Cannabislegalisierung: Wirkung auf die Fahrtüchtigkeit nicht unterschätzen

Der neue Cannabis-Grenzwert stellt die Verkehrssicherheitsarbeit vor neue Herausforderungen. DVR-Präsident Manfred Wirsch spricht über erforderliche Anpassungen in der polizeilichen Ausbildung und Ausstattung, in der Unfallstatistik sowie die Notwendigkeit, die Öffentlichkeit aufzuklären. Niemand darf berauscht ein Fahrzeug führen und sich und andere gefährden.

Seit dem 1. April 2024 dürfen Volljährige in Deutschland unter Auflagen Cannabis legal konsumieren, anbauen und besitzen. Anfang Juni 2024 hat der Deutsche Bundestag einen neuen Grenzwert für das Cannabinoid Tetrahydrocannabinol (THC) im Straßenverkehr beschlossen – es ist hauptsächlich für die psychoaktive und berauschende Wirkung von Cannabis verantwortlich. Dabei wurde dieser von vormals 1,0 auf 3,5 Nanogramm THC pro Milliliter Blutserum angehoben. Das Gesetz trat am 22. August 2024 in Kraft.

Herr Wirsch, wissen wir genug über die Wirkung von Cannabis auf die Verkehrstüchtigkeit?

Wirsch:
Wir wissen, dass Cannabis individuell sehr unterschiedlich wirkt und abgebaut wird. Die Wirkung hängt stark von der Konsumart, Dosierung und Gewöhnung ab, aber auch von körperlichen und psychischen Faktoren der Konsumierenden. Starke Müdigkeit, Störung der Motorik, Konzentrations- und Aufmerksamkeitsschwankungen, Ausrichten der Wahrnehmung auf irrelevante Nebenreize, Euphorie, Beeinträchtigung der Kritikfähigkeit und Selbstüberschätzung gehören zu den Wirkungen von Cannabiskonsum, die die Fahrtüchtigkeit beeinträchtigen. Dabei kommt es zu typischen Fahrfehlern wie Abweichen von der Fahrspur; zu spätes Reagieren; Missachten von Verkehrsregeln wie Vorfahrt und Rotlicht; keine adäquaten Reaktionen auf Wahrnehmungen am Blickfeldrand wie Fußgänger, Kinder; unsichere Fahrweise und enthemmtes Fahren. Allgemeingültige Aussagen zur Wirkung von Cannabis auf die Fahrtüchtigkeit lassen sich somit nicht treffen.

Seit Dezember 2022 ist Manfred Wirsch Präsident des DVR. | © Martin Lukas KIM/DVR
Seit Dezember 2022 ist Manfred Wirsch Präsident des DVR. ©Martin Lukas KIM/DVR

Welche Daten haben wir mit Blick auf die Fahrtüchtigkeit im Straßenverkehr?

Wirsch:
Die Datenlage ist nach wie vor diffus. So zeigt ein nach der Legalisierung durchgeführter Test des ADAC, dass man sich nicht darauf verlassen kann, unter 3,5 Nanogramm THC pro Milliliter Blutserum fahrtüchtig zu sein. Was wir aber wissen, ist, dass Cannabis in Europa die nach Alkohol mit Abstand am häufigsten konsumierte Droge bei an Verkehrsunfällen beteiligten Menschen ist (Prävalenz Cannabis: 1,32 Prozent, Prävalenz Kokain 0,42 Prozent).[1] Dennoch reichen die Daten nicht aus, um die Unfallrisiken und -folgen detaillierter darstellen und auswerten zu können. Der DVR schließt sich daher der Position des Europäischen Verkehrssicherheitsrats (ETSC) an, dass mehr Forschungserkenntnisse zu Drogen im Straßenverkehr in Europa nötig sind. In Deutschland müssen dafür in einem ersten Schritt Cannabisunfälle überhaupt erst in der amtlichen Unfallstatistik erfasst werden. Nach unseren Informationen wird dies von den Ländern vorbereitet.

Wie beurteilt der DVR die aktuelle Rechtssetzung zu Cannabis mit Blick auf die Verkehrssicherheit?

Wirsch:
In der Erarbeitung des Gesetzentwurfs wurde die Verkehrssicherheit lange nicht berücksichtigt. Es wurde ausschließlich über einen Grenzwert gesprochen, der – wie beschrieben – keine verlässliche Aussage über die Fahrtüchtigkeit treffen kann. Auf den letzten Metern wurden dann auch auf Drängen des DVR und vieler Mitgliedsorganisationen hin einige wichtige Aspekte wie ein absolutes Fahrverbot in der Probezeit und bei Personen unter 21 Jahren zur Straßenverkehrssicherheit ergänzt.

Wir appellieren an alle, die Cannabis konsumieren, die Wirkung auf die Fahrtüchtigkeit nicht zu unterschätzen! Weiterhin gilt: Wer ein Kraftfahrzeug nicht sicher führen kann, gefährdet Menschenleben und macht sich unabhängig vom Grenzwert strafbar!

Mit Blick auf die Einhaltung der Vorgaben zum Cannabiskonsum und zur Teilnahme am Straßenverkehr: Sind die Rahmenbedingungen so gestaltet, dass eine effektive Überwachung gewährleistet ist?

Wirsch:
Es gibt ein bundesweit gültiges Curriculum für die Ausbildung von Polizistinnen und Polizisten, das die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) in den 1990er-Jahren entwickelt hat. Seitdem wurden auf Landesebene vereinzelt Aktualisierungen vorgenommen. Die Polizeien der Bundesländer sollten diesen Ansatz verfolgen und bestehende Programme vereinheitlichen und gemeinsam weiterentwickeln. Dies sollte auch der Bund unterstützen, denn die Verkehrssicherheit darf trotz angespannter Haushaltslage nicht zu kurz kommen. Der DVR setzt sich auch auf Länderebene dafür ein, dass mehr Mittel in den Haushalten für die Verkehrssicherheitsarbeit zur Verfügung gestellt werden und die Aus- und Fortbildung der Polizei verbessert wird.

Besteht aus Ihrer Sicht das Risiko, dass Verkehrsteilnehmende die Risiken von Cannabis für ihre eigene und die Sicherheit anderer im Straßenverkehr nicht ernst genug nehmen? Welche Maßnahmen braucht es aus Ihrer Sicht noch, um die Bevölkerung über die Risiken des Cannabiskonsums für die Verkehrssicherheit aufzuklären?

Wirsch:
Mit der Cannabislegalisierung, gefolgt von einem angehobenen THC-Grenzwert für den Straßenverkehr wird aus unserer Sicht ein falsches Signal gesendet. Dieses kann zu einer verminderten Risikowahrnehmung und einer niedrigeren Hemmschwelle führen, die eine Konsumzunahme in der Bevölkerung begünstigen. Damit ist von einem Anstieg von Fahrten unter Cannabiseinfluss auszugehen und demzufolge von einer Zunahme von schweren Verkehrsunfällen mit Verletzten und Getöteten. Die Diskussion über den THC-Grenzwert hat leider den Eindruck hinterlassen, dass es analog zum Alkohol einen Grenzwert für eine Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit geben könne. Die Ausgangslage von 1,0 Nanogramm THC pro Milliliter Blutserum bei Cannabis beantwortet aber nur die Frage, ab welchem analytischen Grenzwert ein Konsum zweifelsfrei festgestellt werden kann.

Der DVR sieht die Einführung einer gesetzlichen „Wirkgrenze” kritisch. Diese ist fachlich höchst umstritten und kann falsch dahin gehend interpretiert werden, dass Cannabis „nicht so gefährlich“ sei. Laut einer repräsentativen Studie des TÜV-Verbands geben 42 Prozent der 16- bis 75-jährigen Befragten an, nicht ausreichend über Cannabis im Straßenverkehr informiert zu sein.[2] Auch vor diesem Hintergrund startet der DVR mit Unterstützung der DGUV eine Informationskampagne, um über die Gefahren von Cannabis im Straßenverkehr aufzuklären. 

Das Interview führte Seema Mehta.