Der Weg zurück ins Arbeitsleben – trotz eines schweren Arbeitsunfalls

Thilo Klaaßen war 19 Jahre alt, als er während seiner Ausbildung zum Maurer einen schweren Arbeitsunfall erlitt. Sein Beispiel zeigt, wie durch das Zusammenwirken aller Beteiligten, neueste prothetische Versorgungsmöglichkeiten sowie durch eigenes Engagement und Willensstärke der Weg in eine inklusive Arbeitswelt gelingen kann.

Der Unfall von Thilo Klaaßen ereignete sich am 25. April 2017 mit einem Radlader während der Arbeit in einem Bauunternehmen. Der damals 19-Jährige befand sich in seinem zweiten Ausbildungsjahr zum Maurer und hatte den Auftrag, Dachziegel zu versetzen. Nach dem Ausstieg aus dem Radlader rollte dieser plötzlich los. Dann ging alles ganz schnell: Thilo Klaaßen versuchte noch die Handbremse zu ziehen und geriet dabei mit seinem Arm zwischen eine Hauswand und den Radlader. Dabei wurden die Knochen, Sehnen und Nerven der rechten Hand verletzt.

Medizinische Versorgung

Mit dem Rettungswagen wurde Thilo Klaaßen auf schnellstem Weg in das nächstgelegene Krankenhaus nach Aurich gebracht. Schnell stand fest, dass es sich um eine Verletzung nach dem Schwerstverletzungsartenverfahren (SAV) handelte. Der 19-Jährige wurde unmittelbar mit dem Hubschrauber in das Klinikum nach Bremen-Mitte verlegt.

Um das komplexe Heilverfahren bestmöglich zu steuern und den Schwerverletzten sowie seine Angehörigen zu beraten und zu unterstützen, stand Thilo Klaaßen und seiner Familie von Beginn an eine Reha-Managerin der Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (BG BAU) zur Seite. In der Klinik für plastische und rekonstruktive Chirurgie versuchten die Ärztinnen und Ärzte lange, seine Hand zu erhalten. Die schwere Verletzung der rechten Hand und des rechten Unterarms, wiederholte Gefäßverschlüsse sowie eine Infektion des Knochens zogen letztendlich zahlreiche Operationen nach sich.

Die Reha-Koordination ist ein besonderer Service in allen BG Kliniken für die Versicherten der BG BAU, der eine direkte Beratung der Versicherten sowie eine Planung bis zum Abschluss der stationären und ambulanten Rehabilitation in den BG Kliniken gewährleistet.

Nach einem elfwöchigen stationären Aufenthalt wurde Thilo Klaaßen in die ambulante Weiterbehandlung entlassen. Die Beschwerden blieben bestehen. Bereits zu diesem Zeitpunkt stand für den damaligen Auszubildenden fest, dass die Hand nicht gerettet werden kann: "Ich habe so viel Selbstbewusstsein gehabt, dass ich wusste: Das geht nicht mehr", erinnert er sich heute.

Anfang Oktober 2017 erfolgte die Vorstellung im Berufsgenossenschaftlichen Klinikum Hamburg. Es folgten weitere Untersuchungen und Gespräche. Expertinnen und Experten der technischen Orthopädie des Klinikums zeigten ihm die Möglichkeiten und Grenzen einer prothetischen Versorgung auf. Gemeinsam mit Thilo Klaaßen beschlossen die Ärztinnen und Ärzte der Abteilung für Handchirurgie die Amputation der rechten Hand. Noch im Oktober 2017 fand die Operation statt: Die rechte Hand wurde zehn Zentimeter oberhalb des Handgelenkes amputiert.

Medizinische Rehabilitation

Anschließend erfolgte eine komplexe stationäre Rehabilitation im BG Klinikum Hamburg. Betreut wurde Thilo Klaaßen in dieser Zeit vor allem vom Reha-Koordinator der BG BAU. Die Reha-Koordination ist ein besonderer Service in allen BG Kliniken für die Versicherten der BG BAU. Dieser gewährleistet eine direkte Beratung der Versicherten sowie eine Planung bis zum Abschluss der stationären und ambulanten Rehabilitation in einer BG Klinik. Die Reha-Koordinatorinnen und Reha-Koordinatoren haben einen festen Arbeitsplatz in den BG Kliniken, sodass sie an mindestens vier Tagen in der Woche für Versicherte, deren Angehörige, sowie Ärztinnen und Ärzte erreichbar sind. Damit stellen sie das wichtige Bindeglied zwischen der Klinik, den Versicherten und der BG BAU dar. Neben dem Reha-Management und der Reha-Koordination gibt es bei der BG BAU weitere Spezialistinnen und Spezialisten, die sich professionell um die Verletzten kümmern: Die Hilfsmittelbeauftragten der BG BAU sind mit den neuesten Entwicklungen im Bereich der Hightech-Prothesen vertraut. Sie stimmen sich eng mit den Leistungserbringern ab und stellten auch bei Thilo Klaaßen sicher, dass alle erforderlichen Hilfsmittel zeitnah zur Verfügung standen.

Der Weg zur passenden Hightech-Prothese

In der Hamburger Abteilung für Rehabilitationsmedizin wurde mithilfe eines interdisziplinären Teams die optimale Prothese für Thilo Klaaßen ausgesucht. Um eine bestmögliche Versorgung sicherzustellen, arbeiteten die behandelnden Ärztinnen und Ärzte, Fachleute aus Physio- und Ergotherapie sowie der Orthopädiemechanik eng zusammen. Dabei wurden seine Wünsche und Vorstellungen bezüglich seiner beruflichen Zukunft sowie seine privaten Interessen besonders berücksichtigt. Denn eines stand fest: Thilo Klaaßen wollte schnellstmöglich wieder ein selbstständiges Leben führen und dem nachgehen, was ihm Freude bereitet. "Ich bin kein Mensch, der im Haus sitzen kann", erklärt er. "Ich war immer draußen, im Garten oder auf dem Feld."

Ihm wurden verschiedene Prothesen vorgestellt. Seine Wahl fiel zunächst auf eine robuste, widerstandfähige myoelektrische Prothese. Myoelektrische Prothesen werden von den verbliebenen Muskeln des Armstumpfes angesteuert. Der bei einer Anspannung der Muskulatur gesendete elektronische Impuls kann von den Sensoren der Prothese ausgelesen werden, sodass ein Greifen mit der Prothesenhand möglich wird – auch dosiert. Nach viel Training, intensiver Rehabilitation und mit Unterstützung geschulten Personals lernte Thilo Klaaßen den Umgang mit der Prothese kennen und trainierte gezielt mit einer Ergotherapeutin während seines Aufenthaltes im BG Klinikum Hamburg.

Die Reha-Koordinatorinnen und Reha-Koordinatoren haben einen festen Arbeitsplatz in den BG Kliniken, sodass sie an mindestens vier Tagen in der Woche für Versicherte, deren Angehörige sowie Ärztinnen und Ärzte erreichbar sind.

In der Praxis stellte sich aber heraus, dass die Prothese den besonderen Belastungen und Beanspruchungen des beruflichen und privaten Lebens von Thilo Klaaßen nicht standhielt und nach Alternativen gesucht werden musste. Man entschied sich für eine mehrgelenkige myoelektrische Prothesenhand – ein Prototyp. Diese Prothese ist robust und wasserdicht – genau das, was Thilo Klaaßen für seinen Alltag benötigt. Aufgrund der Möglichkeit der persönlichen Konfiguration konnte die Prothese an die individuellen Bedürfnisse von Thilo Klaaßen angepasst werden. Über eine App lassen sich bis zu 18 voreingestellte Griffe abrufen. Zudem sind mehrere Slots vorhanden, um persönliche Griffmuster zu konfigurieren. Einzelne Griffe kann er mit den im Armstumpf verbliebenen Sehnen und Muskeln steuern: Diese senden elektrische Signale an die Akku-unterstütze Hightech-Prothese. Mit ihr kann Thilo Klaaßen greifen und halten – und zwar schnell oder langsam, kräftig oder sanft. Kann er die Griffe nicht durch Kokontraktionen auslösen, besteht die Möglichkeit, diese über eine Bedienoberfläche an der Prothese auszuführen.

Zurück ins Arbeitsleben

Bereits während der medizinischen Rehabilitation war klar, dass Thilo Klaaßen seine Ausbildung zum Maurer nicht würde fortsetzen können und Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben vonseiten der BG BAU erforderlich sein würden. In den Prozess war auch die Reha-Managerin eingebunden, die von seinen beruflichen Vorstellungen erfuhr, eine landwirtschaftliche Ausbildung absolvieren zu wollen. Die Idee hatte Thilo Klaaßen bereits lange vor dem Arbeitsunfall gehabt. Schon früher hatte er leidenschaftlich gern nebenbei in einem landwirtschaftlichen Unternehmen gearbeitet. Eine Tätigkeit im Büro war für ihn nicht vorstellbar: "Büro ist absolut gar nichts für mich, das erscheint mir zu langweilig." Sein Wunsch war es, eine Ausbildung in der Landwirtschaft zu machen und als Landwirt zu arbeiten.

Seine früheren Erfahrungen in der Landwirtschaft zahlten sich aus. Schließlich erhielt er ein Angebot für einen Ausbildungsplatz von einem landwirtschaftlichen Unternehmen, in dem er früher schon gearbeitet hatte.

In einem gemeinsamen Gespräch mit der Reha-Managerin der BG BAU, Thilo Klaaßen und dem potenziellen Arbeitgeber wurden die Einsatzmöglichkeiten, die notwendigen Arbeitsmittel und die Finanzierung durch die BG BAU besprochen. Schnell wurde deutlich: Ein wichtiges Arbeitsmittel für die Ausbildung zum Landwirt ist ein Schlepper – die im Betrieb zur Verfügung stehenden Fahrzeuge konnte Thilo Klaaßen aber nicht ohne Weiteres führen.

Das Beispiel von Thilo Klaaßen zeigt, dass durch ein Zusammenspiel aller Beteiligten, die Bereitschaft eines Arbeitgebers und nicht zuletzt durch die Energie und Willenskraft der betroffenen Person selbst ein Neubeginn möglich ist – auch nach einem schweren Arbeitsunfall.

Um zunächst einen Eindruck zu gewinnen, wie und ob die Tätigkeiten und Abläufe mit einer Handprothese umsetzbar sind, sowie zur Austestung von Grenzen, absolvierte er in dem Unternehmen ein Praktikum. Gleichzeitig wurden vonseiten der BG BAU Fahrproben und ein verkehrstechnisches Gutachten veranlasst. Außerdem musste Thilo Klaaßen alle Führerscheinprüfungen ein weiteres Mal ablegen, ehe feststand, dass er auch weiterhin Fahrzeuge mit einem Halbautomatikgetriebe sowie einem angepassten Lenker mit einem Multifunktionslenkraddrehknopf führen kann. Die Kosten für den Umbau des Schleppers, der für seine Tätigkeit als Landwirt erforderlich ist, übernahm die BG BAU ebenso wie die Kosten für die Miete des Schleppers für die Zeit der Nutzung während der Ausbildung.

Neubeginn

Bereits 15 Monate nach seinem schweren Arbeitsunfall, am 15. Juli 2018, begann Thilo Klaaßen seine Ausbildung zum Landwirt. Mit seinem Schlepper verrichtete er alle anfallenden Tätigkeiten: Bearbeitung der Felder, Pressen und Verladen der Heuballen und das Versorgen der Tiere. Auf das Verständnis und die Rücksichtnahme der Kolleginnen und Kollegen sowie der Vorgesetzten konnte er in dieser Zeit immer bauen.

Drei Jahre später, im Juli 2021, hat Thilo Klaaßen seine Ausbildung mit Auszeichnung bestanden. Nun möchte er sich selbstständig machen. Der umgebaute Schlepper soll sein Eigentum werden, damit er im Auftrag für andere Landwirte arbeiten kann. Im Laufe seiner Ausbildung hat Thilo Klaaßen zusammen mit seiner Freundin ein Haus gekauft und es mithilfe seines Bruders renoviert. Die Arbeit konnte er mit der Prothese gut alleine bewältigen. Heute wohnt er mit seiner Freundin in dem Haus.

Er ist allen Menschen, vor allem seiner Familie und seiner Freundin – wie auch der BG BAU –, dankbar für die Begleitung und Unterstützung nach seinem Unfall. Das Beispiel von Thilo Klaaßen zeigt, dass durch ein Zusammenspiel aller Beteiligten, die Bereitschaft eines Arbeitgebers und nicht zuletzt durch die Energie und Willenskraft der betroffenen Person selbst ein Neubeginn möglich ist – auch nach einem schweren Arbeitsunfall.