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„Wir wollen unser System als Best Practice bekannt machen“

Das System der Selbstverwaltung ermöglicht Mitbestimmung zu Kernthemen dieser Zeit – sei es in Fragen der Politik, der Prävention oder der Rehabilitation. Der neue und der ehemalige Vorstandsvorsitzende der DGUV im Austausch über die Arbeit der Selbstverwaltung und gelebte Demokratie.

Herr Wirsch, Sie sind seit fast drei Jahrzehnten für die Selbstverwaltung in der gesetzlichen Unfallversicherung tätig. Wie hat sich die Arbeit für die Selbstverwaltung der gesetzlichen Unfallversicherung und ihres Spitzenverbandes in dieser Zeit entwickelt?

Wirsch: Die gesetzliche Unfallversicherung hat auf mehreren Ebenen einen Wandel durchlebt. Zunächst einmal auf Ebene ihres Geltungsbereichs. So wurde bereits vor meiner aktiven Zeit als Selbstverwalter in den 1970er-Jahren der versicherte Personenkreis auf Schülerinnen und Schüler, Studierende sowie Kinder in der Kindertagesbetreuung und auf Ehrenamtliche ausgeweitet.

Ferner führten die Bemühungen, das Sozialrecht in einem Sozialgesetzbuch nach Vorbild des Bürgerlichen Gesetzbuchs zusammenzufassen, dazu, dass die Regeln aus der Reichsversicherungsordnung zur gesetzlichen Unfallversicherung 1996 in das Sozialgesetzbuch überführt wurden.

Aber auch strukturell erfuhr die gesetzliche Unfallversicherung einen großen Wandel. Nach Privatisierungsdebatten Anfang der 2000er-Jahre stieg der Fusionsdruck auf die Unfallversicherungsträger. Im Jahr 2008, im selben Jahr, in dem ich zum Vorstandsvorsitzenden der Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik, der BGHW, gewählt wurde, wurde mit dem „Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Unfallversicherung“ die Neuorganisation der gewerblichen Berufsgenossenschaften und Unfallkassen beschlossen. Ganz konkret bedeutete dies, dass die Zahl der gewerblichen Berufsgenossenschaften auf neun zu reduzieren war. Analog waren Regelungen für die Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand vorgesehen. Und tatsächlich gab es 2011 nur noch neun gewerbliche Berufsgenossenschaften und 2016 24 Unfallkassen sowie bereits 2007 einen Spitzenverband, die DGUV, die aus dem Zusammenschluss des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften und des Bundesverbandes der Unfallkassen hervorgegangen war. Die Arbeit der Selbstverwaltung der DGUV ist grundlegend von der aus den Fusionen der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung hervorgegangenen Struktur geprägt.

Ein weiteres bestimmendes Element der vergangenen Jahre war vor allem die Digitalisierung, die durch die Coronakrise einen großen Schub erfahren hat. Vor einigen Jahren waren hybride und digitale Sitzungen der Selbstverwaltungsgremien noch undenkbar und heute sind sie Normalität.

Hans-Peter Kern und Manfred Wirsch (von links) | © DGUV
Hans-Peter Kern und Manfred Wirsch (von links) ©DGUV

Welche Meilensteine waren für den aktuellen Stand der gesetzlichen Unfallversicherung entscheidend?

Wirsch: Mit den Fusionen der Berufsgenossenschaften haben wir erreicht, dass eine angemessene Vertretung der Interessen der in den bisherigen gewerblichen Berufsgenossenschaften vertretenen Branchen sowie eine ortsnahe Betreuung der Versicherten und Unternehmen sichergestellt wurden. Die Repräsentation aller Branchen ist zentral für eine gute Arbeit der Selbstverwaltung mit Nähe zu den Betroffenen und für praxisnahe Lösungen. Die Regelungen für die Sozialwahlen unterstützen uns dabei sehr, denn die Vorbereitung von gemeinsamen Wahllisten gewährleistet eine ausgewogene Repräsentation aller Branchen in den Organen der Selbstverwaltung. Der Erstellung von Gemeinschaftslisten geht ein langer Abstimmungsprozess voraus. Diesen nehmen wir sehr gern in Kauf, denn er stellt sicher, dass die Beteiligten zu einem Konsens zunächst innerhalb der eigenen Bänke finden. Nach den Sozialwahlen erfolgt dann die Konsensbildung bei der Klärung von Sachfragen gemeinsam mit unseren Sozialpartnern – und diese ist entscheidend für eine gute Arbeit der Selbstverwaltung.

Kern: Erfolgreiche Konsensfindung war auch Voraussetzung für weitere Meilensteine. Da ist zuerst das Weißbuch Berufskrankheiten zu nennen. Im Weißbuch hat die Selbstverwaltung dem Gesetzgeber konkrete, sozialpartnerschaftlich getragene Vorschläge zur Reform des Berufskrankheitenrechts unterbreitet. Ein Kernpunkt des Weißbuchs war der Vorschlag, den Unterlassungszwang abzuschaffen, der bei einigen der häufigsten Berufskrankheiten Voraussetzung für eine Anerkennung war. Viele der Anregungen, die wir im Weißbuch BK gegeben haben, wurden mit Inkrafttreten des 7. SGB IV-Änderungsgesetzes in die Praxis umgesetzt – so auch die Abschaffung des Unterlassungszwangs.

Die BG Kliniken haben seit jeher eine herausragende Stellung in der Krankenhauslandschaft und sind unverzichtbar für die Ausübung des Rehabilitationsauftrags der gesetzlichen Unfallversicherung. Im Zuge der Erörterungen über den Gesetzesentwurf zur Krankenhausreform wurde die Rolle der BG Kliniken in Deutschland nochmals gestärkt. So wurde im Gesetz festgehalten, dass erstens den BG Kliniken die Leistungsgruppen zugewiesen werden sollen, für die sie nach der Aufgabenstellung des SGB VII Ressourcen vorhalten, und dass zweitens verwandte Leistungsgruppen von den BG Kliniken künftig in Kooperation mit anderen Kliniken erbracht werden können. Insgesamt ist das eine großartige Bestätigung für die Arbeit der BG Kliniken.

Herr Kern, Sie sind seit 2013 im Vorstand der DGUV. Welche Erfahrungen in Beruf und Ehrenamt halten Sie für die Arbeit in der Selbstverwaltung für besonders wichtig?

Kern: Für mich liegt der besondere Wert unserer Selbstverwaltung in der engen Verbindung zur betrieblichen Praxis. Ich bin selbst Fachkraft für Arbeitssicherheit bei Bosch. Welche Auswirkungen zum Beispiel eine Änderung der DGUV Vorschrift 2 hat, erlebe ich unmittelbar im Betriebsalltag. Solche Erfahrungen bringe ich gerne in die Diskussionen in unseren Gremien ein. Darüber hinaus erlebe ich die Sozialpartnerschaft als starken Pluspunkt der Selbstverwaltung. Einen fairen Ausgleich zwischen unterschiedlichen Positionen zu finden, ist manchmal ein steiniger Weg. Aber nur so können wir die größtmögliche Akzeptanz für die Arbeit von Berufsgenossenschaften und Unfallkassen erreichen.

Was möchten Sie als neuer Vorstandsvorsitzender der DGUV erreichen?

Kern: Aufbauend auf der Arbeit meiner Vorgänger möchte ich dazu beitragen, dass sich die gesetzliche Unfallversicherung weiterentwickelt. Ganz konkret: Bis Ende 2025 möchten wir die Strategie zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention erneuern und verabschieden, um weitere Fortschritte im Bereich Inklusion zu erreichen. Auch werden wir die Registermodernisierung weiter vorantreiben. Aber auch die großen weltpolitischen Themen wie der Regierungswechsel in den USA und seine Folgen für die Sicherheitsarchitektur in Europa und für den Welthandel werden wir im Auge behalten. Die Folgen betreffen mittelbar auch uns, da beispielsweise die Finanzierung unseres Sozialsystems und seiner Leistungen auch von der wirtschaftlichen Lage und diese wiederum von der Lage der Weltwirtschaft abhängt.

Die internationale Arbeit der DGUV muss fortgeführt werden, denn wir wollen unser System als Best Practice bekannt machen.

Auch die enge Zusammenarbeit mit dem Deutschen Verkehrssicherheitsrat ist von großem Vorteil für die gesetzliche Unfallversicherung. Weniger Unfälle im Straßenverkehr bedeuten weniger Wegeunfälle!

In den vergangenen Jahren hat sich die Selbstverwaltung auch mit sogenannten Megatrends und ihrer Bedeutung für die gesetzliche Unfallversicherung auseinandergesetzt – Digitalisierung und Entbürokratisierung, Klimawandel und demografische Entwicklung. Wir werden die Entwicklungen weiter beobachten, wo nötig reagieren und vor allem agieren.

Das System der sozialen Sicherheit in Deutschland ist einzigartig. Dennoch haben viele Menschen das Gefühl, in unsicheren Zeiten zu leben. Was sind die Gründe hierfür?

Wirsch: Unser System mildert wie kaum ein anderes Sozialsystem auf der Welt die Folgen von persönlichen Schicksalsschlägen ab und ermöglicht die Teilhabe am Arbeitsleben und in der Gesellschaft. Es ist im europäischen Vergleich herausragend und trägt entscheidend zur Stabilität in unserer Gesellschaft bei. Das wissen die Menschen zwar, doch in Zeiten knapper Kassen, politischer Verwerfungen und großer Umbrüche ist bei vielen Menschen eine große Verunsicherung da. Die Menschen fragen sich, was morgen sein wird, und fürchten um Wohlstand, Stabilität und Sicherheit. Auch stellen sie infrage, ob die Errungenschaften unseres Sozialsystems weiterhin Bestand haben können sowie gerecht verteilt werden. Das zeigt wiederum, wie sehr das soziale System in Deutschland geschätzt wird. Es muss langfristig bezahlbar und generationengerecht sein sowie verlässliche Leistungen bieten. Dazu kann die Selbstverwaltung beitragen.

Welche Rolle kommt der Selbstverwaltung in der sozialen Sicherung in unserem politischen System zu?

Kern: Der Gesetzgeber setzt den Rechtsrahmen durch das Grundgesetz sowie weitere Gesetze. Diese Regeln sind notwendigerweise abstrakt, deshalb werden in die praktische Umsetzung diejenigen einbezogen, die es in der Praxis angeht, also Arbeitgebende und Versicherte. Die Selbstverwaltung als Institution ermöglicht es ihnen mitzubestimmen, wie die Sozialversicherung als ihre eigene Angelegenheit gestaltet wird. Das ist gelebte Demokratie. Und diese Möglichkeit mitzubestimmen hat durchaus eine weitreichende Bedeutung. Die Entscheidungen der Selbstverwaltung besitzen eine hohe Relevanz für circa 67,2 Millionen Versicherte und 3,7 Millionen Unternehmen und Einrichtungen.

Wirsch: Die Bedeutung der Selbstverwaltung als Mitwirkungsmöglichkeit der Betroffenen spiegelt sich ganz klar in ihren Aufgaben wider. Diese sind sehr breit gefächert: Selbstverwalterinnen und Selbstverwalter gestalten in den Gremien der Sozialversicherungsträger deren Verwaltungsorganisation und deren Haushalte, die Gefahrtarife und die Unfallverhütungsvorschriften. Die Mitwirkung umfasst sowohl politische Themen wie die von der Selbstverwaltung erarbeiteten Vorschläge zur Weiterentwicklung des Berufskrankheitenrechts als auch bei Entscheidungen in individuellen Fällen in Widerspruchs- und Rentenausschüssen. Des Weiteren bringt die Selbstverwaltung ihr wertvolles Fachwissen aus der betrieblichen Praxis, zum Beispiel zu den Kernthemen Prävention und Rehabilitation, in vielen Ausschüssen ein. Die Mitbestimmung sorgt für Stabilität und diese Stabilität wiederum zahlt auf die Stärke unseres politischen Systems ein. Seit einiger Zeit gibt es Überlegungen, der Selbstverwaltung Verfassungsrang einzuräumen. Dieses Vorhaben unterstütze ich ausdrücklich. Die Selbstverwaltung im Grundgesetz zu verankern, würde zu ihrer Stärkung nachhaltig beitragen und ihre Rolle in unserem politischen System nochmals verdeutlichen. 

Das Interview führte Dr. Anna Kavvadias.

Zur Person

Manfred Wirsch ist seit 2008 Vorstandsvorsitzender der Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik (BGHW). Von 2012 bis 2014 war er Vorsitzender der Mitgliederversammlung der DGUV und von 2014 bis 2025 Vorsitzender des Vorstandes der DGUV.

Hans-Peter Kern ist seit 2010 Vorstandsvorsitzender der Berufsgenossenschaft Energie Textil Elektro Medienerzeugnisse (BG ETEM) und seit 2013 Mitglied des Vorstandes der DGUV. 2025 wurde er zum Vorsitzenden des Vorstandes der DGUV gewählt.