Schwere Arbeitsunfälle im Handel und in der Warenlogistik
Die gesundheitlichen Folgen schwerer Arbeitsunfälle, die zu Rentenleistungen der gesetzlichen Unfallversicherung führen, sind für die Betroffenen mit erheblichem Leid und wesentlichen Einschränkungen im Alltag verbunden. Diese zu verhindern steht daher in besonderem Fokus der Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik (BGHW). Um welche Unfälle handelt es sich und was kann man dagegen tun?
Einleitung
Im Sinne des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) und der weltweiten Vision Zero ist es Aufgabe der Unfallversicherungsträger, insbesondere den tödlichen und schweren Arbeitsunfällen mit allen geeigneten Mitteln entgegenzuwirken.[1] [2]
Die weltweite Kampagne zur Vision Zero hat zum Ziel, Arbeits- und Lebenswelten so zu gestalten, dass tödliche und schwere Unfälle perspektivisch vermieden werden. Grundmaxime ist unter anderem, dass Menschen Fehler machen, diese aber nicht zum Verlust des Lebens oder zu schweren Verletzungen führen dürfen.
Eine auf dem SGB VII und der Vision Zero aufbauende Präventionsarbeit sollte daher das Unfallgeschehen auswerten und die hieraus gewonnenen Erkenntnisse nutzen, um zielgerichtete Präventionsangebote zu entwickeln und die Präventionsaktivitäten zu steuern.
Erkenntnisse zu tödlichen Arbeitsunfällen im Handel und in der Warenlogistik wurden bereits 2020 veröffentlicht.[3] In Ergänzung werden hier die Ermittlungsergebnisse bezüglich der schweren Arbeitsunfälle, das heißt der Arbeitsunfälle mit Rentenleistungen, vorgestellt.
Bei der BGHW sind etwa 380.000 Unternehmen mit etwa 4,3 Millionen Menschen versichert. Im Jahr 2021 wurden rund 1.700 neue Rentenfälle registriert, davon etwa 1.300 Renten für Arbeitsunfälle im engeren Sinne und knapp 400 Renten im Zusammenhang mit Wegeunfällen.
Zeitliche Entwicklung der Rentenfälle
Die zeitliche Entwicklung der neuen Rentenfälle bei der BGHW seit 1960 ist in Abbildung 1 als die auf 1.000 Vollarbeitende normierte Häufigkeit grafisch dargestellt. Die Grafik zeigt die neuen Rentenfälle im engeren Sinne, das heißt Arbeitsunfälle ohne Berücksichtigung der Wegeunfälle.
Der Verlauf der neuen Rentenfälle in Abbildung 1 ist über den gesamten Zeitraum ab 1960 tendenziell abnehmend. Während um 1960 etwa zwei von 1.000 Vollarbeitenden so schwer verunfallt sind, dass eine Rentenleistung gezahlt worden ist, sind es im Jahr 2020 nur noch 0,3 von 1.000 Vollarbeitenden. Über den Zeitraum von 1960 bis 2020 wurde somit das Risiko, schwer zu verunfallen, um etwa 85 Prozent reduziert. Diese Abnahme der Unfallhäufigkeit über die Zeitspanne von 1960 bis 2020 um etwa 85 Prozent entspricht einer durchschnittlichen Abnahme der Unfallhäufigkeit je Dekade von etwa 30 Prozent.
In Abbildung 2 ist die für die festgestellte mittlere Abnahme der Unfallhäufigkeit von 30 Prozent je Dekade errechnete exponentielle Regressionskurve in Rot eingezeichnet. Diese bildet den Verlauf der neuen Rentenfälle je 1.000 Vollarbeitende für den Zeitraum von 1960 bis 2020 mit einem errechneten Bestimmtheitsmaß von R2 = 0,95 sehr gut ab.
Eine Vorhersage der neuen Rentenfälle für die Zukunft ist daraus aber nicht unmittelbar ableitbar. Anhand der Daten der vergangenen Jahrzehnte kann die zukünftige Entwicklung jedoch zumindest prognostiziert beziehungsweise geschätzt werden – immer unter der Voraussetzung, dass keine umwälzenden technischen und gesellschaftlichen Änderungen stattfinden. Unter diesen Voraussetzungen lassen die dargestellten Daten den Schluss zu, dass die neuen Rentenfälle wohl weiter zurückgehen werden und dass letztlich eine Welt ohne Arbeitsunfälle mit Rentenleistungen im Handel und in der Warenlogistik im Sinne der Vision Zero der Internationalen Vereinigung für Soziale Sicherheit (IVSS) durchaus erreicht werden kann.
Ziel der BGHW ist es, den Rückgang der Unfallhäufigkeit der Rentenfälle von etwa 30 Prozent je Dekade auch in der Zukunft zu halten oder besser – zu übertreffen.
Methodik
Um die Erkenntnisse über schwere Arbeitsunfälle für die Präventionsarbeit der BGHW zu vertiefen, wurden im Zeitraum vom 1. August 2017 bis zum 31. August 2018 ausführliche systematische Untersuchungen der neuen Rentenfälle der Unfallarten 1 bis 4 durchgeführt, das heißt ohne Wegeunfälle der Unfallarten 5 und 6 (siehe hierzu Tabelle 1), die in der Zeit vom 1. Juli 2017 bis zum 31. Juli 2018 neu beschieden worden sind. Zu den Rentenfällen zählten auch die Fälle, die mit einer einmaligen Gesamtvergütung abgegolten worden sind.[4] Die hierbei gewonnenen Ermittlungsergebnisse der Einzelfälle wurden durch die Zuordnung von Unfallmerkmalen verschlüsselt und statistisch ausgewertet. Insgesamt wurden 1.053 Arbeitsunfälle durch standardisierte Unfalluntersuchungen analysiert.
Alle gesammelten Informationen wurden in einer Datenbank zusammengeführt und ausgewertet. Bei den Auswertungen wurde insbesondere nach wiederkehrenden Mustern der Ursachen der Arbeitsunfälle mit Rentenleistungen gesucht. Diese Muster sind häufig auftretende Kombinationen der Schlüsselausprägungen. So bildet beispielsweise der Absturz von einer Leiter eine andere Schlüsselkombination ab als der Absturz von einer Rampe oder von einem Gerüst. Ähnliche Schlüsselausprägungen wurden zu Gruppen zusammengefasst.
Bei der Zusammenstellung der Gruppen wurde berücksichtigt, dass auf Basis des jeweils spezifischen Unfallgeschehens passgenaue Präventionsmaßnahmen zugeordnet werden sollen. Maßnahmen sind in aller Regel umso wirksamer, je spezifischer sie sind. Ferner wurden die bereits bei der Analyse der tödlichen Arbeitsunfälle gefundenen Kategorien und Gruppen mitberücksichtigt, um eine direkte Vergleichbarkeit zwischen den Auswertungen der tödlichen und schweren Arbeitsunfälle herstellen zu können.
Die Datensätze der verschiedenen Gruppen wurden BGHW-intern einzelnen Arbeitsgruppen zur spezifischen Auswertung übergeben. Die Arbeitsgruppen haben auf Basis der Daten typische Unfallszenarien herausgearbeitet und Präventionsmaßnahmen vorgeschlagen.
Ergebnisse
Unfallschwerpunkte
Nach Auswertung der 1.053 untersuchten Arbeitsunfälle mit Rentenleistungen konnten die nachfolgenden sieben Unfallschwerpunkte ermittelt werden, die etwa 85 Prozent aller analysierten Arbeitsunfälle mit Rentenleistungen ausmachen.
Stürze und Abstürze
Dominierender Unfallschwerpunkt bei den untersuchten Arbeitsunfällen mit Rentenleistungen waren Stürze in Form von
- Stolper-, Rutsch- und Sturzunfällen (SRS), worin allgemein folgende Unfälle zusammengefasst werden:
- Stürze auf Verkehrswegen und ebenen Flächen, meist verursacht durch Stolpern, Rutschen und Fehltreten
- Stürze auf Treppen und
- Abstürze aus einer Höhe von weniger als einem Meter Höhe
- Abstürze aus einer Höhe von mindestens einem Meter Höhe
Insgesamt entfielen 628 der 1.053 untersuchten Arbeitsunfälle auf diese Szenarien, das sind knapp 60 Prozent aller Arbeitsunfälle mit Rentenleistungen. Etwa 70 Prozent davon wiederum entfielen auf Stolpern, Rutschen und Fehltreten.
Die Auswertungen der BGHW ergaben bezüglich des Unfallortes, dass sich etwa 60 Prozent der Sturzunfälle auf Verkehrswegen und ebenen Flächen, inklusive Treppen, ereigneten und etwa 20 Prozent auf Leitern und Aufstiegshilfen. Ungefähr weitere zehn Prozent der Personen verunfallten im Zusammenhang mit der Benutzung von Fahrzeugen.
Auf Abstürze aus einer Höhe von mindestens einem Meter entfielen 145 Arbeitsunfälle mit Rentenleistungen, was knapp 15 Prozent aller Arbeitsunfälle mit Rentenleistungen entspricht. Knapp die Hälfte dieser Abstürze erfolgte von Leitern, etwa ein Drittel von Fahrzeugen, gefolgt von höherliegenden Verkehrsflächen, Laderampen und Dächern.
Unfälle mit Flurförderzeugen
Unfälle mit Flurförderzeugen ereigneten sich in 96 der 1.053 untersuchten Arbeitsunfälle mit Rentenleistungen, das heißt in neun Prozent der Fälle. Das Gros der Unfälle, nämlich 66 von 96 Unfällen, ereignete sich beim Fahren von Gegengewichts-, Schubmast- und Kommissionierstaplern. Weitere 25 Arbeitsunfälle ereigneten sich mit Mitgänger-Flurförderzeugen und Handhubwagen. Hauptursache der Unfälle war das Anfahren von Personen, gefolgt von um- oder herabfallenden Lasten.
Unfälle im Straßenverkehr
63 der 1.053 Unfälle waren typische Straßenverkehrsunfälle mit Kraftfahrzeugen und Fahrrädern oder als Fußgänger oder Fußgängerin im Zusammenhang mit anderen Fahrzeugen. Diese Unfälle machen somit etwa sechs Prozent der Arbeitsunfälle mit Rentenleistungen aus. Wesentliche Auslöser dabei waren visuelle oder motorische Ablenkungen beispielsweise durch Smartphones, zu hohe Geschwindigkeiten oder zu dichtes Auffahren.
Unfälle bei Bau, Montage und Instandhaltung
51 Unfälle ereigneten sich im Zusammenhang mit Bau-, Montage- und Instandhaltungsarbeiten. Aufgrund der Verschiedenartigkeit der Unfallhergänge, unterschiedlicher Tätigkeiten der Verunfallten zum Unfallzeitpunkt sowie der am Arbeitsunfall beteiligten Betriebseinrichtungen kann keine Darstellung von wenigen, repräsentativen Unfallszenarien erstellt werden.
Unfälle beim Be- und Entladen
Im Bereich der Be- und Entladung von Fahrzeugen unterschiedlicher Art ereigneten sich 40 Unfälle. Dabei wurden die Verunfallten vornehmlich von unkontrolliert bewegter Ladung getroffen.
Unfälle durch Erfasstwerden von Fahrzeugen
Zehn Personen wurden auf dem Betriebsgelände von Fahrzeugen – ohne Flurförderzeuge – erfasst und so schwer verletzt, dass ein dauerhafter Schaden mit Rentenleistungen entstanden ist.
Sonstige Unfälle
Die verbliebenen 175 Unfälle konnten keinem der vorgenannten sieben Schwerpunkte zugeordnet werden. Für diese Unfälle konnte außerdem keine weitere spezifische Gemeinsamkeit gefunden werden.
In Abbildung 3 ist die prozentuale Verteilung der sieben herausgearbeiteten Schwerpunkte sowie sonstiger Unfälle grafisch dargestellt.
Nach Abbildung 3 entfallen auf den Bereich Stolpern, Rutschen und Stürzen inklusive der Abstürze nahezu 60 Prozent aller neuen Rentenfälle. An zweiter und dritter Stelle folgen Arbeitsunfälle mit Flurförderzeugen und Unfälle im Straßenverkehr.
Unfallfolgen
Etwa 80 Prozent der untersuchten Fälle haben eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 Prozent oder weniger, weitere 13 Prozent liegen im Bereich von über 20 bis zu 30 Prozent.
Die drei Verletzungsarten Frakturen, Zerreißungen und Prellungen machen mit 59, 19 und sieben Prozent in Summe 85 Prozent aller untersuchten Arbeitsunfälle mit Rentenleistungen aus.
Verletzte Körperteile sind vor allem die Extremitäten, wobei die Füße mit 19 Prozent am stärksten betroffen sind, gefolgt von Oberarm/Schulter sowie von Unterarm und Unterschenkel mit jeweils etwa 15 Prozent der Fälle. Auf Hände und Oberschenkel entfallen jeweils etwa zehn Prozent.
Alters- und Geschlechterverteilung
Die Altersverteilung der Verunfallten ist in Abbildung 4 für die Altersklassen bis 19 Jahre, 20 bis 29 Jahre, 30 bis 39 Jahre, 40 bis 49 Jahre, 50 bis 59 Jahre sowie 60 Jahre und älter grafisch dargestellt (linke Säulen). Demnach steigt der prozentuale Anteil mit der Altersklasse von knapp ein Prozent bei den bis 19-Jährigen bis zu knapp 40 Prozent bei den 50-59-Jährigen kontinuierlich an. Die 60-Jährigen und Älteren machen etwa 20 Prozent der Neurentenfälle aus.
In Abbildung 4 ist außerdem die Altersverteilung der Erwerbstätigen des Jahres 2018 in Deutschland nach den Angaben des Statistischen Bundesamtes dargestellt.[5] Der Vergleich der Säulenpaare zeigt, dass bei den drei jüngeren Altersklassen der Anteil der Erwerbstätigen höher ist als der Anteil der Verunfallten. Bei den 40- bis 49-Jährigen sind beide Säulen in etwa gleich hoch. In den beiden höchsten Altersklassen ist der Anteil der Verunfallten hingegen deutlich höher als der Anteil der Erwerbstätigen in den jeweiligen Altersklassen.
Die errechneten Verhältnisse der jeweiligen Anteile von Verunfallten zu den Erwerbstätigen für die einzelnen Altersklassen sind in Tabelle 2 zusammengefasst. Nach Tabelle 2 nimmt dieses Verhältnis mit zunehmender Altersklasse zu. Das bedeutet, das Risiko für Arbeitsunfälle mit Rentenleistungen steigt mit zunehmendem Alter.
Die Verletzungsarten und die verletzten Körperteile sind für alle Altersgruppen ähnlich, das heißt, altersspezifische Verletzungsarten oder altersspezifisch bevorzugt verletzte Körperteile sind nicht erkennbar.
Einschränkend ist zu ergänzen, dass die Zahlen des Statistischen Bundesamtes nicht primär die Altersverteilung der Erwerbstätigen im Handel und in der Warenlogistik wiedergeben, sondern die Altersverteilung aller Erwerbstätigen in Deutschland. Hinweise für eine abweichende Altersverteilung im Handel und in der Warenlogistik aufgrund branchenspezifischer Gegebenheiten sind allerdings nicht bekannt.[6][7] Es ist insofern davon auszugehen, dass die Altersverteilung der im Handel und in der Warenlogistik Beschäftigten derjenigen aller Erwerbstätigen entspricht beziehungsweise nicht deutlich davon abweicht.
Die Auswertung der Geschlechterverteilung hat einen Anteil von 36 Prozent für Frauen und von 64 Prozent für Männer an den untersuchten Arbeitsunfällen mit Rentenleistungen ergeben. An anderer Stelle wurde bereits errechnet, dass für den Handel und in der Warenlogistik eine anteilige äquivalente Vollzeittätigkeit von etwa 40:60 für Frauen zu Männern abgeschätzt werden kann.[8] Insofern ist weder für Männer noch für Frauen ein signifikant höheres oder geringeres Risiko für Arbeitsunfälle mit Rentenleistungen ableitbar.
Gewerbezweige
Die zehn Gewerbezweige, die die größten Anteile an den neuen Rentenfällen im oben genannten Untersuchungszeitraum hatten, sind in Abbildung 5 grafisch dargestellt. Der Lebensmittelhandel ist mit einem Anteil von 19 Prozent an den Rentenfällen der Gewerbezweig mit den meisten Rentenfällen im Bereich der BGHW. Jeder fünfte Rentenfall ereignete sich im Lebensmittelhandel. Dem Lebensmittelhandel folgen Unternehmen aus dem Bereich Spedition, Umschlag und Lagerei mit etwa elf Prozent an der Gesamtzahl der neuen Rentenfälle. Insgesamt ereigneten sich etwa zwei Drittel der neuen Rentenfälle in den in Abbildung 5 genannten zehn Gewerbezweigen.
Die absolute Zahl der Fälle sagt allerdings nichts über das relative Risiko für die Beschäftigten im jeweiligen Gewerbezweig aus. Hierzu sind die Unfallzahlen ins Verhältnis zu den Beschäftigten in den jeweiligen Gewerbezweigen zu setzen. Die Rentenfälle je 1.000 Vollarbeitende für die zehn in Abbildung 5 dargestellten Gewerbezweige mit den häufigsten Rentenfällen sind in Abbildung 6 grafisch dargestellt. Demnach liegt für dieses Kollektiv das höchste Risiko für einen Arbeitsunfall mit Rentenleistungen im Bereich des Zeitungs- und Zeitschriftenhandels mit Zustellung mit einem Wert von 1,3 Rentenfällen pro 1.000 Vollarbeitenden. Dieser Wert und damit das Risiko schwerer Arbeitsunfälle lag etwa viermal höher als der Durchschnitt aller Gewerbezweige bei der BGHW mit einem Wert von 0,31 Rentenfällen je 1.000 Vollarbeitenden.[9] Im Vergleich hierzu lag der Lebensmittelhandel mit einem Wert von etwa 0,2 Rentenfällen pro 1.000 Vollarbeitenden etwa 30 Prozent unter dem Durchschnitt aller Gewerbezweige bei der BGHW.
Diskussion
Wesentliche Schwerpunkte im Unfallgeschehen der untersuchten Arbeitsunfälle mit Rentenleistungen bei der BGHW sind SRS-Unfälle und Abstürze, gefolgt von Arbeitsunfällen mit Flurförderzeugen und Unfällen im Straßenverkehr. Diese vier Unfallszenarien machen drei Viertel des Unfallgeschehens bei den Arbeitsunfällen mit Rentenleistungen der BGHW aus.
Die vorgenannten Schwerpunkte spielten mit Ausnahme der SRS-Unfälle auch bereits bei der Analyse der tödlichen Arbeitsunfälle eine maßgebliche Rolle.[10] Die Häufigkeitsverteilung der tödlichen Arbeitsunfälle und der Arbeitsunfälle mit Rentenleistungen ist in Abbildung 7 grafisch gegenübergestellt. Diese Darstellung verdeutlicht die Fokussierung des Unfallgeschehens auf wenige Schwerpunkte. So entfallen 60 Prozent der tödlichen Arbeitsunfälle auf Straßenverkehrsunfälle und Abstürze sowie 60 Prozent der Arbeitsunfälle mit Rentenleistungen auf SRS-Unfälle und Abstürze.
Die Verunfallten – sowohl die tödlich als auch die schwer Verunfallten – sind zudem eher „älter“ und haben durchaus Berufserfahrung, sind also keine Berufsanfängerinnen und Berufsanfänger. Insbesondere bei den SRS-Unfällen spielen bei den älteren Verunfallten auch die insgesamt abnehmenden körperlichen Fähigkeiten eine Rolle. Reaktionsfähigkeit, Beweglichkeit und Muskulatur, aber auch die Qualität und Geschwindigkeit von Heilprozessen nach Verletzungen verringern sich.[11][12] Damit steigen bei Älteren sowohl das Unfallrisiko als auch das Risiko bleibender Einschränkungen. Dieser Zusammenhang wurde auch in Studien außerhalb der beruflichen Tätigkeiten untersucht und festgestellt.[13]
Um eine auf die tödlichen Arbeitsunfälle und die Arbeitsunfälle mit Rentenleistungen spezifizierte, zielgerichtete und effektive Präventionsstrategie für die BGHW zu entwickeln, bedarf es somit der Fokussierung auf nur wenige Schwerpunkte. In Kombination beider Erhebungen sind die nachfolgenden präventiven Maßnahmen für das Gros der tödlichen Arbeitsunfälle sowie der Arbeitsunfälle mit Rentenleistungen zielführend:
Die Verbesserung der Verkehrssicherheit durch den Einsatz von Fahrassistenzsystemen in den verwendeten Fahrzeugen, durch verbesserte organisatorische Rahmenbedingungen für weniger Ablenkung beim Fahren und durch die Schaffung eines betrieblichen Bewusstseins für Verkehrssicherheit. Dies betrifft:
- etwa 40 Prozent der tödlichen Arbeitsunfälle
- etwa 5 Prozent der Arbeitsunfälle mit Rentenleistungen
Die Trennung von innerbetrieblichen Verkehrswegen und Verkehrsbereichen für kraftbetriebene Fahrzeuge und Fußgängerinnen und Fußgänger beziehungsweise die Nutzung technischer Maßnahmen wie die Verwendung von Transpondern zur Vermeidung der Kollision zwischen Beschäftigten und Fahrzeugen. Dies betrifft:
- etwa 15 Prozent der tödlichen Arbeitsunfälle
- etwa 10 Prozent der Arbeitsunfälle mit Rentenleistungen
Die Sicherung höher gelegener Arbeitsbereiche und Dächer gegen Abstürze, die Vermeidung der Verwendung von Leitern für höher gelegene Arbeiten und das Schaffen eines betrieblichen Gefahrenbewusstseins für derartige Arbeiten. Dies betrifft:
- etwa 15 Prozent der tödlichen Arbeitsunfälle
- etwa 10 Prozent der Arbeitsunfälle mit Rentenleistungen
Ein deutlicher Anteil der SRS-Unfälle ist durch herumliegende Gegenstände und verunreinigte Böden verursacht. Es steht das Freihalten und Reinigen der Verkehrswege und Bewegungsflächen, also das klassische Maßnahmenpaket „Ordnung und Sauberkeit“, im Fokus. Dies betrifft:
- etwa 25 Prozent der Arbeitsunfälle mit Rentenleistungen
Mit den genannten vier Schwerpunkten können die wesentlichen Unfallursachen von etwa 70 Prozent der tödlichen Arbeitsunfälle und etwa 50 Prozent der Arbeitsunfälle mit Rentenleistungen in den Unternehmen des Handels und der Warenlogistik vermieden werden.
Wie kann dies unter den oben genannten Rahmenbedingungen erreicht werden, welche Maßnahmen sind sinnvoll und zielführend?
Im ersten Schritt ist es wichtig, bevorzugt diejenigen Betriebe und Branchen zu überwachen, die ein höheres Risiko für tödliche und schwere Arbeitsunfälle haben. Hierzu wurde bei der BGHW eine Kennzahl entwickelt, die das Unfall- und Berufskrankheitengeschehen sowohl auf der Ebene der Gewerbezweige als auch auf der Ebene der Unternehmen und Betriebsstätten berücksichtigt.[14] Dabei werden tödliche Arbeitsunfälle höher gewichtet als Arbeitsunfälle mit Rentenleistungen und diese wiederum höher als meldepflichtige Arbeitsunfälle. Diese für jede einzelne Betriebsstätte errechnete Kennzahl bestimmt die Häufigkeit der erforderlichen Betriebskontakte. Hierdurch soll die Effizienz der Betriebskontakte gesteigert und auf das tödliche und schwere Unfall- und Berufskrankheitengeschehen fokussiert werden.
Bei diesen Betriebskontakten muss der Schwerpunkt dann darauf liegen, die wesentlichen der BGHW bekannten Gefahren anzusprechen und die Unternehmen diesbezüglich zu sensibilisieren. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass diese der BGHW bekannten Gefahren in den Unternehmen aufgrund fehlender Erfahrungen eher nicht bekannt sind. Ein Zahlenbeispiel soll dies verdeutlichen. Bei etwa 30 tödlichen Arbeitsunfällen im engeren Sinn pro Jahr und etwa 380.000 Mitgliedsunternehmen ereignet sich etwa ein tödlicher Arbeitsunfall in jedem 13.000. Unternehmen – oder unter Annahme einer Gleichverteilung: In einem Mitgliedsunternehmen der BGHW ereignet sich etwa alle 13.000 Jahre ein tödlicher Arbeitsunfall. Das „Erfahrungs“-Wissen um die Gefahren tödlicher Arbeitsunfälle ist somit in den Mitgliedsunternehmen nicht vorhanden. Gleiches gilt prinzipiell auch für Arbeitsunfälle mit Rentenleistungen. Dies betrifft insbesondere die etwa 325.000 Mitgliedsunternehmen, die weniger als zehn Personen beschäftigen.
Diese Sachlage bestätigen die im Rahmen der Untersuchungen zu den tödlichen Arbeitsunfällen gemachten Überprüfungen der Gefährdungsbeurteilungen vor Ort in den Betriebsstätten. Die jeweiligen Arbeitsbedingungen, die zu den tödlichen Arbeitsunfällen geführt haben, waren in den Gefährdungsbeurteilungen nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt beziehungsweise erfasst. Nicht deshalb, weil sie bewusst ausgeblendet worden sind, sondern vielmehr deshalb, weil die jeweiligen Gefahren nicht als solche gesehen worden sind.
Was bedeutet dieses Wissen für die Überwachung und insbesondere für die Beratung vor Ort? Die Aufsichtspersonen müssen die betrieblich Verantwortlichen auf die jeweiligen, der BGHW bekannten Gefahren für Leib und Leben der Beschäftigten hinweisen, da sie selbst diese so nicht sehen. Sie müssen die betrieblich Verantwortlichen davon überzeugen, die erforderlichen Maßnahmen zu veranlassen und die Beschäftigten auf die besonderen Gefahren hinzuweisen. In vielen Fällen kann dies nicht einfach angeordnet werden, sondern bedarf der Überzeugungsarbeit, dass die genannten Gefahren für die Sicherheit und die Gesundheit der Beschäftigten tatsächlich von besonderer Bedeutung sind.
Hierzu sind zur Unterstützung und Bekräftigung des Gesprächs vor Ort geeignete Hilfen erforderlich – sowohl um die Nachdrücklichkeit der Themen zu verdeutlichen als auch um weitere betriebliche Akteure und Akteurinnen zu erreichen und somit ein flächendeckendes Wissen zu schaffen.
Zur Unterstützung der Überwachung und Beratung vor Ort steht den Aufsichtspersonen der BGHW für die oben genannten Schwerpunkte eine Vielzahl weiterführender medialer Hilfen zur Verfügung. Diese sind auch digital im Kompendium Arbeitsschutz der BGHW unter https://kompendium.bghw.de abrufbar und können vor Ort auf dem für die Überwachung und Beratung zur Verfügung stehenden Tablet bei Gesprächen unmittelbar gezeigt und zugesandt werden.
Das mediale Angebot und die Kommunikation müssen neben der reinen Wissensvermittlung verstärkt auch dazu führen, die betrieblichen Akteurinnen und Akteure zu sensibilisieren, sich dieser Themen in der betrieblichen Praxis anzunehmen. Hierzu sind dann eher niederschwellige Angebote erforderlich. Dies bedeutet, nicht allein auf Korrektheit und Fachlichkeit zu achten, sondern auch die Wirkung auf die Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner zu berücksichtigen. Das Angebot muss zielgruppenspezifisch die betrieblichen Akteurinnen und Akteure ansprechen, ihr Interesse für das Thema wecken und sie dazu bewegen, sich damit auseinanderzusetzen. Hierfür müssen beispielsweise auch die gewonnenen Erkenntnisse, dass das Risiko schwerer oder tödlicher Arbeitsunfälle mit zunehmendem Alter ansteigt, Berücksichtigung finden.
In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig, sich auf das Wesentliche zu beschränken. Insbesondere in Klein- und Kleinstunternehmen muss bei ersten Kontakten die Fokussierung auf „wesentliche“ Aspekte von Sicherheit und Gesundheit gelegt werden. In diesen Fällen führen vielleicht nicht 30 Vorschläge zur Verbesserung der Sicherheit und Gesundheit zum gewünschten Erfolg. Aber vielleicht schaffen es die wichtigsten drei Vorschläge für die wesentlichsten Maßnahmen, dass die Verantwortlichen im Nachgang zur Begehung und zum Gespräch vor Ort von sich heraus agieren und sich der Themen von Sicherheit und Gesundheit verstärkt und zielgerichtet annehmen.
Natürlich müssen die rechtlich verankerten Vorgaben in den Unternehmen umgesetzt werden. Es geht auch nicht darum, das Aufsichtshandeln auf die Beratung und die Überzeugung der in den Unternehmen Verantwortlichen zu beschränken. Ganz im Gegenteil: Die Überwachung mit der erforderlichen Durchsetzung rechtlich festgelegter Mindeststandards steht nicht zur Diskussion und ist Teil des Agierens der Aufsichtspersonen vor Ort. Die Überlegungen beziehen sich daher eher auf die Frage, wie die Unfallversicherungsträger und die Aufsichtspersonen es schaffen, ihre Themen so zu platzieren, dass diese auch zu Themen des Unternehmens werden, dass in den Unternehmen eine Kultur der Prävention eingeführt und gelebt wird. Hierzu ist sicherlich mehr als reines Anordnen erforderlich. Die betrieblich Verantwortlichen sollen nicht nur „machen“, sondern auch verstehen, warum sie es „machen“, und von diesem Handeln überzeugt sein.
Neben der Überwachung, Beratung und dem korrespondierenden medialen Angebot steht eine Vielzahl weiterer Möglichkeiten zur Sensibilisierung der in den Unternehmen Verantwortlichen und Beschäftigten zur Verfügung, wie beispielsweise Qualifizierungsangebote, finanzielle Anreize, Sicherheitstrainings. Diese zielgruppenspezifischen Angebote und das wiederkehrende Herausstellen der wesentlichen Gefahren für die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten im Handel und in der Warenlogistik tragen dazu bei, dass die dargestellten Gefahren tödlicher und schwerer Arbeitsunfälle bekannt werden und vermehrt in das Bewusstsein aller betrieblichen Akteurinnen und Akteure in den Unternehmen gelangen.
Zusammenfassung
Kernaufgabe der Präventionsarbeit in der gesetzlichen Unfallversicherung ist es, mit allen geeigneten Mitteln für die Verhütung von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren zu sorgen. Im Sinne der Vision Zero liegt der Fokus dabei insbesondere auf der Verhütung tödlicher und schwerer Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. Hierzu ist das Wissen über die Entstehung der Arbeitsunfälle und der Berufskrankheiten essenziell. Nur dieses Wissen erlaubt es den Unfallversicherungsträgern, spezifisch und zielgerichtet den wesentlichen Gefahren für Leib und Leben entgegenzuwirken.
Für diesen zentralen gesetzlichen Auftrag stehen alle geeigneten Mittel zur Verfügung. Die Überwachung ist eine davon – diese allein wird aber das angestrebte Ziel der Vision Zero nicht erreichen können. Ergänzend müssen insbesondere die betrieblichen Akteurinnen und Akteure für die wesentlichen Gefahren für Leib und Leben sensibilisiert werden. Sie müssen diese bei ihrem betrieblichen Handeln berücksichtigen und eine Kultur der Prävention im Sinne der Vision Zero etablieren. Wenn dies gelingt, ist eine Arbeitswelt ohne tödliche und schwere Arbeitsunfälle keine Fiktion, sondern eine erreichbare und überaus wünschenswerte zukünftige Realität.