Migration als Realität: Diversitätsorientierte Öffnung des Arbeitsschutzes

Deutschland verändert sich dynamisch durch Globalisierung und Migration. Kulturelle und sprachliche Vielfalt sind bereits Normalität in den Betrieben. Wie gehen Akteurinnen und Akteure des Arbeitsschutzes aktuell damit um? Welche Herausforderungen bestehen? Wie gelingt es, sich im Bereich der Prävention diesbezüglich zukunftsfähig aufzustellen?

Deutschland ist ein Einwanderungsland. 23,8 Millionen Menschen hierzulande haben einen sogenannten Migrationshintergrund.[1][2]

Der Anteil von Ausländerinnen und Ausländern an den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten hat sich in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt und lag Ende 2022 bei über 5,7 Millionen.[3] Neben akademischen Fachkräften umfasst diese Gruppe auch viele Menschen, die unter anderem in der Logistik oder Gastronomie dazu beitragen, dass der Alltag hierzulande reibungslos funktioniert.[4]

Die Tatsache, dass Deutschland eine Migrationsgesellschaft ist, wurde in den vergangenen Jahrzehnten auf politischer Entscheidungsebene allerdings lange nicht anerkannt. So fehlt es bis heute an flächendeckenden Konzepten, um der wachsenden kulturellen und sprachlichen Vielfalt zu begegnen.

Auch in Organisationen und Unternehmen braucht es verstärkt ein strategisches Vorgehen sowie eine Berücksichtigung der Bedarfe und Potenziale in der Migrationsgesellschaft. Dies gilt auch für den Arbeitsschutz, um das Recht auf sichere und gesunde Beschäftigung für alle garantieren zu können.

Status quo Arbeitsschutz und Umgang mit kultureller Vielfalt

Eine explorative Befragung des Landesinstituts für Arbeitsschutz und Arbeitsgestaltung Nordrhein-Westfalen (LIA.nrw)[5] gibt Hinweise, wie Institutionen der betrieblichen Prävention sowie der Aufsicht aufgestellt sind in Bezug auf die Themen und Herausforderungen, die Migration mit sich bringt.

80 Prozent der Befragten sehen diesbezüglich Handlungsbedarf. Es wird berichtet, dass die Umsetzung aufgrund der Heterogenität der Belegschaften immer aufwendiger wird. Die Kommunikation und die Sicherheitsunterweisungen werden am häufigsten als Herausforderung genannt. Man verständige sich teilweise „mit Händen und Füßen“. Es müsse mehr erklärt werden, es brauche Übersetzungen und neue Konzepte für die Vermittlung. Fachkräfte für Arbeitssicherheit stellten teils in mühevoller Kleinarbeit Unterweisungsunterlagen zusammen oder es würden Online-Übersetzungsprogramme genutzt. Dies funktioniere aber nur bedingt und mit hohem Aufwand.

Laut „Verordnung über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Verwendung von Arbeitsmitteln“ ist gesetzlich geregelt, dass Informationen „in einer für die Beschäftigten verständlichen Form und Sprache“ zur Verfügung gestellt werden müssen (§ 12 Abs. 1 Betriebssicherheitsverordnung (BetrSichV)). Daten aus einer Dachevaluation der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) zu Unterweisungen ergeben, dass lediglich die Hälfte der Betriebe, die Personen ohne gute Deutschkenntnisse beschäftigen, diesen Informationen zum Arbeitsschutz in ihrer Herkunftssprache zur Verfügung stellen und auch nur in geringem Umfang.[6]

Neben sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten spielen in der Wahrnehmung der Akteurinnen und Akteure auch kultur-, religions- und sozialisationsbedingte Verhaltensweisen eine Rolle. Bezüglich der Vorerfahrungen der Beschäftigten mit dem Arbeitsschutz im Herkunftsland wird berichtet, dass man teilweise „bei null“ anfange.

Es wird deutlich, dass die Gruppe der Migrantinnen und Migranten, die erst seit kurzer Zeit in Deutschland arbeiten und über geringe Sprachkenntnisse verfügen, hier zentral im Fokus ist.

Paradigmenwechsel: Von der Anpassungserwartung zur Öffnung

Die häufig zitierte Erwartung der Integration betont die „Bringschuld“ von Migrantinnen und Migranten zum Beispiel beim Erlernen der deutschen Sprache und bei der Akzeptanz der Normen in Deutschland. Es wird eine einseitige Anpassung erwartet und diese Einstellung ist häufig defizitorientiert. Die migrantische Person wird als Sonderfall gesehen, die zusätzliche Arbeit bereitet.

Auch wenn eine Gesellschaft erwarten kann, dass hier beschäftigte Menschen langfristig etwa die deutsche Sprache erlernen: Von einem rumänischen Arbeiter in der Fleischindustrie mit einer 50-Stunden-Woche zu erwarten, dass er sich abends von seiner Sammelunterkunft aus auf den Weg macht, um einen Deutschkurs zu besuchen, mit dem Ziel, dann alle sicherheitsrelevanten Informationen im Betrieb auf Deutsch verstehen zu können, erscheint jedoch wenig realistisch.

Was es braucht, ist ein Paradigmenwechsel dahin gehend, dass die bestehenden Strukturen Ausgangspunkt von Veränderungen werden.

Das Konzept der interkulturellen Öffnung[7] beschreibt diesen strategischen Veränderungsprozess, der die migrationsbedingte gesellschaftliche Vielfalt als Realität und Normalfall anerkennt und von Beginn an auf allen Ebenen berücksichtigt.

Die Umsetzung auf organisationaler Ebene

Es gilt, sowohl die bestehenden Strukturen und Prozesse hinsichtlich der Bedarfe von Migrantinnen und Migranten als auch bestehende Ausgrenzungsmechanismen zu analysieren, um darauf aufbauend entsprechende Maßnahmen zu entwickeln und umzusetzen. Im Sinne einer umfassenden Diversitätsorientierung sollte hier unbedingt auch das Zusammenwirken mit weiteren Dimensionen wie Geschlecht, körperlichen und geistigen Fähigkeiten oder Alter berücksichtigt werden.

Ziel ist, dass alle Menschen, mit und ohne Migrationserfahrung und unabhängig von ihren Deutschkenntnissen, Zugang zu den Leistungen und Ressourcen der jeweiligen Einrichtung wie zum Beispiel Betrieb, Unfallversicherung und staatliche Aufsichtsbehörde erhalten.

Auch geht es darum, bisher ungenutzte Chancen und Potenziale sichtbar zu machen. Ein wichtiger Punkt ist hier die Rekrutierung von Personen mit Fremdsprachenkenntnissen und Kulturwissen: Das heißt nicht, Personen nur aufgrund dieser Qualifikationen anzustellen oder auszubilden. Es gibt jedoch bereits qualifizierte Menschen, die diese Zusatzkompetenzen mitbringen. Oft werden diese nur nicht explizit als Anforderung formuliert oder intern abgefragt.

Des Weiteren bieten sich Kooperationen mit örtlichen Migrantenorganisationen an. Aufgrund negativer Erfahrungen im Herkunftsland sind bei manchen Menschen Besuche von Behörden und Aufsichtspersonen mit großen Befürchtungen verbunden. Da kann es hilfreich sein, gemeinsame Formate zu entwickeln, um Unsicherheiten zu nehmen und Vertrauen in die Aufsicht aufzubauen.  

Bedeutend für den Erfolg des Veränderungsprozesses ist seine Verankerung als Querschnittsthema in der strategischen Steuerung. Es sollten verantwortliche Personen benannt, Maßnahmen festgelegt und deren Umsetzung überprüft werden. Es geht nicht darum, etwa vereinzelt Broschüren zu übersetzen, sondern neue Vermittlungskonzepte zu etablieren.

Zudem gilt es, die Beschäftigten von Beginn an umfassend zu informieren und einzubeziehen.

Aufbau interkultureller Kompetenz unerlässlich

Die Sensibilisierung und Qualifizierung der Beschäftigten im Bereich der Prävention und der Aufbau interkultureller Kompetenz sind wichtige Bausteine des Erfolgs von Diversitätsorientierung und interkultureller Öffnung.

Interkulturelle Kompetenz beschreibt die Fähigkeit, in interkulturellen Situationen, basierend auf bestimmten Haltungen und Einstellungen sowie spezifischen Handlungs- und Reflexionsfähigkeiten, effektiv und angemessen zu interagieren.[8]

Interkulturalität ist hier nicht als nationalkulturvergleichend definiert, da dies häufig stereotype Bilder von „den Türken“ oder „den Bulgaren“ begünstigt und die Unterteilung in „wir“ und „die anderen“ fördert. Deutschland ist als Migrationsgesellschaft bereits sehr vielfältig. Daher ist interkulturelle Kompetenz hier universell und kulturübergreifend gemeint.

Entsprechende Schulungen sowie regelmäßige kollegiale Austauschformate für die Beschäftigten sind bedeutend.

Von neuen Konzepten profitieren auch andere

Ein vielfaltsgerechter Arbeitsschutz hilft auf breiter Ebene bei der Verbesserung von Sicherheit und Gesundheit.

Von der Überarbeitung und Neukonzipierung von Arbeitsschutzmaßnahmen profitieren alle Beschäftigten, insbesondere auch Auszubildende und Berufseinsteigende, die Schwierigkeiten haben, Fachbegriffe zu verstehen. Zudem leben etwa 6,2 Millionen Analphabetinnen und Analphabeten in Deutschland[9], die auf verständliche sicherheitsrelevante Informationen angewiesen sind.

Neue Kommunikationswege und -formen sowie Patenprogramme und Austauschformate, die Teil einer Diversitätsstrategie sein können, leisten einen positiven Beitrag zu einer wertschätzenden und integrativen Unternehmenskultur.

Und gerade auch Fachkräfte für Arbeitssicherheit und Aufsichtspersonen profitieren von strukturellen Erleichterungen. Wenn nicht jede Person einzeln entscheiden muss, wie sie in unklaren Situationen handelt, sondern bestimmte Themen kollegial besprochen werden und entsprechende Konzepte existieren, gibt das Orientierung, Entlastung und Handlungssicherheit.

Angesichts des wachsenden Arbeitskräftemangels in Deutschland wird die sprachliche und kulturelle Vielfalt weiter zunehmen, sodass ein erfolgreicher Arbeitsschutz auch von einem proaktiven und strategischen Umgang mit Diversität beeinflusst wird.

Hinweis: Die für das DGUV Forum gültige Variante des Genderns entspricht nicht der der Autorin.