Verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zu Corona-Maßnahmen

Die Corona-Pandemie hat auf Bundes- und Länderebene zu neuen Gesetzen und Rechtsverordnungen sowie darauf gestützter konkreter Einzelmaßnahmen geführt, mit denen nicht jeder einverstanden war. Die Gerichte wurden angerufen, um über die Rechtmäßigkeit der Gesetze, Rechtsverordnungen und Einzelmaßnahmen zu entscheiden. Ein Überblick.

I. Einleitung

In der Anfangszeit der Pandemie wurden viele der verordneten Einschränkungen von einigen als deutlich zu weitgehend[1] eingeschätzt. Auch die nach gewissen Erfolgen der Pandemiebekämpfung mittlerweile zugelassenen Lockerungen der Restriktionen erachteten einige sogenannte Risikoträger[2] wiederum als zu weitgehend. Die verbleibenden Restriktionen sind weiterhin Gegenstand immer neuer widerstreitender Rechtsansichten.[3] Es verwundert daher nicht im Geringsten, dass die Gerichte angerufen wurden, um über die Rechtmäßigkeit der Gesetze, Rechtsverordnungen und Ein-zelmaßnahmen zu entscheiden.

Bis sich Verfassungsgerichte und Verwaltungsgerichte in sogenannten Hauptsacheverfahren zu oft hochkomplexen Rechtsfragen äußern, vergehen regelmäßig mehrere Jahre. Da eine Vielzahl der ergriffenen Maßnahmen, Gesetze und Verordnungen bis dahin überholt wären und sich erledigt hätten, bedarf es eines einstweiligen Rechtsschutzes. Zugleich ist die Nachrangigkeit des Beschreitens des Weges zu den Verfassungsgerichten des Bundes[4] sowie der Bundesländer[5] gegenüber dem Weg zu den Verwaltungsgerichten[6] zu beachten. Der Weg zu den Verfassungsgerichten ist subsidiär gegenüber dem Weg zu den Verwaltungsgerichten. Gleichwohl gibt es, wie nachfolgend dargestellt werden wird, bereits eine Vielzahl von interessanter verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung zu Corona-Maßnahmen. 

II. Verfassungsgerichtliche Rechtsprechung

1. Unterschiede in den Bundesländern

Auf der Ebene der jeweiligen Bundesländer sind dabei bemerkenswerte Unterschiede festzustellen. Drei Strömungen existieren:

  • Es gibt einige Bundesländer, in denen keinerlei Entscheidungen des Verfassungsgerichts zur Corona-Thematik veröffentlicht sind.[7] Über die Ursachen kann derzeit nur gemutmaßt werden. Möglicherweise gab es keine oder eine zu geringe Anzahl von Klägern beziehungsweise Antragstellern, die solche Verfahren angestrengt haben. Oder den Grundrechtsträgern in den jeweils betroffenen Bundesländern sind die landesverfassungsrechtlich gesicherten Grundrechte zu wenig bewusst. Oder die Corona-Beschränkungen waren nicht so restriktiv wie anderswo und haben sich auf den Alltag und die Lebensqualität der Einwohner nicht so gravierend ausgewirkt. Oder die Justizverwaltung von "armen" Bundesländern ist derart eingeschränkt, dass mit zügigen Entscheidungen bekanntermaßen nicht zu rechnen war und deshalb niemand „sein Recht suchte“. Vielleicht ist es auch eine Mischung aus all diesen Mutmaßungen.
     
  • In anderen Bundesländern haben sich Verfassungsgerichte unter Rückzug auf die Subsidiarität gegenüber der Verwaltungsgerichtsbarkeit mit konkreten inhaltlichen Entscheidungen zurückgehalten.[8] Es gibt zurecht Zulässigkeitsvoraussetzungen in Gerichtsverfahren, die es zu beachten gilt. Werden diese aber sehr streng ausgelegt, gibt es keine inhaltlichen Entscheidungen zur Begründetheit oder Unbegründetheit von Corona-Maßnahmen. Dies führt nicht nur beim Kläger/Antragsteller zu Frustration, sondern zu einer Vielzahl von gleichgerichteten Verfahren oder Folgeverfahren und zu zeitlicher Verzögerung, zu Sachfragen eine Rechtsklarheit zu erlangen, womit regelmäßig auch Rechtsfrieden eintritt.   
     
  • In wiederum anderen Bundesländern haben Verfassungsgerichte einen Weg gesucht und gefunden, der trotz der Subsidiarität gegenüber verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen nicht "Steine statt Brot verteilt", sondern sich inhaltlich klar positioniert.[9] Dies erscheint der vorzugswürdige Weg und es ist zu begrüßen, dass nicht nur das Bundesverfassungsgericht ihn beschritten hat, sondern auch einige Verfassungsgerichte der Bundesländer.

Die Corona-Pandemie hat zu einer Vielzahl neuer Gesetze und Rechtsverordnungen sowie darauf gestützter konkreter Einzelmaßnahmen geführt, mit denen nicht jeder einverstanden war.

2. Inhaltliche Entscheidungen der Landesverfassungsgerichte und des Bundesverfassungsgerichts zu Corona-Maßnahmen

2.1 Grundsätzliches zu der zu treffenden Folgeabwägung

Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist für die Zeit bis zur endgültigen Entscheidung im Hauptsacheverfahren eine Zwischenlösung zu finden. Dabei stehen die Gerichte vor dem Dilemma, dass sie einerseits die Hauptsache-Entscheidung nicht vorwegnehmen, andererseits den Antragsteller nicht bloß zeitlich vertrösten dürfen, doch bitte die Hauptsache-Entscheidung abzuwarten.

Wenn Verfassungsbeschwerden eindeutig unzulässig oder unbegründet sind, ergeht eine Endentscheidung. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens ist eine Folgeabwägung durchzuführen. Die Folgen, die eintreten würden, wenn keine einstweilige Anordnung erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, sind zu vergleichen mit den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, die Verfassungsbeschwerde später aber erfolglos bliebe. Je nachdem, was schwerer wiegt, ergeht die einstweilige Anordnung oder der Erlass dieser wird abgelehnt. Wegen der meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren auslöst, ist bei der Prüfung der Voraussetzungen für einen Erlass einer solchen einstweiligen Anordnung ein strenger Maßstab anzulegen.[10] Mit anderen Worten: Die Ablehnung des Erlasses einer einstweiligen Anordnung ist die Regel, der Erlass nach Prüfung der Voraussetzungen mittels der dargestellten Folgeabwägung die absolute Ausnahme. Die für eine vorläufige Regelung sprechenden Gründe müssen so schwerwiegend sein, dass sie den Erlass einer einstweiligen Anordnung unabweisbar machen. Bei der Folgeabwägung sind die Auswirkungen auf alle von den angegriffenen Regelungen Betroffenen zu berücksichtigen, nicht nur die Folgen für den Antragsteller.

2.2  Wann haben Verfassungsgerichte mit welcher Begründung eine für die Antragsteller positive Folgeabwägung getroffen?

Nachfolgend sollen einige ausgewählte Entscheidungen vorgestellt und bewertet werden, in denen Verfassungsgerichte zu einer für die Antragsteller positiven Folgeabwägung gelangt sind – mithin eine einstweilige Anordnung erlassen wurde.

Verfassungsgerichtshof des Saarlandes, Beschluss vom 28. April 2020[11]

Der Antragsteller hatte keinen Eilrechtsschutz vor dem Oberverwaltungsgericht des Saarlandes[12] gegen die Rechtsverordnung der Landesregierung des Saarlandes vom 17.04.2020, mit der ein besonders strenges Verbot des Verlassens der Wohnung angeordnet wurde, gesucht. Gleichwohl hat das Landesverfassungsgericht, das wegen einer behaupteten Verletzung des Grundrechts auf Freiheit der Person angerufen wurde, den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung als zulässig erachtet. Es begründet dies wie folgt:"Die Rechtfertigung des Verweises auf die vorherige Inanspruchnahme fachgerichtlichen Rechtschutzes und das Beschreiten anderer Wege, der grundrechtlichen Beschwer abzuhelfen, liegt darin, … eine fachgerichtliche Klärung der tatsächlichen Grundlagen und der einfachrechtlichen Auslegung im Streit stehender Normen vorzuschalten. Davon kann – nur und ausschließlich – in der gegenwärtigen Situation nicht ausgegangen werden. In einem verwaltungsgerichtlichen Normenkontrollverfahren und seiner eilrechtsschutzrechtlichen Begleitung mit Verordnungen, deren zeitliche Befristung einen Wochentakt hat, kann die Verwaltungsgerichtsbarkeit verständlicherweise angesichts der völligen, auch unter virologischen Sachverständigen offenbar vorhandenen Unklarheit, wie das Virus konkret wirkt und welche Maßnahmen auf welche konkrete Weise wirklich geeignet ist, seine Ausbreitung zu vermindern oder ihr entgegenzutreten, keine weitergehenden Erkenntnisse verschaffen. Sie tut es – wie ihre Eilrechtsentscheidungen … gezeigt haben, auch nicht."

Da in dem zu entscheidenden Fall keine Einschränkungen der Berufsfreiheit vorlagen – diesbezüglich sieht dieser Verfassungsgerichtshof regelmäßig Aufklärungsbedarf durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit – sondern eine um aufklärungsbedürftige Tatsachen bereinigte Grundrechtsabwägung, zog das Verfassungsgericht die Entscheidung an sich.

Im Rahmen einer umfassend begründeten Folgeabwägung, die sich auch mit Entscheidungen aus anderen Bundesländern auseinandersetzte, setzte der Saarländische Verfassungsgerichtshof am 28.04.2020 den § 2 Abs. 3 der genannten Rechtsverordnung teilweise außer Vollzug und ordnete eine weniger strenge Regelung an.

Die Einzelheiten dazu können hier nicht dezidiert behandelt werden. Viel entscheidender ist die Begründung, warum sich das Landesverfassungsgericht genötigt sah, einen voraussichtlichen Grundrechtsverstoß anzunehmen: § 2 Abs. 3 der VO war inkonsistent. Eingriffe in grundrechtliche Freiheiten, die sich auf überwiegende Gründe des Gemeinwohls berufen, bedürfen aber für ihre jeweilige Dauer einer kohärenten und konsistenten Regelung. Dies war hier nicht der Fall. Denn wenn die Verordnung einerseits das Aufsuchen gewisser geöffneter Ladengeschäfte erlaubt, darf das Verlassen der Wohnung ohne das Ziel des Aufsuchens dieser Geschäfte nicht verboten werden. Es war nicht zu erklären, warum ein beliebiges freies Verlassen der Wohnung ohne Ziel oder mit dem Ziel, Verwandte zu besuchen, verboten wird – ein sanktionsbewehrtes Berauben der Freiheit –, während das Wohnungsverlassen mit dem Ziel, ein Ladengeschäft zu besuchen, das nicht zur Deckung des Lebensbedarfs dient, sondern anderen Interessen, erlaubt wird.

Einen "triftigen Grund" glaubhaft machen zu müssen, war unzumutbar. Jeder, der die Wohnung verließ, sah sich einem Generalverdacht ausgesetzt – und damit in einer Rechtfertigungslage gegenüber dem Staat, obwohl das Grundgesetz und die Landesverfassungen gerade von der umgekehrten Situation ausgehen. Nicht der Grundrechtsträger muss die jederzeitige Wahrnehmung seiner Grundrechte rechtfertigen, sondern der Staat muss seine Eingriffe in die Grundrechte rechtfertigen. Deshalb sollte der Weg für eine Regelung sein: Die aus Gründen des Infektionsschutzes notwendigen Verbote und Beschränkungen werden positiv normiert und im Übrigen wird die verfassungsmäßig geschützte Bewegungsfreiheit unangetastet gelassen.

Verfassungsgerichtshof Sachsen vom 30. April 2020[13]

Mit dieser Entscheidung wurden gewisse Regelungen des § 7 der Sächsischen Corona-Schutz-Verordnung für unvereinbar mit Art. 18 Abs. 1 der Sächsischen Verfassung erklärt. Dies wurde mit einem Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz erklärt.[14] Das Verbot, die eigene Verkaufsfläche auf 800 qm zu begrenzen und deswegen einen solchen Laden öffnen zu dürfen, wurde wegen offensichtlichem Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz für verfassungswidrig erklärt:

"... droht durch die angegriffenen Maßnahmen, soweit sie auf die von ihr betriebenen Ladengeschäfte Anwendung finden – namentlich § 7 Abs. 2 Satz 1, 2 Nr. 3 Satz 1, 2 SächsCoronaSchVO –, eine weitgehende Verkürzung jedenfalls ihrer grundrechtlich geschützten Berufsausübungsfreiheit gemäß Art. 28 Abs. 1 SächsVerf, weil sie trotz fortlaufender Kosten durch die angeordnete vollständige Schließung dieser Ladengeschäfte nicht wie bisher geschäftsmäßig tätig sein noch ihren Betrieb aufrechterhalten können. Es kommt zu einem schwerwiegenden und teils irreversiblen Eingriff in die geschützte Berufsfreiheit mit erheblich nachteiligen wirtschaftlichen Folgen, die bis hin zu einer existenzbedrohenden Situation reichen können. Diese Gefahr ist ungeachtet möglicher anderweitiger Vertriebswege oder einer etwaigen Milderung der Folgen durch Hilfsprogramme staatlicher Stellen und sonstige Unterstützungsmaßnahmen jedenfalls nachvollziehbar.

Die angegriffenen Bestimmungen verstoßen voraussichtlich in Bezug auf das Teil-Absperrverbot (§ 7 Abs. 1 Satz 3 und § 7 Abs. 2 Nr. 3 Satz 2 SächsCoronaSchVO) gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 18 Abs. 1 SächsVerf, weil sie im Wesentlichen gleiche Sachverhalte ungleich behandeln, obwohl nach derzeitigem Erkenntnisstand hierfür keine sachliche Rechtfertigung besteht, die dem Ziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Art. 18 Abs. 1 SächsVerf gebietet, Gleiches gleich und Ungleiches seiner Eigenart entsprechend verschieden zu regeln. Dabei ist es wiederum grundsätzlich Sache des Normgebers zu entscheiden, welche Merkmale er beim Vergleich von Lebenssachverhalten als maßgebend ansieht, um sie im Recht gleich oder verschieden zu behandeln … Hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Anforderungen an den die Ungleichbehandlung tragenden Sachgrund ergeben sich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die von gelockerten auf das Willkürverbot beschränkten Bindungen bis hin zu strengen Verhältnismäßigkeitserfordernissen reichen können. Eine strengere Bindung des Gesetzgebers kann sich aus den jeweils betroffenen Freiheitsrechten ergeben (BVerfG, Beschluss vom 18. Juli 2019 – 1 BvL 1/18 – juris Rn. 94). Bei der Prüfung ist zu berücksichtigen, dass die Beschränkung der zulässigen Verkaufsfläche auf 800 Quadratmeter und das damit verbundene Verbot der Teilabsperrung nicht nur unerheblich in die Berufsausübungsfreiheit der Antragstellerinnen eingreifen. Unter Gleichheitsgesichtspunkten offenkundig nicht zu rechtfertigen ist indes das Verbot, die Ladenfläche durch Absperrung oder ähnliche Maßnahmen auf unter 800 Quadratmeter zu reduzieren, und zwar selbst dann, wenn dem Verordnungsgeber weiterhin und ungeachtet der im Zeitverlauf wachsenden Anforderungen an die Rechtfertigung der zur Pandemiebewältigung zu treffenden Maßnahmen ein weiter Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum zugebilligt wird. Der Verordnungsgeber geht davon aus, dass eine „Sogwirkung“ großflächiger Einzelhandelsbetriebe auch bei einer entsprechenden Reduktion der Verkaufsfläche noch in relevantem Maße fortbesteht. Dem Verordnungsgeber ist zwar grundsätzlich eine Einschätzungsprärogative zuzubilligen. Nach derzeitigem Stand der Erkenntnis und der Strategien zur Bekämpfung der epidemiologischen Gefahrenlage ergeben sich aber keine hinreichend tragfähigen Anhaltspunkte dafür, dass diese Einschätzung zutrifft und für diesen Fall die Infektionsgefahr nicht durch die nach § 7 Abs. 3 SächsCoronaSchVO zu treffenden Sicherheitsmaßnahmen hinreichend begrenzt werden kann."

Staatliche Eingriffe in die Berufsausübungsfreiheit müssen stets dem Gleichbehandlungsgrundsatz entsprechen. Ist dies nicht der Fall, wie hier in Sachsen, kann dies zurecht erfolgreich beanstandet werden.

Die Corona-Schutz-Verordnungen der einzelnen Bundesländer unterliegen trotz ihrer zum Teil auf wenige Wochen begrenzten Gültigkeitsdauer einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle.

Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin vom 20. Mai 2020[15]

Mit dieser Entscheidung hat der Berliner Verfassungsgerichtshof den dortigen § 24 der Verordnung in seiner Wirksamkeit für eine gewisse Zeit ausgesetzt und dies wie folgt begründet:

"§ 24 … bezieht sich auf § 1 Satz 1 und 2 der Verordnung und damit auf die unbestimmten Rechtsbegriffe ‚physisch soziale Kontakte‘, ‚absolut nötiges Minimum‘ und ‚soweit die Umstände dies zulassen‘. Die Vorschrift versetzt die Bürgerinnen und Bürger nicht in ausreichender Weise in die Lage, zu erkennen, welche Handlung oder Unterlassung bußgeldbewehrt ist. Diese mangelnde Erkenntnismöglichkeit kann gerade rechtstreue Bürgerinnen und Bürger veranlassen, sich in ihren Grundrechten noch weiter zu beschränken, als es erforderlich wäre, um keine Ordnungswidrigkeit zu begehen. Eine Bußgeldandrohung von bis zu 25.000 Euro entfaltet zusätzliche abschreckende Wirkung. Zwar muss in die Abwägung auch die Möglichkeit einbezogen werden, dass sich einige Bürgerinnen und Bürger ohne Verfolgungsdruck nicht mehr an das dem Gesundheitsschutz der Bevölkerung dienende Kontaktverbot und Abstandsgebot in § 1 der Verordnung halten und als Folge dessen die Infektionsrate wieder ansteigen könnte; doch kann der Senat, dem die Zweifel des Verfassungsgerichtshofes … an der hinreichenden Bestimmtheit bereits aus früheren Entscheidungen bekannt sind, dieser Gefahr hier sehr kurzfristig begegnen, indem er eine Bußgeldvorschrift erlässt, welche diese Zweifel beseitigt und den Bürgerinnen und Bürgern die notwendige Orientierung über die Sanktionierung von Verstößen bietet."

Mit anderen Worten: Grundrechtseingriffe müssen so hinreichend klar beschrieben werden und inhaltlich bestimmt sein, dass jeder sofort wissen kann, mit welchem Verhalten er gegen Normen verstößt und mit welchem Verhalten er sich innerhalb der Normen bewegt. Es darf insoweit keinen Graubereich geben, weil solche Schattierungen Grundrechtsträger davon abhalten könnten, Grundrechte wahrzunehmen, obwohl sie sie wahrnehmen dürften.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 29. April 2020[16]

Mit diesem Beschluss hat das Bundesverfassungsgericht ein ausnahmsloses Verbot von Zusammenkünften in Kirchen, Moscheen und Synagogen sowie das Verbot von Zusammenkünften anderer Glaubensgemeinschaften zur gemeinsamen Religionsausübung insoweit vorläufig außer Vollzug gesetzt, als danach ausgeschlossen ist, auf Antrag im Einzelfall Ausnahmen von dem Verbot zuzulassen. Dies wird wie folgt begründet:

"Jedoch ist mit Blick auf den schwerwiegenden Eingriff in die Glaubensfreiheit, den das Verbot von Gottesdiensten in Moscheen nach dem Vorbringen des Antragstellers jedenfalls insoweit bedeutet, als auch Freitagsgebete während des Fastenmonats Ramadan erfasst sind, jedenfalls bei der derzeitigen Gefahrensituation und der sich hieran anschließenden aktuellen Strategie zur Bekämpfung der epidemiologischen Gefahren kaum vertretbar, dass die Verordnung keine Möglichkeit für eine ausnahmsweise Zulassung solcher Gottesdienste in Einzelfällen eröffnet, in denen bei umfassender Würdigung der konkreten Umstände – eventuell unter Hinzuziehung der zuständigen Gesundheitsbehörde – eine relevante Erhöhung der Infektionsgefahr zuverlässig verneint werden kann. Es ist nicht erkennbar, dass eine solche einzelfallbezogene positive Einschätzung in keinem Fall erfolgen kann.

Das Vorbringen des Antragstellers lässt erkennen, welche Möglichkeiten insoweit in Betracht kommen. Eine von der jeweiligen Lehre abhängige Gestaltung des Freitagsgebets und denkbare Maßnahmen zur Vermeidung von Menschenansammlungen vor der Moschee wurden bereits genannt. Der Antragsteller weist in diesem Zusammenhang ferner darauf hin, er habe nach Rücksprache mit den zuständigen theologischen Instanzen die Genehmigung erhalten, in der von ihm genutzten Moschee an Freitagen mehrere Freitagsgebete durchzuführen und damit die einzelnen Veranstaltungen sehr klein zu halten. Als weitere Maßnahmen werden genannt eine Pflicht der Gläubigen zum Tragen von Mund-Nasen-Bedeckung, die Markierung derjenigen Stellen in der Moschee, welche die Gläubigen zum Gebet einnehmen können, und eine Vergrößerung des Sicherheitsabstandes gegenüber den für Verkaufsstätten geltenden Vorgaben um das Vierfache, um eine gegenüber der Einkaufssituation erhöhte Infektionsgefahr durch das längere Beisammensein einer größeren Personengruppe zu vermeiden."[17]

Selbst wenn also die Regelungen in einer Verordnung in Form von vollständigen Verboten bei einer Folgeabwägung grundsätzlich einer rechtlichen Prüfung standhalten,[18] müssen sie bei erheblichen Grundrechtseingriffen die Möglichkeit vorsehen, auf Antrag im Einzelfall Ausnahmen von einem absoluten Verbot zuzulassen.

Wer meinte, Schutzmaßnahmen und Grundrechtseingriffe bedurften einer geringeren Legitimität, bloß weil sie mit der Corona-Pandemie begründet wurden, ist eines Besseren belehrt worden.

III. Fazit

Die Corona-Schutz-Verordnungen der einzelnen Bundesländer unterliegen trotz ihrer zum Teil nur auf wenige Wochen begrenzten Gültigkeitsdauer einer umfassenden verfassungsgerichtlichen Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht und die Landesverfassungsgerichte. Während in der Pandemie-Anfangsphase den Gesetz- und Verordnungsgebern durchaus ein großer Spielraum eingeräumt wurde, bewirkt die Tatsache, dass die Pandemie uns noch eine längere Zeit begleiten wird und damit Gesetze und Verordnungen zu deren Eindämmung kein vorübergehendes Phänomen darstellen, dass seit Jahrzehnten bestehende Grundrechte und die Prüfung von staatlichen Eingriffen in diese einer immer strengeren Überwachung durch die Gerichte unterliegt. Wer meinte, Schutzmaßnahmen und Grundrechtseingriffe bedurften einer geringeren Legitimität, bloß weil sie mit der Corona-Pandemie begründet wurden, ist durch die ausgewählten verfassungsgerichtlichen Entscheidungen eines Besseren belehrt worden.