„Wer rechtzeitig und richtig in soziale Sicherheit investiert hat, profitiert davon in der Krise“

Wie reagieren die Systeme der sozialen Sicherung weltweit auf die Pandemie? Professor Dr. Joachim Breuer, Präsident der Internationalen Vereinigung für Soziale Sicherheit (IVSS), über Finanzierungsprobleme und den Fortbestand eines intensiven Austauschs.

Sehr geehrter Herr Dr. Breuer, die Auswirkungen des SARS-CoV-2-Virus sind international spürbar. Welche Reaktionen haben Sie aus den Mitgliedsorganisationen der IVSS bekommen? Was sind aktuell die größten Herausforderungen für die Organisationen der sozialen Sicherung?

Mit dem SARS-CoV-2-Virus haben wir die erste weltweite Pandemie in diesem Jahrtausend, die sich auf alle Lebensbereiche der Bevölkerung in erheblichem Maße auswirkt. Damit waren natürlich weltweit auch die internationalen Sicherungssysteme in einer Art betroffen wie niemals zuvor in ihrer jüngeren Geschichte. Anders als bei vielen anderen Krisenmechanismen hat sich im Bereich der sozialen Sicherheit jedoch keine Rückbesinnung und Konzentrierung auf die nationale Ebene gezeigt. Es gibt im Gegenteil eine enorme Nachfrage nach Aktivitäten und Lösungsansätzen in anderen Ländern.

Ähnlich wie in der Wissenschaft gab es in der sozialen Sicherheit von Beginn an einen intensiven Informationsaustausch im internationalen Bereich. Die Mitglieder der IVSS haben sehr schnell und sehr intensiv die Wissenskapazitäten und die Informationen über getroffene Maßnahmen in anderen Ländern nachgefragt und teilweise mit gegenseitiger Hilfe umgesetzt. Die Herausforderungen für die sozialen Sicherungssysteme sind im Detail und der Schärfe unterschiedlich. In den Kernpunkten aber sind sie identisch: Sicherstellung der medizinischen Versorgung der Erkrankten, Unterstützungsleistungen insbesondere der Hilfsbedürftigen und wirtschaftlich am härtesten betroffenen Menschen, Sicherstellung der Finanzierung und nicht zu vergessen: Flexibilität und Effizienz der Verwaltung in Krisenzeiten!

In Deutschland werden alle Zweige der Sozialversicherung zusätzliche Kosten schultern müssen. Gleichzeitig gehen Beiträge zurück oder werden gestundet. Wie sieht es im internationalen Vergleich mit der Liquidität der sozialen Sicherung aus? Könnten Organisationen in eine bedrohliche Schieflage geraten?

Wahrscheinlich stand die soziale Sicherheit – jedenfalls weltweit gesehen – noch nie vor solch großen Herausforderungen in Bezug auf die Finanzierbarkeit. Das Auseinanderdriften der Schere zwischen Ausgaben und Einnahmen befindet sich dabei jedoch erst am Beginn der Entwicklung. Aktuell scheint international die Liquidität überwiegend gesichert, gleichzeitig bestehen jedoch sehr große Sorgen in Bezug auf die weitere Entwicklung.

Soweit finanzielle Reserven vorhanden sind, sind diese weitgehend abgeschmolzen respektive ein Ende ist kurzfristig absehbar. Es ist daher nicht auszuschließen, dass – wie es übrigens bei anderen Krisen wie der Finanzkrise vor zehn Jahren auch passiert ist – soziale Sicherungsinstitutionen an die Grenze ihrer Finanzierbarkeit geraten. In der Vergangenheit hat sich aber gezeigt, dass es ein hohes Bewusstsein der staatlich verantwortlichen Organe dafür gibt, dass die Finanzierbarkeit der sozialen Sicherungssysteme sichergestellt werden muss. Andernfalls könnten tief greifende Schäden in Gesellschaft und Wirtschaft über die eingetretene schwierige Situation hinaus entstehen. Aber wir müssen uns der Tatsache bewusst sein, dass die Finanzlage vieler sozialer Sicherungssysteme weltweit unter große Anspannung geraten wird. Die politischen Spar- und Verteilungsdiskussionen werden kommen.

Prof. Dr. Joachim Breuer ist Präsident der Internationalen Vereinigung für Soziale Sicherheit (IVSS) | © DGUV
Prof. Dr. Joachim Breuer ist Präsident der Internationalen Vereinigung für Soziale Sicherheit (IVSS) ©DGUV

Was bedeutet es für die Beschäftigten, jetzt auf Systeme der sozialen Sicherung zurückgreifen zu können? Wie beeinflusst diese Absicherung möglicherweise auch die Entwicklung der Pandemie?

Die IVSS hat immer darauf hingewiesen, dass soziale Sicherheit in enger Korrelation mit der Wirtschaft und der Gesundheit der Menschen steht. Das bewahrheitet sich auch jetzt während der Corona-Pandemie. Menschen, die wissen, dass sie sozial abgesichert sind, wenn sie zur Prävention der Pandemie in ihren wirtschaftlichen Tätigkeiten eingeschränkt sind, oder die nicht überlegen müssen, ob sie einen Test zur Klärung einer Infektion selbst finanzieren müssen, verhalten sich präventiver, sozialer und solidarischer. Dies hat zwangsläufig eine positive, weil eindämmende Auswirkung auf eine Pandemieentwicklung – allerdings auch nur neben weiteren Faktoren wie Infrastruktur, kulturellen Verhaltensweisen und wirtschaftlicher Stabilität in einem Land, um nur einige zu nennen.

Kann man schon einen Vergleich ziehen? Können Staaten, die über ein System der sozialen Sicherung verfügen, die Pandemie besser bewältigen als andere?

Für Vergleiche ist es – leider, da die Pandemie noch nicht vorbei ist – noch zu früh. Aber bereits jetzt kann man sehen, dass wie bei anderen Krisen auch Staaten mit einem stabilen sozialen System die Krisenphasen als solche und auch die danach angestrebte wirtschaftliche Erholung besser sicherstellen können als Staaten, deren System der sozialen Sicherung auf niedrigem Niveau erfolgt. Soziale Sicherheit ist eben ein Investment und keine karitative Gewährung von Unterstützung. Wer rechtzeitig und richtig in soziale Sicherheit investiert hat, der profitiert davon während der Krise und danach. Von daher kann die Krise auch eine Chance sein, diese internationale Erkenntnis noch weiter in die Welt hinauszutragen.

Ein wichtiges Prinzip der IVSS ist es, voneinander zu lernen und Wissen zu teilen. Funktioniert das auch aktuell bei den Strategien zur Bewältigung der Corona-Krise?

Auch die interne Organisation der IVSS musste mit dem Auftreten der Pandemie ihre internen Strukturen anpassen und umstellen, da es wie gesagt eher mehr als weniger Nachfragen zur Kooperation und zum Informationsaustausch gab. Sehr schnell wurden den Mitgliedern digitale Möglichkeiten zur speziellen Kontaktaufnahme untereinander angeboten, zum Beispiel über Webinars und Videokonferenzen. Die Angebote stießen auf sehr hohe Nachfrage. Wir können sagen, dass dies bislang gut funktioniert hat. Das liegt auch daran, dass die beteiligten Personen vielfach bereits vorher über die Veranstaltungen und Plattformen der IVSS die Möglichkeit hatten, sich kennen und schätzen zu lernen. Ob die reine digitale Plattform zum Wissensaustausch und zur Strategieerörterung für die Zukunft ausreicht – da bin ich allerdings skeptisch. Um es anders zu formulieren: Videokonferenzen sind ideal zum Wissensaustausch zwischen Menschen, die sich schätzen und vertrauen, aber ungeeignet, um Vertrauen und Anerkennung aufzubauen.

Bislang konnte man in der Corona-Krise häufig politische Rivalitäten oder gar Schuldzuweisungen unter verschiedenen Staaten beobachten. Was können die Organisationen der sozialen Sicherung dazu beitragen, künftig ein gemeinsames Handeln in Krisen zu befördern?

Diese Art der Rückbesinnung auf nationale oder gar regionale Betrachtungsweisen habe ich im Rahmen der IVSS bei den Themen der sozialen Sicherheit bislang kaum erlebt. Das menschliche wie organisatorisch geknüpfte internationale Netz war hier stabil. Dies lag daran, dass es vorher ein gemeinsames Verständnis dafür gab, dass die Erfahrung anderer für den eigenen Bereich nur hilfreich sein kann und dass es Entwicklungen gibt, die man nur gemeinsam lösen kann. Denken Sie nur an die von der IVSS entwickelten „10 globalen Herausforderungen für die soziale Sicherheit“ – von der Demografie über Migration bis hin zum Klima, alles das beeinflusst soziale Sicherheit und ist allein national nicht lösbar. Ich hoffe, dass es nicht eines Virus bedurfte, um diese allgemein bekannte Erfahrung im Bereich der sozialen Sicherheit noch weiter zu verbreiten.

Sie kommen aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Wie würden Sie die Rolle der Unfallversicherung in der aktuellen Krise beschreiben? Stichwort: Arbeitsschutz ist auch Gesundheitsschutz.

Die Pandemie hat noch einmal die sehr enge Verknüpfung zwischen sozialer Sicherheit und der Wirtschaft, sprich dem einzelnen Arbeitsplatz aufgezeigt. Hier stand und steht eine soziale Unfallversicherung in vorderster Linie. Es sollte Allgemeingut sein, dass nur gesunde und sichere Arbeitsplätze auch produktive Arbeitsplätze sind. Bei der jetzigen Entwicklung kommt sicher eine Bewusstseinsstärkung hinzu, dass Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz auch in Bezug auf den Infektionsschutz, der in anderen Zeiten nur eine kleinere Teilbedeutung bei den meisten Arbeitsplätzen hat, von zentraler Bedeutung ist. Soweit ich das überblicke, haben die Systeme der Unfallversicherung gerade in diesen kritischen Zeiten gezeigt, wie wichtig sie sind. Und wenn ich mir diesen letzten Hinweis speziell auf Deutschland erlauben darf: Die DGUV mit ihren Berufsgenossenschaften und Unfallkassen haben hier mit ihren schnellen und hilfreichen Informationen einfach einen guten Job gemacht!

Das Interview führte Elke Biesel, DGUV