisierungsoptionen nutzbar zu machen. So wird beispielsweise das OHS Cockpit noch dynamischer gestaltet und somit zum Dashboard (zusätzliche Hilfs- und Navigationsfunktionen) und mit einer Toolbox verlinkt. Zusätzlich wird das Feinanalyse-Tool als digitale Version entwickelt und evaluiert. Darüber hinaus wird ein web-based Training für das Arbeiten mit dem OHS-Dialog entwickelt. Im Jahr 2021 geht es dann um die globale Pilotierung mit der Prüfung der Kultursensitivität der Ge-samtmethodik und der Vorbereitung des Roll-outs.

Literatur:

Deming, W. E. (1982): Out of the Crisis. Cambridge: Massachusetts Institute of Technology

Hossiep, R. & Mühlhaus, O. (2005): Personalauswahl und -entwicklung mit Persönlichkeitstests. Göttingen: Hogrefe Verlag

Schuller, K., Schulz-Dadaczynski, A., & Beck, D. (2018): Methodische Vorgehensweisen bei der Ermitt-lung und Beurteilung psychischer Belastung in der betrieblichen Praxis. In: Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie, 62 (3), S. 126–141

Uhle, T. (2004): Entwicklung und Evaluation des gestaltungsorientierten "Fragebogen zum Arbeits- und Gesundheitsschutz – Betriebliche Gesundheitsförderung" (FAGS-BGF). In: Bericht zum 50. arbeitswissenschaftlichen Kongress (S. 77–82). Zürich: GfA e. V.

Uhle, T., Zimolong, B., & Elke, G. (2010): FAGS-BGF. Fragebogen zum Arbeits- und Gesundheitsschutz 'Betriebliche Gesundheitsförderung'. In: W. Sarges, H. Wottawa & C. Roos (Hrsg.), Handbuch wirtschaftspsychologischer Testverfahren. Band II: Organisationspsychologische Instrumente (S. 46–53). Lengerich: Pabst Science Publishers

Uhle, T. & Treier, M. (2019): Betriebliches Gesundheitsmanagement. Gesundheitsförderung in der Arbeitswelt – Mitarbeiter einbinden, Prozesse gestalten, Erfolge messen. 4. Aufl., Heidelberg: Springer

Uhle, T. (2020): BGM als Daueraufgabe – Konsolidierungsstrategien im Gesundheitsmanagement. In: R. Trimpop, A. Fischbach, I. Seliger, A. Lynnyk, N. Kleineidam & A. Große-Jäger (Hrsg.). Band I: Psychologie der Arbeitssicherheit und Gesundheit – Gewalt in der Arbeit verhüten und die Zukunft gesundheitsförderlich gestalten. (S. 277–280). Kröning: Asanger Verlag

Uhle, T. & Köppel, G. (2021): Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung: effizient, partizipativ & motivierend. In: R. Trimpop, A. Fischbach, I. Seliger, A. Lynnyk, N. Kleineidam & A. Große-Jäger (Hrsg.). Band II: Psychologie der Arbeitssicherheit und Gesundheit – Gewalt in der Arbeit verhüten und die Zukunft gesundheitsförderlich gestalten. Kröning: Asanger Verlag

UK/BG: https://www.kommmitmensch.de/toolbox/kommmitmensch-dialoge (abgerufen am 20.10.2020)

Ulich, E. (2011): Arbeitspsychologie. 7. Aufl. Zürich: vdf Hochschulverlag