„Gesundheitsgefahren im Betrieb sind ein Arbeitsschutzthema“
Die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung haben die Aufgabe, den SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandard des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) für die verschiedenen Branchen zu spezifizieren. Wie machen sie das? Zwei Beispiele und ein Gespräch mit Jutta Lamers, Leiterin Prävention bei der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW), und Martin Hartenbach, Bereichsleiter Prävention bei der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau (SVLFG).
Frau Lamers, wie hat die BGW generell auf die Corona-Pandemie reagiert?
LAMERS: Bei der BGW sind viele Berufsgruppen versichert, die von der ersten Minute an sehr gefordert und dem Infektionsrisiko ausgesetzt waren, weil sie Patienten medizinisch versorgen, pflegen und behandeln. Schnell wurde klar, dass unsere Versicherten einen hohen Beratungsbedarf hatten. Die Besorgnis der Versicherten wuchs noch, als der Mangel an persönlicher Schutzausrüstung oder Desinfektionsmitteln das Infektionsrisiko erhöhte.
Daher haben wir unsere Beratungsleistungen stark ausgebaut, um unsere Versicherten zu unterstützen. Unsere Corona-Infoseite www.bgw-online.de/corona hat sich sehr schnell zu einer wichtigen Informationsplattform entwickelt. Auf diesem Weg können wir die Betriebe und Versicherten zeitnah informieren und so auf die dynamische Entwicklung der Corona-Krise schnell reagieren. Zur Beantwortung konkreter Fragen haben wir außerdem eine Corona-Hotline eingerichtet.
Wichtig war es uns darüber hinaus, hinsichtlich der psychischen Belastungen in der Krisensituation konkrete, schnelle Unterstützung für Versicherte anzubieten. Innerhalb kurzer Zeit haben wir für unterschiedliche Zielgruppen passende Angebote entwickelt, zum Beispiel die telefonische Krisenberatung für BGW-Versicherte oder das Krisen-Coaching per Video oder Telefon für Führungskräfte.
Herr Hartenbach, wie ist die SVLFG der Pandemie begegnet?
HARTENBACH: Da möchte ich zwei Ebenen unterscheiden: die Maßnahmen nach innen und nach außen. Kurz nach der TV-Ansprache der Kanzlerin haben wir am 23. März unseren Außendienst eingestellt und unser Personal im Innendienst – rund 2.000 Personen – ins Homeoffice geschickt. Das war eine große Herausforderung für unsere IT-Abteilung. Bis Ende Juni werden die Kolleginnen und Kollegen weiter von zu Hause aus arbeiten.
Von außen sind ab Mitte März Anfragen der Betriebe vor allem zum Thema Saisonarbeit bei uns eingegangen, auf die wir reagiert haben. Landwirtschaftsministerin Klöckner hat das Thema Saisonarbeiter ja schon früh angesprochen und es wurde beschlossen, dass Saisonarbeiterinnen und -arbeiter weiterhin einreisen dürfen.
Frau Lamers, wir wollen in diesem Interview das Augenmerk auf das ebenfalls bei der BGW versicherte Friseurhandwerk richten. Welche Anfragen kamen aus den Betrieben?
LAMERS: Die Anfragen waren sehr vielfältig. Drei Hauptthemen standen im Mittelpunkt: der Versicherungsschutz, der Infektionsschutz bei der Arbeit und die Verantwortung der Unternehmerinnen und Unternehmer für ihre Beschäftigten, Kundinnen und Kunden. Konkrete Fragen lauteten zum Beispiel: Gilt der Versicherungsschutz, wenn Schutzausrüstung fehlt? Wie kommt es zu einer Infektion und was muss ich tun, um mich zu schützen? Welche Schutzausrüstungen muss der Unternehmer seinen Beschäftigten zur Verfügung stellen?
Für besonders häufige Fragen aus den Friseurbetrieben haben wir inzwischen online eine FAQ-Liste mit Antworten veröffentlicht.
Ziel war es, schnell eine branchenspezifische Handlungshilfe insbesondere für kleine und mittelständische Unternehmen bereitzustellen.
Herr Hartenbach, welche Fragen kamen aus Ihrem Bereich?
HARTENBACH: Wir haben ein elektronisches Dokumentationssystem für unsere Beratungen und Besichtigungen. Darüber haben wir auch alle betrieblichen Anfragen zu Corona erfasst, zwischen Mitte März und Anfang Mai waren es rund 700. Dabei identifizierten wir drei Branchen, die offenbar einen sehr hohen Informationsbedarf hatten: der Garten- und Landschaftsbau, die Forstwirtschaft und der Gemüsebau. Es ging vor allem darum, wie der Mindestabstand bei der Zusammenarbeit gewahrt oder wie ein möglichst sicherer Transport der Beschäftigten zum Arbeitsort gewährleistet werden kann.
Diese Auswertung der Anfragen hat uns dazu bewogen, für die drei Branchen Musterbetriebsanweisungen und Checklisten als Ergänzung zur Gefährdungsbeurteilung zu entwickeln.
Frau Lamers, gab die Publikation des Arbeitsschutzstandards durch das BMAS den Ausschlag für die Erstellung branchenbezogener Standards oder haben Sie bereits vorher die Notwendigkeit gesehen, einzelnen Branchen spezielle Hinweise zum Infektionsschutz zu geben?
LAMERS: Von Beginn der Corona-Pandemie an wurden aufgrund der vielfachen Anfragen der Unternehmen und Erkenntnisse aus den Beratungen durch die Präventionsdienste branchenspezifische Informationen online auf der Corona-Infoseite der BGW präsentiert. Ziel war es, schnell branchenspezifische Handlungshilfen insbesondere für kleine und mittelständische Unternehmen bereitzustellen.
Zuerst erstellten wir Branchenseiten für therapeutische Praxen, Apotheken, für Hebammen und Kindertagesstätten, letztere auch in Abstimmung mit der Kommunalen Unfallversicherung Bayern. Danach wurden Zug um Zug für alle Branchen der BGW Hilfen und Informationsangebote veröffentlicht. All diese Arbeiten sind ebenfalls in die Branchenstandards eingeflossen.
Mit der Schließung von Dienstleistungsunternehmen, wie den Friseurbetrieben, begannen bei der BGW die Vorbereitungen für die Wiedereröffnung einzelner Branchen. Hier ging es zunächst um das Friseurhandwerk, also um die Beantwortung der Frage, mit welchen Schutzmaßnahmen für die Beschäftigten eine Wiederaufnahme der Friseurtätigkeit möglich werden kann.
Wie sind Sie an die Konzeption einer Handlungshilfe herangegangen? Gab es Kontakt zur Politik oder Organisationen?
HARTENBACH: Wir haben uns mit verschiedenen Institutionen abgestimmt. Eine Grundlage war das "Konzeptpapier Saisonarbeiter", welches das Landwirtschaftsministerium zusammen mit dem Innenministerium verfasst hat. Es definiert Standards für die Einreise von Saisonarbeitern und Unterkunftsregelungen. Parallel haben wir auch das Gespräch mit verschiedenen Länderministerien gesucht. Diese Abstimmung war nicht ganz einfach, denn einzelne Länder weichen in ihren Regelungen vom Standard der Bundesministerien ab. Hinzu kamen dann selbstverständlich die Sozialpartner, das sind die betroffenen Berufsverbände und Gewerkschaften. In diesem Netzwerk haben wir unsere Handlungshilfen abgestimmt.
LAMERS: Auch für uns war die Einbindung anderer Organisationen sehr wichtig, um aktuelles und erweitertes Fachwissen und praxisbezogene Hinweise ausreichend zu berücksichtigen. Bei der Erstellung der Informationsmaterialien und Beratungsangebote für die Unternehmen haben wir das Wissen beziehungsweise die Unterstützung verschiedener Institutionen und Partner einbezogen: Unfallversicherungsträger, Unternehmensverbände, Sozialpartner, staatliche Stellen und wissenschaftliche Institute.
Die inhaltlichen Grundlagen für unsere Empfehlungen waren das Expertenwissen der Präventionsdienste der BGW sowie des Forschungsbereichs der BGW, das Fachwissen der beteiligten Partner und anderer Institutionen , etwas das Robert Koch-Institut (RKI, Anm. d. Red.) oder die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA, Anm. d. Red.). Hinzu kamen wissenschaftliche Studien zu einzelnen Themen und politische Vorgaben wie der SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandard des BMAS.
Die Unfallversicherungsträger haben eine hohe Branchenkompetenz und genau die ist bei der Konkretisierung des SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandards von großer Bedeutung.
Wie sehen diese Handlungshilfen aus?
HARTENBACH: Sie bauen systematisch aufeinander auf. Die Basis bilden allgemeine FAQ. Darauf aufbauend gibt es Hinweise zum Arbeitsschutz: Was muss der Betrieb bei einer Pandemie beachten? In einem dritten Schritt erläutern wir dann, wie sich die Infektionsgefahr auf die Arbeitsorganisation und das Arbeitsschutzmanagement auswirkt und was dabei zu beachten ist. Alle Informationen stehen auf unserer Homepage zur Verfügung. Darüber hinaus weisen aber auch alle Branchenverbände direkt darauf hin. So ist eine breite Streuung garantiert.
Haben Sie Reaktionen aus den Betrieben bekommen?
LAMERS: Die Rückmeldungen aus den Unternehmen haben uns gezeigt, dass die Online-Informationen hilfreich für wesentliche Erstinformationen waren. Infolgedessen gingen in den Präventionsdiensten eher sehr betriebsspezifische Anfragen zu Abläufen, Gefährdungen und Schutzmaßnahmen ein, die meist eine intensivere telefonische Beratung durch unsere Präventionsdienste und Arbeitsmedizinerinnen und -mediziner erforderten.
Die Rückmeldungen aus den Betrieben waren insgesamt äußerst zufriedenstellend. Unser Angebot aus umfassenden Online-Informationen und -Handlungshilfen für die erste Orientierung und einer ausführlichen telefonischen Beratung für vertiefende Fragestellungen wurde offenbar als sehr hilfreich empfunden.
HARTENBACH: Konkrete Nachfragen zu den Musterbetriebsvereinbarungen und zum Thema Gefährdungsbeurteilung haben uns gezeigt, dass unsere Hinweise wahrgenommen worden sind. Eine sehr hohe Nachfrage gab es bei den Informationen in den verschiedenen Landessprachen der Saisonarbeiter. Das gilt insbesondere für das Plakat mit den wichtigsten Hygieneregeln, das wir auch in mehreren Sprachen anbieten.
Ausländische Saisonarbeiter bekommen ja in der Regel Unterkünfte gestellt. Das ist eine zusätzliche Herausforderung für den Infektionsschutz. Wie reagieren Sie darauf?
HARTENBACH: Wir arbeiten schon seit Jahren mit den Unternehmen daran, die Standards für die Unterkünfte zu verbessern, und haben da schon viel erreicht. Wir beraten die Betriebe und kontrollieren auch die Situation vor Ort. Das gilt im Übrigen auch für unsere aktuellen Corona-Arbeitsschutzstandards. Gesundheitsgefahren im Betrieb sind ein Arbeitsschutzthema und fallen damit nach den gesetzlichen Vorgaben in den Verantwortungsbereich der gesetzlichen Unfallversicherung. Seit dem 11. Mai führen wir auch wieder Betriebsbesichtigungen – unter besonderen Bedingungen – durch. Die Betriebe mit Saisonarbeitskräften stehen dabei im Fokus.
Überprüfen Sie Ihre Handlungshilfen regelmäßig?
HARTENBACH: Es war wichtig, früh zu reagieren und dann lange stabil zu bleiben. Häufige Veränderungen in den Empfehlungen verwirren die Verantwortlichen in den Betrieben eher, als dass sie nutzen. Sicherheit und Ruhe ist derzeit, glaube ich, allererstes Gebot. Aber natürlich behalten wir die aktuellen Entwicklungen im Infektionsgeschehen im Blick, um reagieren zu können, wenn es wesentliche Änderungen geben sollte.
LAMERS: Die wissenschaftliche Studienlage, die Entwicklung der Infektionen, veröffentlicht durch das RKI, werden durch den Forschungsbereich der BGW intensiv beobachtet und ausgewertet. Durch die Mitarbeit in staatlichen Gremien werden aktuelle Diskussionen, Beratungsergebnisse und Erkenntnisse ebenfalls mit den Präventionsleistungen der BGW abgeglichen und bei Bedarf angepasst.
Die Änderungen des Infektionsgeschehens, wissenschaftliche Erkenntnisse, praxisbezogene Umsetzungsoptionen oder politische Vorgaben werden auch weiterhin zu Aktualisierungen von Branchenstandards, etwa für das Friseurhandwerk, führen. Dabei besteht ein Austausch mit Vertretern der Länder und des Bundes zur Abstimmung der Maßnahmen.
Für die SVLFG war es sehr gut, dass die Unfallversicherungsträger schnell und gemeinsam agiert haben.
Wie bewerten Sie insgesamt die Initiative des BMAS, den Unfallversicherungsträgern auf der Basis des allgemeinen SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandards die Ausgestaltung konkreter Hinweise für die Branchen zu überlassen?
LAMERS: Die Initiative des BMAS begrüße ich sehr. Die Unfallversicherungsträger haben eine hohe Branchenkompetenz und genau die ist bei der Konkretisierung des SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandards von großer Bedeutung. Wir übernehmen die Aufgabe sehr gern, praxisgerechte Maßnahmen zum Schutz der Beschäftigten in den Mitgliedsunternehmen der BGW festzulegen. Die Nähe zu unseren Mitgliedsbetrieben sowie den Vertreterinnen und Vertretern der Branche sind dabei sehr hilfreich.
Natürlich erfordert es auch eine Abstimmung zwischen den Unfallversicherungsträgern, insbesondere wenn mehrere Unfallversicherungsträger für Versicherte einer Branche zuständig sind. Um hier eine gute Zusammenarbeit zu ermöglichen, wurden frühzeitig ein Steuerkreis und mehrere Arbeitsgruppen der Unfallversicherungsträger auf Ebene der DGUV eingerichtet, in denen auch Fachleute der BGW tätig sind. Es zeigt sich, dass die gute Zusammenarbeit unter den Unfallversicherungsträgern eine große Stärke ist bei der Erarbeitung von branchenbezogenen Arbeitsschutzstandards.
HARTENBACH: Ja, das war der richtige Schritt. Gesundheitsschutz ist auch Arbeitsschutz, sobald die betriebliche Praxis ins Spiel kommt. Und die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung haben die notwendige Nähe zu den betrieblichen Akteuren, um gute Hinweise für die Praxis zu erarbeiten. Für die SVLFG war es sehr gut, dass die Unfallversicherungsträger schnell und gemeinsam agiert haben. Über den gemeinsamen Steuerkreis sind wir jetzt gut eingebunden in die Diskussion und Weiterentwicklung des Standards.
Vielen Dank für das Interview, Frau Lamers und Herr Hartenbach.
Das Interview führte Elke Biesel, Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV).