Arbeitsmedizinische Vorsorge in Zeiten von Corona

Wie hat sich das betriebsärztliche Beratungsangebot unter den Bedingungen der Pandemie verändert? Antworten von Dr. Anette Wahl-Wachendorf, Ärztliche Leiterin des Arbeitsmedizinischen Dienstes der Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (BG BAU) und Vizepräsidentin des Verbands Deutscher Betriebs- und Werksärzte (VDBW).

Frau Dr. Wahl-Wachendorf, warum ist die arbeitsmedizinische Vorsorge so wichtig?

Die arbeitsmedizinische Vorsorge hat das Ziel, arbeitsbedingte Erkrankungen frühzeitig zu erkennen und zu verhüten und die Beschäftigungsfähigkeit der Arbeitnehmer zu erhalten. Und sie leistet darüber hinaus einen Beitrag zur Fortentwicklung des betrieblichen Arbeitsschutzes. Sie dient der Beratung des Einzelnen, nicht dem Nachweis der gesundheitlichen Eignung. Wir sprechen hier von dem sogenannten Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen, dem ein hoher Stellenwert eingeräumt wird. Voraussetzung für eine informierte Entscheidung der Beschäftigten ist eine Information des Betriebsarztes über Inhalt, Zweck und Risiken einer jeden Untersuchung wie zum Beispiel einer Blutentnahme.

Wie sieht die arbeitsmedizinische Vorsorge in Zeiten der Pandemie aus?

Arbeitsmedizinische Vorsorge in Zeiten der Pandemie bedeutet kurzfristiges und angepasstes Handeln. Da es sich bei dem Coronavirus um ein hochinfektiöses Virus mit hoher Krankheitslast sowie schwerem und teilweise tödlichem Verlauf handelt, muss gerade in der Arbeitsmedizin als präventivem Fachgebiet eine Anpassung der Vorgehensweise bei Untersuchungen und Beratungen erfolgen. Vorsorge in Pandemiezeiten bedeutet Beratung von Beschäftigten zur konkreten Tätigkeit und den möglichen Gefährdungen am Arbeitsplatz. Dabei bezieht der Betriebsarzt oder die Betriebsärztin die individuelle Disposition und mögliche Vorerkrankungen mit ein und berät zu Präventionsmaßnahmen.

Dr. Anette Wahl-Wachendorf | © Guido Kollmeier
Dr. Anette Wahl-Wachendorf, Ärztliche Leiterin des Arbeitsmedizinischen Dienstes der Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (BG BAU) und Vizepräsidentin des Verbands Deutscher Betriebs- und Werksärzte (VDBW) ©Guido Kollmeier

Pragmatisch und einer Krisensituation gemäß ermöglichte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales für den Fall der Pandemie die Möglichkeit der telefonischen Vorsorge. Das war sehr hilfreich.

Welche Themen bewegen Beschäftigte und Führungskräfte in diesen Zeiten?

Breiten Raum in der Beratung nehmen Ängste und Unsicherheiten im Zusammenhang mit der Pandemie ein. Gerade in den ersten drei Wochen herrschte große Unkenntnis und Unsicherheit in den Unternehmen. Wiederholt haben wir beispielsweise Hygieneregeln erläutert und anschauliches Material zum Mundschutz und zur Hygiene zur Verfügung gestellt.

Was hat sich konkret in der arbeitsmedizinischen Beratungssituation verändert?

Es war schnell klar, dass persönliche Beratungen und Untersuchungen durch  Betriebsarzt und Assistenz nicht mehr wie bisher stattfinden konnten. Deshalb haben wir insbesondere auf Funktionsuntersuchungen, bei denen der Mindestabstand von 1,5 Metern nicht einzuhalten war, verzichtet. Pragmatisch und einer Krisensituation gemäß ermöglichte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) für den Fall der Pandemie die telefonischen Vorsorge. Das war sehr hilfreich.

Diese Form der Vorsorge kann mit einer verkürzten Nachuntersuchungsfrist angeboten und vom Betriebsarzt oder der Betriebsärztin durchgeführt werden. Unsere bisherigen Erfahrungen legen nahe, dass die Unternehmen davon unterschiedlich Gebrauch machen. Unabhängig von der sehr unterschiedlichen Akzeptanz – sowohl bei den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern als auch bei den Beschäftigten – ist es entscheidend, von ärztlicher Seite die telefonische Anamnese sehr genau zu erheben und sich Zeit für das ärztliche Gespräch zu nehmen.

Schließlich gibt es Beschäftigte, bei denen wir im Gespräch merken, dass Handlungsbedarf besteht. Das betrifft die Anwendung von korrekter persönlicher Schutzausrüstung, Änderungen beim Arbeitsschutz im Unternehmen oder empfohlene individuelle therapeutische Maßnahmen.

Welche Erkenntnisse leiten Sie von den bisher gemachten Erfahrungen ab?

Insgesamt können wir sicher aus den Erfahrungen mit der Vorsorge "aus der Ferne" lernen und für die Weiterentwicklung des Gesundheits- und Arbeitsschutzes innovatives Potenzial ableiten. Das gilt es für die nächsten Monate im Auge zu behalten.

Werden derzeit wieder arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen in den Praxen angeboten? Und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen finden sie statt?

Ja, aktuell werden wieder Vorsorgeuntersuchungen in den betriebsärztlichen Praxen angeboten. Hier gilt es zu beachten, dass Abläufe angepasst werden müssen. Beispielsweise müssen die zu untersuchenden Beschäftigten eine Mund-Nase-Bedeckung tragen. Auch gibt es eine Begrenzung der Kontaktzeit bei der Vorsorge. Räume müssen nach jeder Untersuchung gelüftet werden und es gibt eine erhöhte Reinigungsfrequenz in den Praxen. Der vom BMAS verabschiedete SARS-CoV-2- Arbeitsschutzstandard und die branchenspezifischen Umsetzungen der Unfallversicherungsträger zum Beispiel zur Gebäudereinigung, sind eine wichtige Unterstützung für die Betriebsärztinnen und Betriebsärzte. Sie sind für uns in Zeiten der Pandemie die Grundlage bei Beratungen zur Gefährdungsbeurteilung und zur Umsetzung der Arbeitsschutzmaßnahmen.

Telemedizin und Digitalisierung sind ganz klar Themen, die aufgrund der Pandemie kreativ und konstruktiv von uns vorangetrieben werden.

Corona ist eine Herausforderung für uns alle. Gibt es aus Ihrer Sicht auch neue Erkenntnisse für die zukünftige Arbeitsmedizin?

Telemedizin und Digitalisierung sind ganz klar Themen, die aufgrund der Pandemie kreativ und konstruktiv von uns vorangetrieben werden. Niederschwellige virtuelle Betreuungsangebote und eine betriebsärztliche Präsenz mittels Videokonferenz an einem abgelegenen Ort: Das sind Optionen, die insgesamt zu einem guten Arbeits- und Gesundheitsschutz beitragen können.

Vielen Dank für das Interview, Frau Dr. Wahl-Wachendorf.

Das Interview führte Sabine Herbst, Stabsbereich Prävention der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV).