"Lösungen gemeinsam zu ersinnen, schafft ein Wir-Gefühl"

Zu Beginn der Pandemie ergriffen Betriebe und Einrichtungen im Schnellverfahren Maßnahmen, um Beschäftigte vor einer Infektion mit dem Coronavirus zu schützen. Gleichzeitig kam vielerorts die Frage auf, wie man den durch die Pandemie bedingten psychischen Belastungen für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen begegnen kann. Im Interview erklärt Esin Taşkan-Karamürsel, Leiterin des Sachgebiets Psyche und Gesundheit in der Arbeitswelt bei der DGUV, wie die Arbeit während der Pandemie gestaltet werden kann, damit Beschäftigte gut zurechtkommen.

Frau Taşkan-Karamürsel, mit den seit dem Herbst wieder steigenden Infektionszahlen wurden die Schutzmaßnahmen für Beschäftigte erneut überprüft und vielerorts noch einmal verschärft. Das und die generelle Unsicherheit haben Auswirkungen auf das Wohlbefinden vieler Menschen. Welchen konkreten psychischen Belastungen sind Beschäftigte seit Beginn der Coronapandemie vor einem Jahr ausgesetzt?

TASKAN-KARAMÜRSEL: Die Belastungen sind vielfältig und haben vor allem mit der Anpassung an die neuen Gegebenheiten zu tun. Durch die Pandemie haben sich die Arbeitsformen verändert. Viele Beschäftigte arbeiten vermehrt von zu Hause aus und müssen mit neuen Kommunikationstools zurechtkommen. Im Homeoffice verschwimmen Arbeitszeit und private Zeit oft. Jene, die nicht von zu Hause arbeiten können, müssen an ihrem Arbeitsplatz verstärkt auf Hygiene und Abstandsregeln achten. Hinzu kommt die emotionale Inanspruchnahme, die in bestimmten Branchen auftritt, zuvorderst natürlich im Gesundheitswesen. Je länger die Pandemie anhält, desto größer wird bei vielen auch die Arbeitsplatzunsicherheit, einige sind aufgrund von dauerhafter Kurzarbeit in Existenznot. Über all dem schwebt die ständige Infektionsgefahr. Die Angst, sich während der Arbeit anzustecken und das Virus vielleicht an die Angehörigen zu Hause weiterzugeben, macht etwas mit uns Menschen. All das für sich genommen oder in Kombination kann zu einer Überlastung führen.

Welche Phase des bisherigen Pandemieverlaufs war für Arbeitnehmerinnen und Arbeit­nehmer besonders kritisch?

TASKAN-KARAMÜRSEL: Mir ging es da ähnlich wie vielen Beschäftigten in der Anfangszeit der Pandemie und erneut zum Jahresbeginn. Ich habe insbesondere den Lockdown inklusive geschlossener Schulen und Kitas als sehr schwierig erlebt, weil die Kinderbetreuung komplett wegbrach. Es war ein ständiger Drahtseilakt: Man musste in die neuen Arbeitsformen wechseln, gleichzeitig Homeschooling betreiben und gewährleisten, dass die Arbeit weiterläuft. Erste Studien während der Pandemie zeigten, dass das von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gut gewuppt wurde. Langfristig angelegte Studien jedoch relativierten dieses Bild und wiesen auf einen Anstieg der Unzufriedenheit hinsichtlich der Vereinbarkeit von Beruf und Familie bei Beschäftigten hin.

Esin Taskan-Karamürsel, DGUV | © Carola Thiede
Esin Taskan-Karamürsel ist Leiterin des Sachgebiets Psyche und Gesundheit in der Arbeitswelt bei der DGUV ©Carola Thiede

Berufstätige Frauen sind und waren sehr gefordert, weil sie einen Großteil der informellen Sorgearbeit leisten und sich dieser Zustand während der Pandemie verstärkte. Die Pandemie hat die traditionellen Geschlechterrollen gefördert.

Esin Taskan-Karamürsel

Welche Beschäftigten traf die Pandemie hinsichtlich psychischer Belastungen besonders hart?

TASKAN-KARAMÜRSEL: Besonders herausgefordert waren nach meiner Ansicht drei Personengruppen, die in Studien zur Pandemie immer wieder eine Rolle spielten: Beschäftigte im Gesundheitsdienst, berufstätige Frauen und alleinstehende Beschäftigte.

Die Gefahr psychischer Störungen ist im Gesundheitsdienst auch unter Normalbedingungen wegen möglicher traumatischer Ereignisse im Beruf erhöht. Eine Vielzahl von Studien zeigt derzeit, dass die Coronakrise Gefühle der Angst, Hoffnungslosigkeit und Depressivität verstärkt hat. Eine gute Arbeitsgestaltung und ein Auffangnetz mit psychologischer Erstbetreuung, Kriseninterventionsteams sowie professioneller psychologischer Unterstützung bei anhaltenden Störungen können hier Abhilfe schaffen und wurden bereits größtenteils während des ersten Lockdowns etabliert.

Berufstätige Frauen sind und waren sehr gefordert, weil sie einen Großteil der informellen Sorgearbeit leisten und sich dieser Zustand während der Pandemie verstärkte. Die Pandemie hat die traditionellen Geschlechterrollen gefördert. Familien sollten nun gemeinsam die Erfahrungen aus dem ersten Lockdown bewerten und schauen, was besser werden kann. Auch gilt es zu prüfen, welche Möglichkeiten der Arbeitgeber einräumt – zum Beispiel Sonderurlaub – oder welche politischen Beschlüsse Familien unterstützen.

Durchgängig herausgefordert während der Pandemie sind diejenigen, die alleinstehend sind. Bei diesen spielt der Kontakt bei der Arbeit eine umso größere Rolle. Manche Beschäftigte fühlen sich daher jetzt sozial isoliert. Dem kann man mit neuen Kommunikationsformen entgegenwirken: Statt eine Mail zu schreiben, kann man mit dem Kollegen eine Unterhaltung per Video führen. In berufliche Gespräche bewusst Smalltalk einfließen zu lassen, führt dazu, dass sich die Kollegin besser wahrgenommen fühlt.

Wie reagieren Arbeitnehmerinnen und Arbeit­nehmer auf diese außergewöhnlichen Belastungen?

TASKAN-KARAMÜRSEL: Das ist individuell sehr verschieden. Auf körperlicher Ebene reichen die Reaktionen von Magen-Darm-Problemen über Kopfschmerzen bis hin zu Herzrasen und Schwitzen, der Blutdruck kann sich erhöhen. Viele schlafen auch schlecht und sind dann entsprechend ausgelaugt und müde. Sie können die Ereignisse des Arbeitstages nicht hinter sich lassen und wälzen auch nachts Probleme. Gerade Menschen, die sich sehr stark mit ihrer Arbeit identifizieren, schätzen ihre eigene Leistung oft als zu gering ein. Zu viel Stress oder auch ein andauernder Pandemieausnahmezustand ziehen manchmal auch eine gewisse erlernte Hilflosigkeit nach sich – die Beschäftigten resignieren. Die Einschätzung, an der Situation ja doch nichts ändern zu können, ist gefährlich. Spätestens wenn Erholungspausen ausgelassen werden, der Konsum von Alkohol und Zigaretten steigt und der Appetit verloren geht oder Heißhunger verstärkt auftritt, sollten alle Alarmglocken schrillen.

Zu viel Stress oder auch ein andauernder Pandemieausnahmezustand ziehen manchmal auch eine gewisse erlernte Hilflosigkeit nach sich – die Beschäftigten resignieren.

Esin Taskan-Karamürsel

Wenn die Beschäftigten nicht mehr dafür sorgen können, dass es ihnen gut geht, ist auch das Unternehmen in der Pflicht, entsprechend zu handeln. Was können Betriebe und Einrichtungen schon im Vorfeld tun, um ihr Personal in dieser Zeit gesund zu erhalten? Und welche spezifischen Aufgaben kommen dabei der Führungskraft zu?

TASKAN-KARAMÜRSEL: In dieser Situation ist es vorrangig wichtig, dass auch die Führungskraft Prioritäten setzen kann und gemeinsam mit dem Team überlegt, was unter den veränderten Bedingungen gemacht und beachtet werden muss. Muss die Kollegin beispielsweise wegen eines Quarantänefalls in der Familie neben der Arbeit die Kinderbetreuung bewerkstelligen, dann kann sie natürlich nicht mehr die Leistung erbringen, die sie vorher erbracht hat. Hier hat die Führungskraft klar zu definieren: Was muss erreicht werden? In welcher Form schaffen wir das? Gegebenenfalls müssen Dinge auch zurückgestellt werden. Neben der Organisation ist auch Empathie wichtig. Die Führungskraft muss ein offenes Ohr haben für die Ängste und Bedenken ihrer Mitarbeitenden. Lösungen gemeinsam zu ersinnen, schafft ein Wir-Gefühl und stärkt das Empfinden, der Situation nicht hilflos ausgeliefert zu sein.

Wo finden Unternehmen Informationen für ein planvolles Vorgehen? 

Systematisch können Arbeitgebende das Thema mit Hilfe der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung angehen. Dazu gibt es bereits sehr gute Handlungshilfen, die insbesondere die psychische Belastung und Beanspruchung durch die Coronapandemie aufgreifen und Schutzmaßnahmen empfehlen. Transparent und bewusst sollten Arbeitgebende die Einschränkungen der Kommunikation und Kooperation bei der Arbeit thematisieren, einen Raum bieten Sorgen und Ängste vor einer möglichen Infektionsgefahr anzusprechen, kritische Situationen mit Kunden aufgrund der Hygiene- und Abstandsregeln besprechen, Belastungen durch zu viel oder zu wenig Arbeit organisatorisch aufgreifen. Miteinander ins Gespräch zu kommen, ist also von großer Bedeutung. Die Dialogkarten, die im Rahmen der Präventionskampagne kommmitmensch der gesetzlichen Unfallversicherung entwickelt worden sind, können dabei eine gute Hilfe sein. Anhand der Karten können sich die Teams über erlebte Situationen austauschen, Diskussionen anstoßen und Lösungsansätze entwickeln.

Was können Beschäftigte denn selbst für ihre psychische Gesundheit tun?

TASKAN-KARAMÜRSEL: Sie können sich mit den Kolleginnen und Kollegen austauschen, die ähnlich empfinden. Beschäftigte haben mehrere Möglichkeiten: Handelt es sich um ein durchaus lösbares Problem, sollte man handlungsorientiert an die Sache herangehen, die Führungskraft in den Prozess einbinden und sie gegebenenfalls um Hilfe bitten. Lässt sich das Problem nicht lösen, weil sich die Führungskraft beispielsweise sperrt oder nicht zugänglich ist, kann man es nur emotional bewältigen. Das beinhaltet, Rat bei anderen zu suchen, die eigene Haltung zur Problemlage zu ändern und sich zu überlegen, was für einen selbst wichtig ist. Nicht alles hat man selbst in der Hand. Es kann auch helfen, sich im privaten Umfeld auszutauschen, also mit Menschen, die mit dem eigenen Arbeitsgebiet nichts zu tun haben. Das schafft Distanz zur eigenen Problemlage und hilft, bessere Copingmechanismen auch über den eigenen Tellerrand hinweg zu entwickeln.

Was hilft Arbeitnehmerinnen und Arbeit­nehmern außerdem dabei, mit den widrigen Umständen gut umzugehen?

TASKAN-KARAMÜRSEL: In besonderen Belastungssituationen bleiben Menschen eher gesund, wenn sie ihre Arbeitssituation als sinnvoll, verstehbar und handhabbar begreifen. Man spricht dann von einem Kohärenzgefühl. Es ist daher empfehlenswert, dass Organisationen und Führungskräfte versuchen, Sachverhalte und daraus folgende Regelungen im betrieblichen Ablauf während der Pandemie für die Beschäftigten immer wieder zu erklären und einzuordnen. Wenn Beschäftigte dieses Kohärenzgefühl haben, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie am Ende weniger beansprucht sind und mit der Situation besser umgehen können.

Im Übrigen muss auch die Führungskraft selbst dieses Kohärenzgefühl für sich herstellen können. Ideal ist es, wenn sie in ein Führungsteam eingebunden ist, in dem man sich gut miteinander austauschen kann und gemeinsam besprochen wird, wie vorzugehen ist. Klappt das nicht, muss die Führungskraft wiederum mit ihren Vorgesetzten sprechen, sich im eigenen Umfeld Sparringspartner suchen oder ein Coaching machen. Es gibt mittlerweile sehr viele Onlineseminare und -trainings zum Thema Führen in der Krise und Krisenmanagement.

In besonderen Belastungssituationen bleiben Menschen eher gesund, wenn sie ihre Arbeitssituation als sinnvoll, verstehbar und handhabbar begreifen. Man spricht dann von einem Kohärenzgefühl.

Esin Taskan-Karamürsel

Das Herstellen von Kohärenz ist also für alle Ebenen von großer Bedeutung. Was aber können Beschäftigte tun, wenn sie merken, dass sich das Kohärenzgefühl nicht einstellt? Wo finden sie Hilfe?

TASKAN-KARAMÜRSEL: Viele, vor allem größere Unternehmen, bieten ein sogenanntes Employee Assistance Program (EAP) an. Das ist im Prinzip eine Telefonhotline, an die sich Beschäftigte wenden können, um über ihre Sorgen und Ängste zu sprechen. Möchte man sich damit nicht an seine Führungskraft wenden, ist ein solches EAP eine gute Alternative. Wenn die Beanspruchung so stark ist, dass man körperliche Beschwerden hat, beispielsweise nicht mehr schlafen kann, die Ängste überhandnehmen und man eine Obsession mit dem Thema entwickelt, dann sollte man die Seelsorge, Therapeutinnen und Therapeuten oder externe Kriseninterventionsteams konsultieren.

Eines Tages wird die Coronapandemie – auch dank des entwickelten Impfstoffs – der Vergangenheit angehören. Werden dann auch die mit der Ausnahmesituation einhergehenden Symptome psychischer Belastungen verschwunden sein?

TASKAN-KARAMÜRSEL: Nicht zwangsläufig. Auch nach überwundener Pandemie ist es möglich, dass Beschäftigte weiterhin diese Symptome zeigen, da es ihnen schwerfallen kann, sich aus der Krisensituation zu lösen. Die Sache ist die: In außergewöhnlichen Belastungssituationen "funktionieren" Menschen oft gut. Die Reaktion auf das Erlebte tritt manchmal erst später auf. Langfristig können Anpassungsstörungen, Angststörungen und posttraumatische Belastungsstörungen entstehen. Jetzt in der Pandemie sehe ich aber eher die Gefahr von Störungen, die sich einschleichen und lange Zeit bleiben, wie Schlafstörungen oder depressive Verstimmungen. Daher sollten Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sowie betriebliche Verantwortliche für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit während und nach der Pandemie aufmerksam bleiben und ein systematisches Vorgehen für den Umgang mit psychischen Belastungen bereithalten.

Das Interview führte Susan Haustein, DGUV.

Weitere Informationen

Sowohl die Handlungshilfe Fachbereich AKTUELL "Psychische Belastung und Beanspruchung von Beschäftigten im Gesundheitsdienst während der Coronavirus-Pandemie" als auch die branchenübergreifend anwendbare Fachbereich AKTUELL "Psychische Belastung und Beanspruchung von Beschäftigten während der Coronavirus-Pandemie" stehen in der Publikationsdatenbank der DGUV als PDF zum Download bereit. Beide Handlungshilfen enthalten eine Checkliste mit einer Sammlung möglicher psychischer Gefährdungen und Maßnahmen zur Gesunderhaltung.

Die Unfallkasse Nordrhein-Westfalen hat in einer Grafik aufbereitet, welche Einflussmöglichkeiten der einzelne Mensch auf die globale Pandemie hat. Darin wird veranschaulicht, was man selbst beeinflussen kann, was in der eigenen Macht steht und was außerhalb davon liegt.

Bei der Bewältigung der Krise hängt für die Beschäftigten viel vom Verhalten und vom Führungsstil der Vorgesetzten ab. Die Berufsgenossenschaft Rohstoffe und chemische Industrie (BG RCI)bietet ein Merkblatt zum Thema "Führen in der Krise" an.

 

Die im Interview angesprochenen Studien und Analysen sind online abrufbar:

Möhring, K.; Naumann, E. et al.: "The COVID-19 pandemic and subjective well-being: longitudinal evidence on satisfaction with work and family" (abgerufen am 1.2.2021)

Entringer, T.; Kröger, H.: "Einsam, aber resilient – Die Menschen haben den Lockdown besser verkraftet als vermutet" (abgerufen am 1.2.2021)

Gilan, D.; Röthke, N. et al.: "Psychische Belastungen, Resilienz, Risiko- und protektive Faktoren während der SARS-CoV-2-Pandemie"

Kohlrausch, B.; Zucco, Aline: "Die Corona-Krise trifft Frauen doppelt" (abgerufen am 1.2.2021)

COSMO Befragung: Zusammenfassung und Empfehlungen Welle 30 (abgerufen am 1.2.2021)