Der Weg zum Briefkasten als versicherter Betriebsweg

Auf dem Weg zum Briefkasten zu dem Zweck, eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung an den Arbeitgeber zu versenden, befinden sich Beschäftigte auf einem versicherten Betriebsweg. Dem Erstattungsanspruch der Krankenkasse wegen der Behandlungskosten nach einem Sturz steht auch die bestandskräftige Ablehnung eines Arbeitsunfalls durch den Unfallversicherungsträger nicht entgegen.

BSG, Urteil vom 30.03.2023 – B 2 U 1/21 R

Eine Versicherte wollte ihrem Arbeitgeber eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung schicken. Auf dem Weg zum Briefkasten stürzte sie und verletzte sich. Ihre Krankenkasse begehrte von der zuständigen Berufsgenossenschaft die Erstattung der Behandlungskosten und des von ihr geleisteten Krankengelds, da sie von einem unter Versicherungsschutz stehenden Weg ausging. In erster und zweiter Instanz war dieser Streit noch zugunsten der beklagten Berufsgenossenschaft entschieden worden. Beide vorinstanzlichen Gerichte sahen in dem Sturz auf dem Weg zum Postbriefkasten keinen nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) versicherten Wegeunfall und lehnten auch eine Bewertung des Wegs zum Postbriefkasten als solchem als versicherte Tätigkeit im Sinne von § 8 Abs. 1 SGB VII ab. Wegen grundsätzlicher Bedeutung hatte das Landessozialgericht (LSG) die Revision jedoch zugelassen.

Der 2. Senat tritt diesen vorinstanzlichen Entscheidungen mit seinem Urteil entgegen. Mit der Versendung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung würden Beschäftigte eine aus dem Arbeitsverhältnis folgende Nebenpflicht erfüllen (gemäß § 5 Abs. 1 Entgeltfortzahlungsgesetz – EFZG). Bei einer länger als drei Tage dauernden Arbeitsunfähigkeit ist diese durch eine ärztliche Bescheinigung über das Bestehen von Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer spätestens bis zum Folgetag nachzuweisen. Ebenso wie die Pflicht zur unverzüglichen Mitteilung über das Bestehen von Arbeitsunfähigkeit diene die Verpflichtung zur Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung dem unternehmerischen Interesse: Der Arbeitgeber könne so den Einsatz der Arbeitskraft zuverlässig planen und im Falle der Verhinderung frühzeitig disponieren, indem er Ersatz beschaffen oder gegebenenfalls Terminänderungen vornehmen könne. Damit verrichteten Beschäftigte in Ausübung ihrer gesetzlichen Mitteilungspflicht eine arbeitsvertragliche Nebenpflicht, hinter der das eigene Interesse an der Sicherung der Entgeltfortzahlung zurücktrete.

Auf dem Weg zum Postbriefkasten befand sich die Versicherte mithin auf einem versicherten Betriebsweg nach § 8 Abs. 1 SGB VII. Mit dem Gang zum Briefkasten, den sie mit der objektivierten Handlungstendenz zurücklegte, die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung an ihren Arbeitgeber zu übermitteln, erfüllte sie eine arbeitsvertragliche (Neben-)Pflicht und befand sich nicht erst in deren Vorbereitung. Davon zu unterscheiden seien Wege zur Betriebsstätte, um ein Fehlen zu entschuldigen oder eine Kündigung abzuwenden, die von der Rechtsprechung als nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII versicherte Wegeunfälle qualifiziert worden seien. Von einer vergleichbaren Fallgestaltung konnte hier nicht ausgegangen werden, da der Endpunkt des Wegs ja gerade nicht die Betriebsstätte gewesen sei, hingegen der Weg selbst bereits der objektiven Handlungstendenz nach in Erfüllung der vertraglichen Pflicht zurückgelegt wurde und nicht erst zu deren Vorbereitung.

Der Betrachtungsweise des 2. Senats ist zuzustimmen. Der Erfüllung von arbeitsvertraglichen Nebenpflichten muss ebenso wie Verrichtungen zur Erfüllung der vertraglich geschuldeten Hauptpflicht wertend eine regelmäßig unternehmensdienliche Handlungstendenz entnommen werden. Dies wurde in der Vergangenheit bereits zunehmend in den Mittelpunkt der Bewertung gestellt und kann von anderen bloßen (Vorbereitungs-)Handlungen wie dem Betanken des Fahrzeugs oder der Beschaffung einer Arbeitserlaubnis, die erst die Erfüllung der arbeitsvertraglich geschuldeten Leistung ermöglichen sollen, unterschieden werden.

Die hier kommentierte Entscheidung ist noch in weiterer Hinsicht bemerkenswert: Die Rechtsprechung mehrerer Senate des Bundessozialgerichts (BSG) hatte in der Vergangenheit dem Erstattungsbegehren eines Sozialleistungsträgers die Bestandskraft und damit Bindungswirkung ablehnender Bescheide des in Anspruch genommenen Trägers gegenüber der versicherten Person (so ausdrücklich etwa BSG vom 13.12.2016 – B 1 KR 29/15 R) auch im Erstattungsstreitverfahren der Träger untereinander entgegengehalten. Dies folge aus der Pflicht zur Zusammenarbeit der Leistungsträger sowie der Funktionsfähigkeit des auf diesem Prinzip der Aufgabenteilung beruhenden gegliederten Sozialleistungssystems. Zwar gibt der Senat deutlich zu erkennen, dass er selbst die Auffassung einer Bindungs- oder Tatbestands- beziehungsweise Feststellungswirkung ablehnender Verwaltungsakte im Erstattungsstreitverfahren nicht teile (unter B 2. der Entscheidungsgründe, nachdem die fehlende Feststellungswirkung bereits aus dem Verfügungssatz des Ablehnungsbescheids heraus begründet worden war). Zur Vermeidung einer Anrufung des Großen Senats wegen Abweichung von der Rechtsprechung anderer Senate stützt sich der Senat darüber hinaus auf die seit jeher zugelassene Ausnahme, dass eine Bindungswirkung bei offensichtlicher Fehlerhaftigkeit des Ablehnungsbescheids ausscheide. Die offensichtliche Fehlerhaftigkeit des Bescheids, mit dem der Versicherungsschutz für den Weg zum Postbriefkasten abgelehnt worden war, begründet der Senat in zwei Sätzen knapp mit seiner bisherigen Rechtsprechung; hiernach sei nach gefestigter Rechtsprechung das Nachgehen einer vertraglichen Nebenpflicht als maßgeblich für den Versicherungsschutz anerkannt. So sei bereits unter Geltung der Reichsversicherungsordnung (RVO) bei Erfüllung der Pflichten zur Anzeige und Nachweis der Arbeitsunfähigkeit der sachliche Zusammenhang mit einer Beschäftigung bejaht worden.

Dies ist eine schon als überzogen zu bezeichnende – in der Kürze nahezu vernichtende – Kritik an dem vorinstanzlichen Urteil, das seine gegenteilige Entscheidung eben auch sehr ausführlich begründet hatte. Stattdessen hätte man sich eine deutlichere Distanzierung von der in der Literatur seit vielen Jahren kritisierten und von immer weniger Senaten geteilten Rechtsprechung zur Tatbestands- oder Bindungswirkung von Verwaltungsakten im Erstattungsverfahren der Träger untereinander gewünscht.

Die Inhalte dieser Rechtskolumne stellen allein die Einschätzungen des Autors/der Autorin dar.