„Unabhängig von Zuständigkeiten unbürokratisch und professionell agieren“
Im Februar dieses Jahres jährten sich die Ereignisse von Hanau und Volkmarsen. Ein Mann hat in Hanau neun Menschen erschossen, in Volkmarsen wurde ein Fahrzeug in einen Rosenmontagszug gelenkt – mehr als 100 Menschen wurden verletzt. Die Unfallkasse Hessen (UKH) hat bei beiden Ereignissen die Koordinierung für die gesetzliche Unfallversicherung und zum Teil für weitere beteiligte Institutionen übernommen. Bis heute werden Betroffene betreut und unterstützt. Ein Gespräch mit Michael Sauer, Geschäftsführer der Unfallkasse Hessen.
Herr Sauer, vor einem Jahr ereigneten sich in Hanau und Volkmarsen zwei Anschläge. Sie sprechen von Großschadensereignissen – was ist darunter zu verstehen?
Laut Definition muss das Ereignis außerhalb einer Betriebsstätte im öffentlichen Raum stattfinden, zum Beispiel ein Flugzeugabsturz, Terroranschlag oder Amoklauf. Es muss zudem absehbar sein, dass mit einer größeren Anzahl an Verletzten oder Erkrankten zu rechnen ist. Und es sollten mindestens zwei Unfallversicherungsträger – also Berufsgenossenschaften oder Unfallkassen – betroffen sein. Bei diesen Voraussetzungen wird das DGUV-Standardverfahren zur Koordination des Ereignisses eingeleitet – mit zentraler Ansprechstelle auf Ebene der DGUV und koordinierender Stelle auf Länderebene.
Warum ist eine zentrale Koordinierung der Hilfsmaßnahmen notwendig?
Großschadenslagen sind für alle öffentlichen Akteure eine besondere Herausforderung. Staatliche Stellen und Hilfsorganisationen müssen in solchen Situationen zeigen, dass sie handlungsfähig sind. Für Berufsgenossenschaften und Unfallkassen bedeutet das: unabhängig von Zuständigkeiten unbürokratisch und professionell zu agieren. Es gilt, schnell wirksame Hilfe zu organisieren und nach außen hin mit einer Stimme zu sprechen. In extremen Situationen müssen wir sicherstellen, dass Kompetenzen gebündelt und Aktivitäten in Kommunikation, Rehabilitation und Prävention abgestimmt werden. DGUV, Unfallkassen und Berufsgenossenschaften haben Lehren aus vergangenen Ereignissen gezogen – zum Beispiel am Breitscheidplatz in Berlin – und bereits 2019 ein entsprechendes Projekt zur Koordinierung abgeschlossen. Bei der DGUV wurde die zentrale Ansprechstelle eingerichtet. Sie bündelt Informationen von staatlichen Stellen und Unfallversicherungsträgern und prüft die Einleitung des Verfahrens. Die Koordination auf Länderebene übernehmen die Unfallkassen für alle beteiligten Unfallversicherungsträger.
Wie hat die Unfallkasse Hessen beim Anschlag in Hanau reagiert?
Die zentrale Ansprechstelle der DGUV initiierte das Standardverfahren; die Unfallkasse Hessen wurde als koordinierende Stelle benannt. Wir konnten bei der Koordination der Maßnahmen sofort auf unser funktionierendes hessisches Krisennetzwerk zurückgreifen, das wir bereits in der Vergangenheit aufgebaut hatten. Es bestehen langjährige Kooperationen mit den unterschiedlichsten Organisationen: Dazu gehören Ministerien, Rettungsdienste, der Arbeitskreis Psychosoziale Notfallversorgung der Stadt Frankfurt und das Schulische Kriseninterventionsteam des Hessischen Kultusministeriums. Wir haben glücklicherweise auch einen guten Draht zum Opferschutzbeauftragten der Bundesregierung, Prof. Dr. Edgar Franke. Unser internes Krisenteam ist bestens auf solche Fälle vorbereitet und konnte sofort mit der Arbeit beginnen.
Wie haben Betroffene von der Hilfe der gesetzlichen Unfallversicherung erfahren?
In unserem Auftrag verteilten die Hilfsorganisationen vor Ort Informationsmaterial, zum Beispiel zum Unfallschutz für Ersthelfende, zu Versicherungsschutz und Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung sowie die Broschüre „Traumabewältigung bei Erwachsenen“. Beschäftigte der Unfallkasse waren auch am „Runden Tisch“ vertreten. Außerdem wurde sofort die Dark-Site[1] auf der Website der Unfallkasse geschaltet – mit direkter Kontaktmöglichkeit für Betroffene und mit Infos zu Versicherungsschutz und Leistungsumfang. Auch die Notfallnummer des Opferschutzbeauftragten des Bundes wurde veröffentlicht. Die Kanäle und Reichweiten der sozialen Medien haben wir ebenfalls genutzt.
In Volkmarsen gab es mehr als 100 Verletzte. Wie konnten Sie konkret helfen?
43 Personen hatten sich gemeldet: Ersthelfende, Mitglieder von Hilfeleistungsunternehmen sowie Zeugen und Zeuginnen des Anschlags. Die Unfallkasse Hessen sorgte schwerpunktmäßig für individuelle, psychologische Betreuung, allgemeine Beratung und psychologische Erstversorgung; sie organisierte außerdem Gruppengespräche zur Krisenintervention. Einige Menschen betreuen wir heute noch und wir rechnen mit weiteren Meldungen.
Kommen die Hilfsangebote bei den Betroffenen an?
Ja, die Hilfe kommt direkt und wirksam bei allen an. Sie wird dankbar an- und wahrgenommen. Die Rückmeldungen sind durchweg positiv. Die Auswertung und der Austausch zu den Ereignissen haben im November 2020 im Rahmen der Konferenz der koordinierenden Stellen stattgefunden. Wir haben dort unsere Abschlussberichte vorgestellt.
Und wie geht es jetzt in Hessen weiter?
In erster Linie geht es jetzt um den Ausbau des Krisennetzwerks. Wegen der Coronasituation konnte unser geplantes Treffen mit den zuständigen Berufsgenossenschaften und dem Opferbeauftragten des Landes Hessen nicht stattfinden. Das werden wir im Jahr 2021 auf jeden Fall nachholen.
Wie ist die gesetzliche Unfallversicherung aus Ihrer Sicht aufgestellt?
Wenn es uns gelingt, unsere Kompetenzen zu bündeln, unsere Aktivitäten in Kommunikation, Rehabilitation und Prävention zu harmonisieren und mit unserem Know-how Menschen – auch außerhalb unseres Systems – zu helfen, dann haben wir alle die große Chance, unsere Reputation als verlässliche Akteure im System der sozialen Sicherheit in Deutschland zu festigen und zu erhöhen. Die Unfallkasse Hessen hat mit ihrer Koordination jedenfalls dazu beigetragen.
Das Interview führte Kathrin Baltscheit, DGUV.
„Bereit sein, überrascht zu sein!“
Bei der Etablierung eines Standardkrisenmanagements für Großschadensereignisse sind sich die Katastrophenmanagerinnen und Katastrophenmanager der Behörden mit Sicherheitsaufgaben einig: „Seien Sie bereit, überrascht zu sein.“ Man kann nicht auf jede Lage vorbereitet sein, aber man kann ein Verfahren vorhalten, mit dem auf jede Lage reagiert werden kann.
Großschadensereignisse stellen das gesamte System der gesetzlichen Unfallversicherung vor eine große Herausforderung. Diese Herausforderung haben wir angenommen und ein von allen Berufsgenossenschaften und Unfallkassen getragenes Verfahren zur Koordination der Aktivitäten in Kommunikation, Rehabilitation und Prävention entwickelt.
Unfallversicherungsträger sind in Großschadenslagen keine Akteure der ersten Stunde. Sie müssen aber in ihrer Gesamtheit auf Ereignisse vorbereitet sein, in denen unterschiedliche Träger mit dem gleichen Ziel betroffen sind: Sie müssen schnell wirksame Hilfe sicherstellen – im Zusammenspiel mit allen anderen Beteiligten. In Hessen ist nach den tragischen Ereignissen in Hanau und Volkmarsen die Hilfe bei den Betroffenen direkt und wirksam angekommen. „Sie wird dankbar an- und wahrgenommen“, sagt der Geschäftsführer der Unfallkasse Hessen. Das ist ein ermunterndes Zeichen, dass unser Konzept funktioniert.
Wir haben ein gutes Konzept zur Bündelung unserer Arbeit in Großschadenslagen. Ziel erreicht? Ja, aber wir stellen es nach jedem Ereignis auf den Prüfstand. Und da, wo Stellschrauben nachjustiert werden müssen, werden wir das tun. Im Interesse unseres Systems. Bereit sein, überrascht zu sein eben.
Dominik Heydweiller, Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (VBG)
Thomas Wittschurky, Feuerwehr-Unfallkasse Niedersachsen (FUK Niedersachen)