Normung im Zeitalter der Globalisierung

Die Normung ist ein weitgehend internationales Geschäft geworden. Neben klassischen Bereichen wie Maschinensicherheit werden immer stärker Managementsysteme oder sozialpolitische Themen einbezogen. Die Normungsprozesse selbst haben sich durch die Digitalisierung spürbar verändert.

Von der nationalen zur europäischen Normung

Mitte der 1980er-Jahre begann sich der europäische Binnenmarkt zu vertiefen. Die Europäische Gemeinschaft beschloss damals, sich insbesondere für die Sicherheit von Produkten europäisch auf gemeinsame Anforderungen zu einigen und harmonisierten Europäischen Normen (EN) eine Schlüsselrolle einzuräumen. Dieser damals „Neue Ansatz“ hat sich zum „Neuen Rechtsrahmen“ (New Legislative Framework, NLF) weiterentwickelt und ist uns heute ganz selbstverständlich.

Damit Normen die erforderliche Qualität aufweisen, sollten möglichst alle betroffenen Kreise im Normungsprozess mitwirken – dazu gehören natürlich insbesondere die Arbeitsschutzfachleute. Die dafür notwendigen personellen und finanziellen Ressourcen zu organisieren, ist nicht immer einfach. Für Arbeitsmittel wie etwa Maschinen, Druckgeräte oder Persönliche Schutzausrüstungen ist es aber offenbar weitestgehend gelungen: Die allermeisten harmonisierten Normen konkretisieren die entsprechenden europäischen Produktvorschriften zufriedenstellend.

Die sich vertiefende europäische Zusammenarbeit und Vernetzung veranlassten einige nationale Normungsorganisationen, Europäische Normen zum Beispiel auch für Bestattungsdienstleistungen, Qualifizierung für die Dienstleistung Schädlingsbekämpfung oder den Betrieb elektrischer Anlagen anzuregen. Die europäischen Rechtsvorschriften für diese Themen sind, zumindest was die sozialpolitisch relevanten Aspekte betrifft, nicht vollständig harmonisiert. Hier gibt es wesentlich größere Regelungsfreiräume der einzelnen Mitgliedstaaten. Zur Konkretisierung sind europäische Normen somit weit weniger geeignet, da sie ja gerade die supranationale Angleichung von Anforderungen zum Ziel haben. Allerdings wünschen sich europäisch agierende Unternehmen auch europäisch einheitliche Arbeitsschutzanforderungen. Nicht zuletzt würden einige Mitgliedstaaten der EU Arbeitsschutzanforderungen mangels eigener Regelungen gern in deutlich stärkerem Maße an die europäische Normung delegieren.

Von der europäischen zur internationalen Normung

Inzwischen werden Normen jedoch kaum noch national und auch zunehmend nicht mehr von den europäischen Normungsorganisationen CEN und CENELEC, sondern gleich auf internationaler Ebene bei ISO und IEC erarbeitet. Infolgedessen spielen nicht nur die zum Teil schon recht unterschiedlichen europäischen, sondern die noch weit uneinheitlicheren Interessen auf weltweiter Ebene eine Rolle. Der personelle und finanzielle Aufwand steigt enorm, da Arbeitsgruppen prinzipiell überall auf der Welt zusammenkommen können. Es ist deswegen deutlich schwieriger, das internationale Normungsgeschehen zu beobachten und Expertinnen und Experten zur Mitarbeit auf internationaler Bühne zu bewegen.

Dies betrifft nicht nur Normen zu traditionellen Produkten wie Baumaschinen oder Elektrowerkzeugen, die schon seit einiger Zeit vorrangig von ISO oder IEC herausgegeben und dann meist unverändert als EN übernommen werden. Sehr häufig stehen nun neuere Technologien im Vordergrund, beispielsweise additive Fertigungsverfahren („3-D-Druck“) oder künstliche Intelligenz. Wem es jetzt nicht gelingt, seine Interessen in die normativen Grundlagen einzubringen, wird danach Mühe haben, das nachzuholen.

Abseits der klassischen Produkt- oder Anlagennormung zeichnet sich auf internationaler Ebene der Trend ab, Normung auf Systeme der Unternehmensführung oder auf Qualifikationen und Berufsbilder auszuweiten. Ein solcher Trend der vergangenen Jahre sind Normen für Managementsysteme. Bekannte Beispiele sind das Qualitätsmanagement nach ISO 9001 und das Umweltmanagement nach ISO 14001. Darüber hinaus wurden bereits in den vergangenen Jahren weitere internationale Normen in das deutsche Normenwerk überführt, die aber noch nicht so einen hohen Bekanntheitsgrad erlangt haben. Zu nennen wären hier unter anderem DIN ISO 45001 mit Anforderungen für Arbeitsschutz-Managementsysteme oder DIN ISO 19600 mit Leitlinien für Compliance-Managementsysteme.

Inzwischen werden Normen jedoch kaum noch national und auch zuneh­mend nicht mehr von den europäi­schen Normungsorganisationen CEN und CENELEC, sondern gleich auf internati­onaler Ebene bei ISO und IEC erarbei­tet.

Die Zahl solcher Normungs- und Standardisierungsvorhaben für Dienstleistungen und Management wächst ständig. Viele fürchten, dass sie eine Zertifizierungsspirale in Gang setzen könnten. Besonders bedenklich ist auch, dass nun quasi ganze Tätigkeiten international genormt werden sollen – wie es zuletzt für das Friseurhandwerk vorgeschlagen wurde –, obwohl es in Deutschland und vielen anderen Ländern bereits eine Vielzahl guter und bewährter Regelungen gibt. Die Überprüfung, ob neue Normen bestehenden nationalen Regelungen entgegenstehen, verschlingt unnötige Ressourcen. Normen können zwar dazu beitragen, das gesetzliche und untergesetzliche Regelwerk im Arbeitsschutz überschaubarer und damit gerade auch für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) leichter anwendbar zu machen. Sie dürfen aber keine weitere Regelungsebene bilden.

Sozialpolitische Themen im engeren Sinne

Auch in sozialpolitischen Themenfeldern nimmt die internationale Normung stark zu und greift dabei in die verfassungsmäßig geschützte Tarifautonomie und die Regelungshoheit der Sozialpartner ein. Allein im Bereich des Personalwesens werden derzeit 29 unterschiedliche Normen erarbeitet oder befinden sich bereits wieder in der Revision. Die Themen reichen von Vielfältigkeit (Diversity) in Belegschaften über Inklusion, Wissensmanagement, Rekrutierung und Personalentwicklung bis neuerdings auch zur Gestaltung von Entgeltsystemen.

Beispielhaft sollen hier einige genannt werden. So enthält ISO 30414 Leitlinien für das interne und externe Human Capital Reporting. Mit der technischen Spezifikation ISO/TS 24179 sollen Arbeitsschutzkennzahlen international vergleichbar gemacht werden, beispielsweise die Zahl der Arbeitsunfälle in einem Unternehmen. Wenngleich die konsequente Erfassung von Unfallzahlen zu begrüßen ist, bleibt die Aussagekraft der dort definierten Kennzahlen fraglich. Das folgt unter anderem aus den landesspezifisch unterschiedlichen Definitionen des Begriffs „Arbeitsunfall“. Zudem sind Arbeitsunfälle in den meisten KMU glücklicherweise ein sehr seltenes Ereignis. Damit aussagekräftige Trends ablesbar wären, bräuchte man verlässliche Zahlen über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten – eine Zeitspanne, die die Halbwertszeit der meisten ISO-Normen deutlich übersteigt.

Eine Norm, die derzeit in der Erarbeitung ist, ist ISO 23326, mit deren Anwendung die Einbindung der Beschäftigten in das Unternehmen gefördert werden soll. Hier erscheint fraglich, ob solche Themen, die sich eher mit Motivationskonzepten befassen, in der Normung richtig angesiedelt sind. Insgesamt lässt sich feststellen, dass mittlerweile einige solcher Normen entwickelt werden, die eher Lehrbuchcharakter haben und nicht klassische technische Anforderungen definieren.

Pandemieleitfäden

Im Zuge der weltweiten Entwicklungen rund um das Coronavirus wurden außerdem Normungsprojekte mit Bezug zur Pandemie eingeleitet.

In der Erarbeitung ist ISO PAS 45005, mit der ein allgemeiner Leitfaden für das Arbeitsschutzmanagement während der COVID-19-Pandemie bereitgestellt werden soll. Dieser richtet sich an Organisationen aller Branchen und jeder Größe. Es wird beschrieben, welche besonderen Maßnahmen des Arbeitsschutzes bei Aufrechterhaltung des Betriebs in der Pandemiezeit nötig sind. Ein weiteres Beispiel für einen Pandemieleitfaden ist der Antrag der chinesischen Normungsorganisation SAC zur Erarbeitung eines International Workshop Agreements (IWA), das Empfehlungen formuliert, wie Social Distancing in Arbeitsstätten und Arbeitsabläufen gewahrt werden kann.

Bei den weniger technischen Themen fällt es allerdings ungleich schwerer, eine ein­heitliche und tragfähige Linie über alle Kontinente zu finden.

Dokumente zur Pandemieeindämmung werden aber auch von staatlicher Seite bereitgestellt. So hat die Bundesregierung bereits im April den SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandard veröffentlicht. Problematisch wird es, wenn Unternehmen Gefahr laufen, den Überblick zu verlieren, weil sie aus einer Fülle von Dokumenten die für sie relevanten herausfiltern müssen. Generell sollten die rechtlich unverbindlichen Normen nicht in Themenfelder eingreifen, die vom Staat bereits gefüllt worden sind.

Licht und Schatten der internationalen Normung

Im Zuge der Globalisierung hat sich also auch die Normung immer weiter internationalisiert. Abkommen zwischen den europäischen und internationalen Normungsorganisationen, um Doppelarbeit zu vermeiden, haben dies wesentlich erleichtert: Die Arbeit findet nach der Wiener Vereinbarung (zwischen CEN und ISO) und der Frankfurter Vereinbarung (zwischen IEC und CENELEC) vorrangig auf internationaler Ebene statt. Über die Projekte und Entwürfe wird dann auf europäischer Ebene gleich parallel zur internationalen Ebene abgestimmt.

Dies erschwert es aber auch, wirklich tragfähige Konsense zu finden. Schließlich möchte jedes Land oder jede Wirtschaftsregion, dass den dort geltenden Rahmenbedingungen Rechnung getragen wird. Für Länder wie die USA steht dann möglicherweise eher die Rolle der Normen für die Produkthaftung, für die Länder der EU eher die Konformitätsvermutung für die Binnenmarktvorschriften im Vordergrund. Andererseits hat die COVID-19-Pandemie auch gezeigt, wie vorteilhaft international einheitliche Produktnormen sein können: Der Mangel an regional ordnungsgemäß zertifizierten Atemschutzmasken für das medizinische Personal erforderte es zu Beginn der Pandemie, in Europa auch amerikanische und japanische Standards anzuerkennen, obwohl diese den europäischen Rechts- und Sicherheitsvorschriften nicht voll entsprechen. Hätte es eine international etablierte und europäisch harmonisierte Norm gegeben, wäre die Beschaffung möglicherweise einfacher gewesen.

Bei den weniger technischen Themen fällt es allerdings ungleich schwerer, eine einheitliche und tragfähige Linie über alle Kontinente zu finden. Hier wäre es besser, die Wiener oder Frankfurter Vereinbarung grundsätzlich nicht anzuwenden und vielleicht sogar, solche Normen nur ausnahmsweise als Europäische Normen zu übernehmen. Denn EN müssen in der EU von allen Mitgliedstaaten unverändert übernommen werden, egal ob sie ins nationale Konzept passen oder nicht. Rein internationale Normen zu übernehmen bleibt demgegenüber eine Entscheidung eines jeden Mitglieds von ISO oder IEC. So brauchte zum Beispiel DIN die in Deutschland nicht hilfreiche, in vielen anderen Ländern aber mit offenen Armen aufgenommene ISO 35001 zum Biorisk Management nicht zu übernehmen.

Digitalisierung der Normung ist Chance für den Arbeitsschutz

Die COVID-19-Pandemie erschwert zwar in manchen Fällen die Normungsarbeit, etwa wenn sehr schwierige Diskussionen ohne Präsenzveranstaltungen nicht weitergeführt werden können. Insgesamt hat sie die Digitalisierung der Normungsprozesse aber in vorher undenkbarem Ausmaß beschleunigt. Und da aktuell fast alle Arbeitsgruppen virtuell tagen, ist es auch wesentlich leichter, international mitzuarbeiten. Es gelingt gegenwärtig, mit überschaubarem Zeitaufwand und ohne Reisekosten Arbeitsschutzpositionen vorzutragen und zu verteidigen – das ist vor allem für Kreise mit beschränkten Ressourcen ein Quantensprung! Inwieweit sich das bewährt und nach der Pandemie so bleiben wird, ist allerdings noch nicht abzusehen.