Die Chemikalienstrategie der EU

Das Ziel der EU, als erster Kontinent klimaneutral zu werden, hat weitreichende Auswirkungen auf europäische Chemikalienschutz-Verordnungen und stellt das GHS-System infrage. DGUV Forum beleuchtet die Auswirkungen des EU-Green-Deals.

Der Green Deal

Mit dem Green Deal will die Europäische Kommission die wirtschaftliche Entwicklung der EU-27 auf das Ziel ausrichten, als erster Kontinent klimaneutral zu werden. Der Green Deal soll die EU zukunftsfest machen, indem wirtschaftliche, gesellschaftliche und ökologische Ziele miteinander verwoben werden.

Der Green Deal ist Bestandteil der Strategie, die die Agenda 2030 der Vereinten Nationen und die Ziele für nachhaltige Entwicklung unterstützen soll.[1] Ein erster Schritt ist das Paket „Fit für 55“[2], das etwa die Nettoemissionen um mindestens 55 Prozent bis zum Jahr 2030 gegenüber dem Jahr 1990 verringern soll. Im Rahmen des „Null-Schadstoff-Ziels“ sind Maßnahmen beschrieben, die die Schadstoffbelastung der Ökosysteme und Konsumgüter reduzieren sollen. Eine der Maßnahmen ist die EU-Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit aus dem Jahr 2020 (Chemicals Strategy for Sustainability, CSS).[3] Sie wurde inzwischen konkretisiert und mit einem straffen Zeitplan unterfüttert.

Dabei soll der Schutz von Mensch und Umwelt vor gefährlichen Chemikalien erhöht und gleichzeitig innovative Lösungen für sichere und nachhaltige Chemikalien vorangetrieben werden. Die Strategie nennt mehr als 80 Einzelmaßnahmen, die in den kommenden Jahren in parallel verlaufenden Gesetzgebungsprozessen umgesetzt werden sollen.

Es ist geplant, die REACH-Verordnung (Registration, Evaluation, Authorisation of Chemicals), die CLP-Verordnung (Classification, Labelling and Packaging) und zahlreiche andere Vorschriften zu ändern und zu verschärfen. Hierzu zählen weitreichende neue Datenanforderungen, Verwendungsbeschränkungen und eine umfassende Regulierung von Stoffgruppen mit bestimmten Eigenschaften sowie die Aufnahme neuer Gefahrenklassen in die CLP-Verordnung.

Fakten und Zahlen

2018 wurden weltweit Chemikalien im Wert von 3.347 Milliarden Euro verkauft, wobei Europa zweitgrößter Hersteller war.[4] Die Chemikalienherstellung ist der viertgrößte Industriezweig in der EU. Hier sind 30.000 Unternehmen, davon 95 Prozent kleine und mittlere Unternehmen (KMU), tätig, in denen rund 1,2 Millionen Menschen direkt und 3,6 Millionen indirekt beschäftigt sind.

Die EU verfügt über einen umfassenden Rechtsrahmen, der von rund 40 Rechtsakten gebildet wird, darunter die Verordnung zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH)[5], die Verordnung über die Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen (CLP)[6] sowie neben vielen anderen die Rechtsvorschriften über die Sicherheit von Spielzeug, Kosmetika, Biozidprodukten, Pflanzenschutzmitteln und Lebensmitteln, über Karzinogene bei der Arbeit sowie die Rechtsvorschriften über den Umweltschutz.

Studien über Human-Biomonitoring in der EU deuten darauf hin, dass im menschlichen Blut und Körpergewebe zunehmend unterschiedliche gefährliche Chemikalien enthalten sind, darunter bestimmte Pestizide, Biozide, Arzneimittel, Schwermetalle, Weichmacher und Flammschutzmittel.[7]

Ziele und geplante Maßnahmen der Chemikalienstrategie

Im Einklang mit dem europäischen Green Deal zielt die Strategie auf die Verwirklichung einer schadstofffreien Umwelt ab, was bedeutet, dass Chemikalien so hergestellt und verwendet werden sollen, dass ihr Beitrag zur Gesellschaft – einschließlich zur Verwirklichung der grünen und der digitalen Wende – maximiert wird, ohne dem Planeten sowie derzeitigen und künftigen Generationen zu schaden.

Geplant hierbei sind mehr als 80 Maßnahmen zur Förderung innovativer Lösungen für sichere und nachhaltige Chemikalien, zur Verbesserung des Schutzes der menschlichen Gesundheit und der Umwelt, zur Vereinfachung und Stärkung des Rechtsrahmens für Chemikalien, zum Aufbau einer umfassenden Wissensbasis als Grundlage einer faktengestützten politischen Entscheidungsfindung und zur Übernahme einer weltweiten Vorbildfunktion für ein verantwortungsvolles Chemikalienmanagement.

Die Maßnahmen umfassen insbesondere:

  • Erarbeitung von EU-Kriterien für inhärent sichere und nachhaltige Chemikalien sowie Gewährleistung von Entwicklung, Vermarktung, Einsatz und Verbreitung von inhärent sicheren und nachhaltigen Stoffen, Werkstoffen und Produkten
  • Einsatz neuer Methoden im Zuge des Zulassungsverfahrens, um Tierversuche zu reduzieren und möglichst komplett zu ersetzen
  • Gewährleistung eines angemessenen Qualifikationsangebots
  • geeignete Rechtsvorschriften zur Förderung der Verwendung von sichereren Chemikalien
  • Minimierung der Präsenz bedenklicher Stoffe
  • umfassende Informationsangaben, Gewährleistung zu den enthaltenen Chemikalien und zur sicheren Verwendung
  • Investitionen in nachhaltige Innovationen
  • Entwicklung von Methoden für die Risikobewertung von Chemikalien unter Berücksichtigung des gesamten Lebenszyklus von Stoffen, Werkstoffen und Produkten
  • Investitionen in und Ausbau von Forschung und Entwicklung
  • Steigerung des derzeitigen Einsatzes von verfügbaren Technologien für Fertigungszwecke (zum Beispiel Internet der Dinge, Big Data, künstliche Intelligenz, Automatisierung, intelligente Sensoren und Robotertechnik)
  • Ausweitung des Risikomanagements, um sicherzustellen, dass Verbraucherprodukte keine Chemikalien enthalten, die Krebs oder Genmutationen verursachen, das Fortpflanzungs- oder das Hormonsystem beeinträchtigen
  • Festlegung von Kriterien für „wesentliche Verwendungszwecke“, um sicherzustellen, dass die schädlichsten Chemikalien nur dann eingesetzt werden dürfen, wenn ihre Verwendung für die Gesundheit oder Sicherheit erforderlich oder für das Funktionieren der Gesellschaft kritisch ist und es keine ökologisch und gesundheitlich tragbaren Alternativen gibt; diese Kriterien werden für die Anwendung des Begriffs der wesentlichen Verwendungszwecke in allen einschlägigen EU-Rechtsvorschriften sowohl für allgemeine als auch für spezifische Risikobewertungen maßgeblich sein
  • Beschränkung der Verwendung endokriner Disruptoren, das heißt solcher Stoffe, die über eine Störung der Funktion des Hormonsystems zu schädigenden Effekten führen können (Definition der WHO in IPCS/WHO 2002)
  • Einführung oder Verstärkung von Bestimmungen zur Berücksichtigung der Kombinationseffekte von Chemikalien in anderen relevanten Rechtsvorschriften wie den Rechtsvorschriften für Wasser, Lebensmittelzusatzstoffe, Spielzeug, Lebensmittelkontaktmaterial, Detergenzien und Kosmetika
  • Vorschläge für neue Gefahrenklassen und -kriterien in der CLP-Verordnung zur umfassenden Berücksichtigung von Umwelttoxizität, -persistenz, -mobilität und -bioakkumulation
  • Vereinfachung und Konsolidierung des Rechtsrahmens unter dem Motto „Ein Stoff, eine Bewertung“
  • Null-Toleranz-Ansatz bei Nichteinhaltung von Bestimmungen

Bewertung

Das heute bestehende Chemikalienrecht ist im Wesentlichen durch die EU-Verordnungen REACH und CLP geprägt. In REACH sind die Registrierung, die Bewertung, die Zulassung und die Beschränkung von Chemikalien – also das Herstellen, Inverkehrbringen, die Verwendung sowie Informationspflichten für nachgeschaltete Anwender geregelt. Die CLP-Verordnung legt die europaweit einheitliche Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen fest und setzt zudem das global harmonisierte System der Vereinten Nationen (GHS) um.

Die Europäische Kommission bestätigt in der Einleitung ihrer Mitteilung zur neuen Chemikalienstrategie selbst, dass der Regulierungsrahmen der EU für chemische Stoffe und Produkte heute anerkanntermaßen zu den umfassendsten und sichersten Schutzstandards zählt und sich auf die weltweit fortschrittlichste Wissensbasis stützt. Die EU-Chemikalienregulierung bietet somit schon heute alle Möglichkeiten, um problematische Stoffe zu identifizieren und diese – falls notwendig – umfassend zu regulieren. Dazu soll die Zahl der Tierversuche durch den Einsatz von neuen Methoden, die allerdings noch in vielen Bereichen entwickelt werden müssen, reduziert werden. In Zukunft soll vollständig auf Tierversuche verzichtet werden können.

Gleichwohl ist die neue Chemikalienstrategie von einem Regulierungsansatz geprägt, der sehr stark auf den gefährlichen Eigenschaften von Chemikalien basiert. Geplant sind neue Datenanforderungen, Verwendungsbeschränkungen und eine umfassende Regulierung von Stoffgruppen mit bestimmten Eigenschaften (zum Beispiel Persistenz, Mobilität, das Hormonsystem beeinflussende Substanzen). Beschränkungen von Chemikalien sollen künftig oft ohne vorherige Risikobewertung oder Konsultation der Hersteller im Schnellverfahren erfolgen.

Das Ziel der Chemikalienstrategie, den Schutz der Menschen und der Umwelt vor Risiken durch Chemikalien zu verbessern und zugleich die Wettbewerbsfähigkeit der EU-Industrie zu erhöhen, ist grundsätzlich zu begrüßen. Ebenso zu begrüßen sind die Bestrebungen, den Schutz der Beschäftigten durch Festlegung weiterer Prioritäten im Hinblick auf die Exposition gegenüber gefährlichen Stoffen im Rahmen des anstehenden strategischen Rahmens für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz zu stärken. Auch im Hinblick auf eine Forschungs- und Innovationsagenda für Chemikalien mit der Förderung einer zeitnahen Übernahme von Forschungsergebnissen durch Rechtsvorschriften sind die Initiativen positiv zu bewerten. Eine umfassendere Wissensbasis soll die Sicherheitsprüfung und Risikobewertung von Chemikalien verbessern.

Die vorgeschlagenen Maßnahmen sind gleichwohl äußerst ambitioniert und ihre Umsetzung wäre mit weitreichenden Folgen für die europäische Industrie verbunden. Schon jetzt müssen die Unternehmen unter anderem aufgrund der COVID-19-Pandemie, der Folgen des Krieges in der Ukraine oder aufgrund von Lieferengpässen enorme Kraftanstrengungen aufbringen, um die Herausforderungen der aktuellen Situation zu bewältigen. Dabei sind insbesondere Stabilität und Planungssicherheit von zentraler Bedeutung. Es ist jedoch davon auszugehen, dass zur Umsetzung der in der Chemikalienstrategie vorgesehenen Maßnahmen langwierige Gesetzgebungsverfahren mit unsicherem Ausgang notwendig wären. Dies würde zu massiven Unsicherheiten für die europäischen Unternehmen führen und könnte die Bewältigung der wirtschaftlichen Krise erheblich behindern.

Risikobasierter Ansatz

Die Chemikalienstrategie ist stark von einem vorsorge- und gefahrenbasierten Regulierungsansatz geprägt. Sowohl eine Vielzahl der vorgesehenen legislativen Maßnahmen als auch die vorläufige Definition nachhaltiger Chemikalien ist mit einer Abkehr vom bewährten risikobasierten Ansatz, bei dem nicht nur die gefährlichen Eigenschaften von Chemikalien, sondern auch die tatsächliche Exposition Berücksichtigung finden, verbunden. Hat eine Chemikalie bestimmte Gefahreneigenschaften, soll es schneller möglich sein, Produktion und Verwendung zu verbieten – ohne vertiefte Prüfung, ob tatsächlich ein Risiko für eine Exposition besteht.

Die Begriffe „Gefahr“ und „Risiko“, die umgangssprachlich teils synonym verwendet werden, haben hier einen sehr relevanten Bedeutungsunterschied: Das Wort „Gefahr“ beschreibt eine Stoffeigenschaft, also beispielsweise, ob eine Substanz beim Verschlucken schädlich ist. Nur zusammen mit der Wahrscheinlichkeit einer Exposition, in diesem Fall dem Verschlucken, wird daraus ein Risiko für die Gesundheit. Grundsätzlich wird aus einer Gefahr als stoffspezifischer Eigenschaft nur dann ein Risiko, wenn es auch eine Wahrscheinlichkeit zur Exposition gibt (Risiko = Gefahr x Exposition). Von einem Gefahrstoff muss also – umgangssprachlich – gar keine Gefahr ausgehen, denn die Exposition kann gegebenenfalls vermieden werden.

Der von der EU vorgeschlagene Paradigmenwechsell – weg von einer Risikobewertung und hin zu einer Bewertung der abstrakten Gefahreigenschaft – mag für die Verwaltung deutlich einfacher sein, weil nur der Stoff und nicht seine Anwendung betrachtet werden muss. Dieses Vorgehen widerspricht dem Paracelsus-Grundsatz „Allein die Dosis macht das Gift“. Undifferenzierte Verbote von Stoffen und Stoffgruppen allein aufgrund von Gefahrstoffeigenschaften und ohne Betrachtung von Expositionsrisiken würden indes die Zahl verfüg- und nutzbarer Chemikalien in Europa deutlich verringern. Dies hätte unmittelbaren Einfluss auf die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit vieler industrieller Wertschöpfungsketten in der EU. Die Folgen der EU-Chemikalienstrategie strahlen daher weit über die Chemieindustrie hinaus und betreffen nahezu alle Branchen. Zudem würde eine Umsetzung der vorgesehenen Regulierungsvorschläge zu einer massiven Erhöhung des Aufwands zur Erfüllung der regulatorischen Anforderungen in den Unternehmen führen. Schon heute stoßen gerade kleine und mittlere Unternehmen bei der Erfüllung aller chemikalienrechtlichen Vorgaben an ihre personellen Grenzen.

Sichere und nachhaltige Chemikalien

Darüber hinaus wird der Ansatz der „essenziellen Verwendungszwecke“ sowie in diesem Zusammenhang die Definition von „sicheren und nachhaltigen Chemikalien“ eine zentrale Bedeutung dafür haben, welche Auswirkungen die Chemikalienstrategie auf die Industrie hat. Demnach ist eine Verwendung nur dann „essenziell“, wenn sie für die Gesundheit oder Sicherheit erforderlich oder für das Funktionieren der Gesellschaft kritisch ist und es keine ökologisch und gesundheitlich tragbaren Alternativen gibt. Das Konzept der „wesentlichen Verwendungszwecke“ soll zukünftig für alle EU-Rechtsvorschriften maßgeblich sein.

Die Frage, ob eine Chemikalie sicher und nachhaltig ist, kann eigentlich nur anhand ihrer Verwendung und des ganzen Lebenszyklus bewertet werden – und nicht als stoffinhärente Eigenschaft. So greift beispielsweise der alleinige Blick auf die Chemikalie „Chlor“ zu kurz, wenn dessen unersetzliche Verwendung für die Produktion von Solarsilizium oder für Hightechmaterialien nicht berücksichtigt wird. Neben den Auswirkungen auf Menschen und Umwelt ist also auch die Bedeutung für Nachhaltigkeitstechnologien und Wirtschaftlichkeit der Stoffe zu beachten. Von entscheidender Bedeutung muss sein, die sichere und nachhaltige Verwendung von Stoffen zu stärken und gleichzeitig spezifische, inakzeptable Risiken zu identifizieren und auszuschließen. Andernfalls könnten sich Schutzzielkonflikte mit anderen Zielsetzungen des Green Deals ergeben, wie Klimaschutz und Kreislaufwirtschaft, die ohne eine Vielfalt an verfügbaren Stoffen möglicherweise nicht zu erreichen sind.

Was essenziell ist, lässt sich zudem nicht allein technisch oder chemikalienrechtlich beantworten, sondern muss ausgewogen bewertet werden. Das Ergebnis wird stark davon beeinflusst, in welcher Weise eine Gesellschaft leben will. Zudem können sich Bewertungsmaßstäbe ändern, beispielsweise aufgrund von Krisen oder neuen Wertorientierungen. Sie müssen daher an die neue Lage angepasst werden können.

Folgenabschätzungen am Beispiel PFAS

Ein besonders greifbares Beispiel der Auswirkungen der Chemikalienstrategie ist die vorgesehene umfassende Verwendungsbeschränkung von Per- und Polyfluoralkylsubstanzen (PFAS), die unter anderem auch Hightechwerkstoffe wie Fluorpolymere oder fluorierte Polymere betreffen wird. Betroffen wären unter anderem die Automobil- und Elektroindustrie, Energieerzeugung und Halbleiterfertigung, Maschinen- und Anlagenbau oder die Medizintechnik. PFAS werden zudem sehr häufig in Zukunftstechnologien wie beispielsweise in Lithium-Ionen-Batterien, Brennstoffzellen, Wasserstofftechnologien oder innovativen Medizinprodukten eingesetzt. Diese Technologien werden eine wichtige Rolle bei der Erreichung von Nachhaltigkeits- und Umweltschutzzielen sowie in der Gesundheitsversorgung spielen.

Auf der anderen Seite zeigt sich, dass der Einsatz von hocheffektiven Chemikalien dazu führt, dass diese auch außerhalb ihrer eigentlichen Anwendungen zu finden sind, so auch und gerade am Beispiel der PFAS, die innerhalb kürzester Zeit in allen Lebensbereichen der Umwelt nachweisbar waren: im Boden, im Wasser und in der Luft.

Genauer zu prüfen wäre daher in diesem Zusammenhang die Vereinbarkeit der Beschränkungen von ganzen Stoffgruppen auf „essenzielle Verwendungen“ insbesondere mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Danach dürfen nur Maßnahmen getroffen werden, die für die Erreichung des Ziels, in diesem Zusammenhang Gesundheits- und Umweltschutz, geeignet und erforderlich sind und nicht zu unangemessenen Auswirkungen führen. Hier gilt es, sorgfältig abzuwägen.[8]

Berücksichtigung der Kombinationseffekte von Chemikalien

Geplant ist die Einführung von generischen Extrapolationsfaktoren für Gemische mit weder toxikologisch noch epidemiologisch begründeter Absenkung von Grenzwerten. Die EU sieht bei diesem Konzept immer eine additive Wirkung von Stoffen, selbst wenn diese nacheinander und nicht gleichzeitig aufgenommen werden. Auch wird die Aufnahme sowohl am Arbeitsplatz als auch in der Freizeit betrachtet. Damit werden die Lebensgewohnheiten und die Ernährung wichtige Parameter für die Extrapolationsfaktoren. Und da die schier unendliche Kombination von Stoffen und Gemischen nicht umfänglich betrachtet werden kann, werden Extrapolationsfaktoren abgeschätzt. Damit verlässt die EU das bisherige Konzept, dass Grenzwerte auf wissenschaftlicher Basis abgeleitet werden.

Vorschläge für neue Gefahrenklassen

Beabsichtigt ist zudem die Einführung neuer Gefahrenklassen in die EU-Richtlinie zur Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Chemikalien. Damit wird das bisherige Ziel infrage gestellt, das global harmonisierte System (GHS) der UN als weltweiten Standard dafür zu etablieren. So soll unter anderem die Gefahrenklasse der endokrinen Disruptoren (ED; hormonaktive Substanzen) eingeführt werden. Über ihre hormonähnliche Wirkung können die ED Auswirkungen auf den menschlichen Organismus haben, zum Beispiel möglicherweise Krebserkrankungen auslösen. Diese sind jedoch alle durch das bestehende System (GHS) abgedeckt. Substanzen müssten in Zukunft gegebenenfalls doppelt mit ED und als krebserzeugend gekennzeichnet werden. Sollten die neuen Gefahrenklassen in der EU eingeführt werden, ohne dass sie zuvor im GHS verankert wurden, führte dies zu einer Begrenzung des Binnenmarktes, da Stoffe und Gemische nach GHS und zum Inverkehrbringen in der EU zusätzlich mit den neuen Gefahrenklassen gekennzeichnet werden müssten. Auch für Unternehmen, die sowohl innerhalb als auch außerhalb der EU produzieren, ergäben sich dadurch unterschiedliche Anforderungen an die Einstufung und Kennzeichnung.

Auswirkungen auf das übrige Recht

Insbesondere die Abgrenzung beziehungsweise Überlappung von Chemikalienrecht und Spezialrecht, wie beispielsweise für Bauprodukte oder Elektro- und Elektronikgeräte mit eigenen Regelungen, muss verstärkt betrachtet werden, wenn man „wesentliche Verwendungen“ adressieren möchte. Derzeit fehlt es oft an der entsprechenden Entlastung im Chemikalienrecht aufgrund der Spezialgesetzgebung, sodass sich ein zusätzlicher bürokratischer Aufwand ergibt, den die Chemikaliengesetzgebung der Zukunft vermeiden helfen sollte.

Europäische Alleingänge

Globale Harmonisierungsanstrengungen im Chemikalienrecht dürfen nicht durch europäische Alleingänge bei CLP-Gefahrenklassen unterlaufen werden. Das global harmonisierte System zur Einstufung und Kennzeichnung von Chemikalien (GHS) würde durch die Einführung von zusätzlichen, nicht weltweit abgestimmten Vorgaben infrage gestellt.

Ausblick

Die Europäische Kommission hat der Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit folgend eine ganze Reihe von öffentlichen Konsultationen eingeleitet beziehungsweise durchgeführt. Exemplarisch zu nennen sind:

  1. Die Aktualisierung der EU-Vorschriften für Prüfmethoden: Die Verordnung (EG) Nr. 440/2008 zur Festlegung von Prüfmethoden gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH) enthält eine Liste der zugelassenen Prüfmethoden für Chemikalien. Mit der vorgelegten Initiative soll diese Liste um neue/aktualisierte Methoden ergänzt werden, mit denen die Europäische Kommission die Anzahl von Tierversuchen mit Chemikalien verringern möchte.
  2. Die bestmögliche Nutzung der EU-Agenturen zur Straffung wissenschaftlicher Bewertungen: Wie in der Chemikalienstrategie angekündigt, beabsichtigt die Europäische Kommission mit dem europäischen Green Deal für Stoffsicherheitsbeurteilungen ein Verfahren nach dem Grundsatz „Ein Stoff, eine Bewertung“ einzuführen. Hierzu möchte sie bestmöglich das Fachwissen der einschlägigen EU-Agenturen nutzen und straffen, die Beurteilungsmodalitäten vereinfachen und die Kohärenz der Sicherheitsbeurteilungen in allen Rechtsvorschriften verbessern.
  3. Überarbeitung der Richtlinie 2009/148/EG über den Schutz der Arbeitnehmer gegen Gefährdungen durch Asbest am Arbeitsplatz
  4. Die Folgenabschätzung im Zusammenhang mit der Überarbeitung der Richtlinie 98/34/EG über den Schutz der Arbeitnehmer vor Gefährdungen durch chemische Arbeitsstoffe: Durch die Aktualisierung sollen die Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen verbessert werden, indem verbindliche Grenzwerte für Blei und Diisocyanate festgelegt und überprüft werden.

Des Weiteren zu nennen wären Konsultationen zur Überarbeitung der Verordnung (EG) Nr. 1223/2009 über kosmetische Mittel, zur Richtlinie 2011/EU zur Beschränkung der Verwendung bestimmter gefährlicher Stoffe in Elektro- und Elektronikgeräten (RoHS-Richtlinie), zu einer Ökodesign-Verordnung für nachhaltige Produkte sowie zur Bauprodukteverordnung (EU 2019/1020 sowie EU 305/2011).

Nicht nur hieran wird einmal mehr deutlich, dass der Green Deal nicht einfach ein klima- oder umweltpolitisches Programm ist. Es geht vielmehr um einen tiefgreifenden Umbau der europäischen Wirtschaft, der alle Bereiche unseres Wirtschafts- und Sozialsystems betrifft. Nicht nur, aber auch an der Chemikalienstrategie wird der Zusammenhang zwischen globaler Wettbewerbsfähigkeit und der Entwicklung von Schlüsseltechnologien des 21. Jahrhunderts einerseits und den Zielen der Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung andererseits besonders deutlich. Dabei gilt es, soziale Aspekte und damit vor allem den Menschen, seine Sicherheit und Gesundheit, seine Qualifikation und vor allem auch seine soziale Sicherheit nicht aus dem Blickfeld zu verlieren.