Studieren mit Behinderung

Wie können Hochschulen den gesetzlich verankerten Teilhabeanspruch von Menschen mit Behinderung umsetzen? Nachteilsausgleiche und Beauftragte, die die betroffenen Studierenden begleiten, sind wichtige Maßnahmen.

Ein Studium als Qualifikationsweg für das spätere Berufsleben erfreut sich bei jungen Menschen nach wie vor großer Beliebtheit, auch wenn die absoluten Zahlen der Studienanfänger und -anfängerinnen nur bis zum Jahr 2012 rasant anstiegen und seitdem allgemein leicht rückläufig sind.[1] Dies trifft auch zu, wenn die Studierendenquote betrachtet wird, also auch die rückläufigen Geburtenraten der jeweiligen Jahrgänge berücksichtigt werden, die für ein Studium infrage kämen. Menschen mit einer Behinderung oder einer chronischen Erkrankung steht der Weg in ein Studium gleichberechtigt und gleichwertig offen, was Maßnahmen an den Universitäten und Hochschulen angewandter Wissenschaft (Fachhochschulen) erforderlich macht. Dies betrifft sowohl die Zugänge – insbesondere wenn Eignungsfeststellungsverfahren vor Aufnahme des Studiums anstehen wie in den Fächern Sport, Musik und Kunst – als auch das eigentliche Studium, wenn Praxisanteile von Relevanz sind wie Laborpraktika, Praxisanteile im medizinischen Studium oder sportpraktische Anteile.

Zahlen und Fakten

Im Wintersemester 2022/2023 studierten nach Angaben des Statistischen Bundesamtes rund 2,9 Millionen Menschen. Auf die Universitäten entfielen davon 1,73 Millionen Studierende, auf die Fachhochschulen circa eine Million. Weitere Studierende gab es in den Kunsthochschulen und theologischen Hochschulen.[2]In Deutschland sind der gleichberechtigte Zugang zu einem Studium und dessen Absolvierung gesetzlich verankert. Dabei wird die internationale Regelung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK), die in Deutschland am 26. März 2009 in Kraft trat und die im § 24 Abs. 5 den diskriminierungsfreien und gleichberechtigten Zugang zur Hochschulbildung sichert, in Bundes- und Landesrecht umgesetzt.[3] Auf Bundesebene dient hierzu § 2 Abs. 4 des Hochschulrahmengesetzes (HRG), in dem festgelegt wird, dass die Hochschulen dafür Sorge tragen, „dass behinderte Studierende in ihrem Studium nicht benachteiligt werden und die Angebote der Hochschule möglichst ohne fremde Hilfe in Anspruch nehmen können“[4]. Diese Vorgabe wird im föderal strukturierten Bildungswesen in den jeweiligen Landeshochschulgesetzen umgesetzt und findet an den Hochschulen Anwendung, verankert in Grundordnungen sowie konkreten rechtlichen Regelungen.

Eine dieser Regelungen an deutschen Hochschulen betrifft die Verankerung von Beauftragten für die Belange von Studierenden mit Behinderung oder chronischer Erkrankung an den Hochschulen. Im Nordrhein-Westfälischen Hochschulgesetz ist beispielsweise in § 62 Abs. 2 geregelt: „Die beauftragte Person wirkt darauf hin, dass den besonderen Bedürfnissen von Studierenden mit Behinderung oder chronischer Erkrankung Rechnung getragen wird und insbesondere die zu ihren Gunsten geltenden Rechtsvorschriften beachtet werden. Sie wirkt insbesondere bei der Planung und Organisation der Lehr- und Studienbedingungen und beim Nachteilsausgleich hinsichtlich des Zugangs und der Zulassung zum Studium, hinsichtlich des Studiums und hinsichtlich der Prüfungen mit. Sie behandelt Beschwerden von Betroffenen. Beanstandet die beauftragte Person eine Maßnahme, hat die Beanstandung aufschiebende Wirkung. Wird keine Abhilfe geschaffen, ist das Rektorat zu beteiligen.“[5]

Aus der 22. Sozialerhebung des Deutschen Studierendenwerks geht hervor, dass 16 Prozent der Studierenden sich so einstufen, dass sie mit einer Gesundheitsbeeinträchtigung studieren. Davon entfallen 65,2 Prozent auf psychische Erkrankungen, 20,5 Prozent auf chronische somatische Krankheiten, 3,7 Prozent auf Teilleistungsstörungen, 2,5 Prozent auf Bewegungsbeeinträchtigungen, 1,9 Prozent auf Sehbeeinträchtigung, 1,1 Prozent auf Hörbeeinträchtigung und 5,1 Prozent auf andere Beeinträchtigungen.[6] Bei den Zahlen dieser umfangreichen Befragung von Studierenden in Deutschland muss berücksichtigt werden, dass die Selbsteinschätzung der befragten Studierenden nicht auf die im Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) definierte gesetzliche Grundlage einer Behinderung abzielte, sondern auf eine selbst wahrgenommene gesundheitliche Beeinträchtigung. Zur Anzahl von Studierenden mit einem nachgewiesenen Grad einer Behinderung gibt es keine verlässlichen Zahlen.

Organisation und Beratung

Ziel der Maßnahmen an Hochschulen, die für Studierende mit einer Behinderung oder chronischen Erkrankung getroffen werden, ist es, den gleichberechtigten Zugang und die gleichberechtigte Teilhabe am Studium zu gewährleisten. Dies beinhaltet alle Rechte und Pflichten, die sich aus einem Studium an einer Universität oder Fachhochschule allgemein ergeben. Nahezu alle Universitäten und Fachhochschulen regeln dies unter anderem über Personen, die als Beauftragte für die Belange von Studierenden mit Behinderung und chronischer Erkrankung eingesetzt oder gewählt werden und die auch für den gleichberechtigten Zugang von Studienbewerberinnen  und -bewerbern zuständig sind. Die Beauftragten beraten und unterstützen die Studierenden bei der Organisation des Studiums, der Organisation von Prüfungen und bei anderen studiumsrelevanten Aspekten, die mit der Behinderung oder chronischen Erkrankung im Zusammenhang stehen. Hierzu gehört insbesondere die Beratung im Rahmen von Nachteilsaugleichen bei Prüfungen. Aus dieser Konstellation ist abzuleiten, dass die beauftragten Personen eine verbindende und gegebenenfalls vermittelnde Position zwischen den relevanten Stellen der Hochschule – insbesondere den Prüfungsämtern – und den Studierenden einnehmen. Im Idealfall sollte der Rückblick eines oder einer Studierenden mit Behinderung dann so ausfallen wie das Feedback von Vera Tham, einer Studentin der Deutschen Sporthochschule Köln und ehemaligen Paralympicsteilnehmerin: „Für mich war das Studium an der SpoHo eine Zeit der gelebten Inklusion. Ich war einfach eine Studentin von vielen, die das studierte, was ihr Freude machte, so wie alle anderen auch. Die Behinderung stand nicht im Mittelpunkt.“

Nachteilsausgleich

Nachteilsausgleiche sind eine individualisierte sowie situationsbezogene Maßnahme zur Sicherung der gleichberechtigten Teilhabe von Studierenden mit einer Behinderung oder chronischen Erkrankung. Sie dienen auch der Chancengleichheit, insbesondere in Prüfungssituationen. Die Beauftragten einer Hochschule beraten und begleiten die Studierenden bei der Beantragung von Nachteilsausgleichen, die üblicherweise von den Prüfungsämtern beschieden werden.

Nachteilsausgleiche können vielfältig sein und rekurrieren auf die aus der Behinderung oder chronischen Krankheit entstehenden Nachteile. Gängig sind Anpassungen der Länge von Prüfungszeiten oder die Änderung von Räumlichkeiten, in denen die Prüfung stattfindet, oder Änderungen der Prüfungsform, der Prüfungsumfänge und die Möglichkeit, Teilprüfungen abzulegen. Voraussetzung für die Gewährung eines Nachteilsausgleichs ist neben dem Nachweis eines Nachteils, dass sich das Wesen der kompetenzorientierten Prüfung nicht ändert.

Härtefall

Ein klassischer Härtefall im Rahmen eines Studiums mit einer Behinderung oder chronischen Erkrankung liegt in der Regel dann vor, wenn die Person, die sich auf die Zulassung zu einem Studium oder auf die Zulassung zu beschränkten Studiumsinhalten bewirbt, so schwerwiegende gesundheitliche Einschränkungen hat, dass ihr nicht zugemutet werden kann, auf die Zulassung zu warten. Dies gilt insbesondere bei progredienten Behinderungen oder Erkrankungen. Zum Teil halten Hochschulen für diese Fälle Kontingente der zu vergebenen Studienplätze vor (Quotenregelung, oftmals zwei Prozent der Gesamtplätze, die vergeben werden können).

Organisation an der Deutschen Sporthochschule Köln

Eignungsfeststellungsverfahren

Alle Bachelorstudiengänge der Hochschule sind in ihrem Wesen zentral als sportpraktische Studiengänge ausgelegt. Aus diesem Grund ist der Zugang zu diesen Studiengängen neben den üblichen Vergabeverfahren von Studienplätzen an Hochschulen an eine entsprechende Eignungsfeststellung gekoppelt. Am Testtag werden die Personen mit einer Behinderung, die an allen Tests im gleichen Verfahren und zusammen mit anderen Prüflingen teilnehmen, von den Beauftragten der Universität durchgehend begleitet. Die Prüfenden der Hochschule bewerten die Leistungen der Bewerberinnen und Bewerber mit Behinderung in gleicher Form. Der einzige Unterschied besteht darin, dass der Eignungstest auch dann fortgeführt werden darf, wenn mehr als ein Defizit auffällig wird. Ist das der Fall, wird nach dem Test und unter Beteiligung der Fachvertreterinnen und Fachvertreter der Sportarten und der Beauftragten ein Gutachten für das Rektorat erstellt, ob die Defizite eher einem mangelnden Üben, einer mangelnden Eignung oder der Behinderung zuzuordnen sind. Im letzten Fall würde das Rektorat der Hochschule dann entscheiden, ob der Test im Sinne eines Nachteilsausgleichs als bestanden gewertet wird oder nicht.

Nachteilsausgleich

Prüfungen sind immanenter Bestandteil eines Studiums. Ein Studiengang, dessen Wesensmerkmal auch aus sportpraktischen Inhalten besteht, wird deshalb zwingend praktische Prüfungen durchführen, bei denen Studierende mit einer Behinderung, analog zu den Studierenden ohne Behinderung, das Recht auf eine faire Leistungsanforderung und Leistungsbeurteilung haben. Darüber hinaus berühren einige Formen einer Behinderung aber auch sporttheoretische Prüfungen. Zum Beispiel wenn in einem Modul eine schriftliche Prüfung im Antwort-Wahl-Verfahren (Multiple Choice) durchgeführt wird und teilnehmende Studierende nicht sehen können.

Nachteilsausgleiche müssen folgende Punkte gewährleisten: Sie müssen eine adäquate, gleichwertige und rechtsverbindliche Prüfungssituation inklusive der korrekten Beurteilung des Prüflings darstellen. Die Person mit einer Behinderung darf weder bevorzugt noch benachteiligt werden. Es sollte eine möglichst große Transparenz für alle Beteiligten bestehen. Bei den sportpraktischen Prüfungen sind Anpassungen der Leistungsbeurteilungen oder Variationen bei den praktischen Anforderungen möglich und üblich. Ein Beispiel: Die Leistungsanforderungen der Studierenden ohne Behinderung für eine Teilleistung des Studiums – zum Beispiel Zeit über 100 Meter Freistil im Schwimmen – kann als Prozentwert der Weltbestleistung über 100 Meter Freistil dargestellt werden. Für den Bewerber oder die Bewerberin mit einer Behinderung, denen zum Beispiel ein Unterarm oder eine Hand fehlt, wird dann analog der gleiche Prozentwert für die Notenfindung herangezogen. Bezug wäre allerdings die Weltbestleistung innerhalb der hier vorliegenden Wettkampfklasse im paralympischen Sport.

Teilhabe ist ein Erfolgsmodell

Viele Hochschulen in Deutschland unternehmen große Anstrengungen, um die Teilhabe aller Studierenden zu realisieren. Die Hochschulrektorenkonferenz verpflichtet sich mit ihrem Programm „Auf dem Weg zu einer Hochschule für alle“[7] ebenfalls zu diesen Aktivitäten. Das ist sicherlich notwendig, um die oben dargestellte rechtlich verbriefte Teilhabe von Menschen innerhalb eines Studiums zu realisieren. Bedeutsamer erscheint allerdings aus Sicht einer Hochschule, mit dem eigenen Engagement für Vielfalt das zu ermöglichen, was ein Studierender mit einer Halbseitenlähmung so formuliert: „Ich studiere die Fächer Sport und Chemie für das Lehramt, um meine Leidenschaft zu studieren. Zudem kann ich mich in einem Umfeld, das mich wertschätzt, neuen sportlichen Herausforderungen stellen und damit teilhaben wie jeder andere Studierende auch.“ (Jan Luca Haupt)

Hochschulen profitieren, wenn Vielfalt als Chance verstanden wird. Ein Studierender, der im Verlauf des Bachelorstudiums erblindete und später auch noch einen Masterabschluss absolvierte, formuliert es folgendermaßen: „Es war mein Traum, an der Sporthochschule in Köln zu studieren, um mich im Umfeld des Sports beruflich verwirklichen zu können. Während des Studiums ist es unglaublich spannend, Einblicke in die verschiedenen Disziplinen der Sportwissenschaft zu erlangen, das ging für mich sehend und nicht sehend. Aber ich bin auch froh und dankbar, dass ich der Hochschule hier und dort Dinge zurückgeben durfte und damit dazu beitragen konnte, dass sich meine Hochschule weiterentwickelt und der Wert von Vielfalt noch wahrnehmbarer wurde, die besonderen Bedarfe von Studierenden mit einer Behinderung noch mehr gesehen und bedient werden.“ (Marcel Wienads)