Status quo – Schwerpunktsetzung im Rahmen der Vision Zero
Das Projekt Schwerpunktsetzung im Rahmen der Vision Zero identifizierte zentrale Schwerpunkte für die trägerübergreifende Präventionsarbeit. Im Beitrag werden die Auswirkungen des Projektes und die Entwicklung der Zahlen zu den einzelnen Schwerpunkten seit dem Start des Projekts vorgestellt.
Rückblick auf das Projekt
Zur Verwirklichung der Vision Zero über alle gewerblichen Berufsgenossenschaften und Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand hinweg ist eine Konkretisierung der Leitidee notwendig. Dazu wurde das Projekt „Schwerpunktsetzung nach den Kriterien der Vision Zero“[1] im Jahr 2015 in die Wege geleitet. Ziel des mehrjährigen Projekts war die Bereitstellung eines priorisierten Gesamtüberblicks über schwere und tödliche Unfälle, Wegeunfälle und Berufskrankheiten in Deutschland unter Anwendung einer einheitlichen Methodik, die sowohl auf der Auswertung empirischer Daten und der Erstellung von Ranglisten als auch auf fachlicher Expertise fußt. Die statistischen Analysen basierten auf den bei der DGUV geführten Statistiken des Jahres 2014.[2] In zweistufigen Gesprächen mit Expertinnen und Experten wurden diese um eine qualitative Bewertung ergänzt und anschließend die in Tabelle 1 gezeigten Fallgruppen und Schwerpunkte für alle drei Bereiche herausgearbeitet.[3]
Übersicht über exemplarische Auswirkungen des Projektes
Die Ergebnisse des Projektes dienten den Unfallversicherungsträgern als Basis zur Ableitung zahlreicher konkreter Maßnahmen und Ziele für ihre Präventionsarbeit und haben die übergeordnete Strategie der Vision Zero der Unfallversicherung trägerübergreifend unterstützt. Vier der identifizierten Fallgruppen wurden in die Präventionskampagne kommmitmensch aufgenommen. Hierbei handelt es sich um die Fallgruppen „Verkehrsunfälle mit Fahrzeugen“ und „Absturzunfälle“ im Bereich der Allgemeinen Unfallversicherung (AUV) und um den Schulsport, vertreten durch die Fallgruppen „Ballspielunfälle“, „Turnunfälle“ und „Schwimmunfälle“ im Bereich der Schülerunfallversicherung (SUV). Ebenso fanden die Ergebnisse des Projektes Eingang in die von der Mitgliederversammlung der DGUV im Jahr 2018 verabschiedete Position der gesetzlichen Unfallversicherung zur Prävention und in die Lerninhalte zur Ausbildung der Aufsichtspersonen sowie in Leitfäden für Betriebsbesichtigungen. Eine Vielzahl von Informationsmaterialien wurde angepasst oder neu erstellt. Im Kontext der Präventionsleistung „Anreizsysteme“ kam es zur gezielten Förderung von Betrieben, um technische Maßnahmen und Nachrüstung von Maschinen, Transportmitteln und Anlagen zu unterstützen.
Die Beschäftigung mit den Fallgruppen „Verkehrsunfälle mit Fahrzeugen“ und „Schulwegunfälle“ führte zu einer Stärkung des Themas Verkehrssicherheit in der Unfallversicherung. Es wurde ein neues Sachgebiet Verkehrssicherheit eingeführt. Durch das Sachgebiet Verkehrssicherheit in Bildungseinrichtungen wurde unter anderem ein neues Forschungsprojekt zur Verkehrssicherheit in Bildungseinrichtungen initiiert.
Im Kontext der Fallgruppe „Absturzunfälle“ verstärkten die Unfallversicherungsträger unter anderem ihre technische Beratung und Qualifizierung der Aufsichtspersonen und Mitgliedsunternehmen zum Thema Absturzsicherung, Schutzausrüstung und Rettungsausrüstung. Auch wurden verschiedene Gesprächsleitfäden für die Aufsichtspersonen angepasst.
Auf Basis der Fallgruppe „Turnunfälle“ wurden vom Sachgebiet Schulen der DGUV die entsprechenden DGUV Informationen komplett überarbeitet und für das Thema Schwimmen lernen und lehren in der Grundschule eine DGUV Information entwickelt.
Auch für die Fallgruppe „Ballspiele“ wird zurzeit im Rahmen der von der Kultusministerkonferenz (KMK) und der DGUV bundesweit umgesetzten Initiative „Sicherheit und Gesundheit im und durch Schulsport“ (SuGiS) ein Präventionskonzept entwickelt, womit das sichere Spielen von Ballsportarten im Schulsport gefördert werden soll. Die Umsetzung dieser Projektmaßnahme beginnt 2022.
In Bezug auf die Berufskrankheiten wurde eine Arbeitsgruppe zur Stärkung der Individualprävention ins Leben gerufen sowie eine generell stärkere Vernetzung von Präventionsmaßnahmen und Versicherungsleistungen initiiert.
Im nächsten Kapitel sollen nun die Fakten in Bezug auf die Entwicklung der ermittelten Schwerpunkte näher beleuchtet werden.
Aktuelle Entwicklungen zu den Fallgruppen
Arbeitsunfälle
Im Bereich der Allgemeinen Unfallversicherung, der sowohl Arbeits- als auch Wegeunfälle umfasst, wurden fünf Fallgruppen identifiziert, die die Basis der elf Schwerpunkte in diesem Bereich bildeten (Tabelle 1).
Die fünf Fallgruppen umfassen etwa 50 Prozent der neuen Unfallrenten[4][4] in der Allgemeinen Unfallversicherung. Die Entwicklung der Fallzahlen ist in Abbildung 1 wiedergegeben. Nimmt man das Berichtsjahr 2016 als Bezugspunkt, sind die neuen Unfallrenten in den fünf Fallgruppen um 7,5 Prozent zurückgegangen. Diese erfreuliche Entwicklung ist damit sogar stärker als bei den übrigen Unfällen außerhalb der Fallgruppen (–5,4 Prozent).
Die stärkste Abnahme ist bei den Unfällen durch sich bewegende Gegenstände zu konstatieren, während Unfälle mit Fahrzeugen auf Betriebsgeländen vom Umfang her in etwa auf dem gleichen Niveau verharren.
Die beiden Fallgruppen mit den höchsten Anteilen an den schweren Unfällen zeigen in der Tendenz einen Rückgang: Verkehrsunfälle mit Fahrzeugen um 5,8 Prozent, Absturzunfälle sogar um 7,2 Prozent.
Als ein Schwerpunkt innerhalb der Fallgruppe Verkehrsunfälle mit Fahrzeugen wurde der Kontrollverlust bei Fahrradfahrenden identifiziert. Die weiter bestehende Aktualität dieser Auswahl bestätigt sich in Abbildung 2: Die neuen Unfallrenten von Versicherten in Personenkraftwagen nehmen ab, die Fallzahlen der schwer verletzten versicherten Fahrradfahrer und Fahrradfahrerinnen steigen deutlich an: 2020 waren es innerhalb dieser Fallgruppe 827 neue Unfallrenten.
Dazu kommen noch Fahrerinnen und Fahrer der immer beliebteren E-Bikes und Pedelecs: Weitere 23 neue Unfallrenten wurden im Zusammenhang mit diesen in 2020 bewilligt. Hier ist in Zukunft mit einem weiteren Anstieg zu rechnen.
Schülerunfälle
Für die Schülerunfallversicherung wurden vier Fallgruppen und darauf basierend sieben Schwerpunkte abgeleitet (siehe Tabelle 1). Abbildung 3 zeigt die absolute Anzahl der neuen Schülerunfallrenten in den vier Fallgruppen für die Berichtsjahre 2016 bis 2020. Hierbei fällt auf, dass die Schulwegunfälle die mit Abstand größte Gruppe stellen, hier dominieren die Unfälle mit motorisierten Fahrzeugen, die einen Schwerpunkt innerhalb der Fallgruppe darstellen. An zweiter Stelle stehen die Ballspielunfälle. Deutlich seltener, dafür aber oft besonders schwer, sind die Schwimmunfälle.
Aufgrund der verhältnismäßig geringen Fallzahlen bei den neuen Schülerunfallrenten ist ein Vergleich der prozentualen Entwicklung der einzelnen Fallgruppen von Jahr zu Jahr schwer interpretierbar.
Es lässt sich über den betrachteten Zeitraum eine geringfügige Reduzierung des Anteils der neuen Rentenfälle aus den Fallgruppen beobachten. Wie Abbildung 4 zeigt, machten diese Unfälle im Jahr 2016 etwas mehr als 50 Prozent aller neuen Schülerunfallrenten aus, in den Folgejahren ging dieser Anteil dann leicht zurück.
Berufskrankheiten
Ausgangpunkt der Schwerpunktbildung im Bereich der Berufskrankheiten (BK) war ein auf die BK-Nummern angewendetes statistisches Rangordnungsverfahren, in dem die für die Prävention relevanten Variablen der Berufskrankheiten-Dokumentation (BK-DOK) gleich gewichtet berücksichtigt wurden, gefolgt von einer qualitativen Bewertung durch Expertinnen- und Expertenrunden. Im Bereich der Berufskrankheiten wurden vier Fallgruppen gebildet (vgl. Abbildung 5).
Die Berufskrankheiten der ersten beiden Fallgruppen waren mit Ausnahme der BK-Nummer 4201 (Rang 11) im Jahr 2014 unter den zehn relevantesten Berufskrankheiten. Die obstruktiven Atemwegserkrankungen (BK-Nummern 4301 und 4302) belegten damals wie auch im Jahr 2020 die ersten beiden Plätze der Rangliste: Die Anzahl der bestätigten Fälle ist vergleichsweise hoch; das mittlere Alter der versicherten Person zum Zeitpunkt der Bestätigung der Berufskrankheit sowie die Latenzzeit (Zeitraum zwischen Einwirkung und Erkrankung) sind eher niedrig, wodurch eine gute präventive Beeinflussbarkeit gegeben ist. Bei beiden Berufskrankheiten ist auch der Anteil der Fälle mit beruflicher Rehabilitation an allen Fällen mit einer Rehabilitation hoch, bei denen sich die versicherten Personen zusätzlich zu einer medizinischen Behandlung auch beruflich umorientieren müssen.
Bei Hauterkrankungen im Sinne der BK-Nummer 5101 liegen ähnliche Verhältnisse wie bei den obstruktiven Atemwegserkrankungen vor. Diese Berufskrankheit lag 2014 auf Platz 3 und wurde 2020 von BK-Nummer 1315 (Isocyanate) auf Platz 4 der für die Prävention relevanten Berufskrankheiten verdrängt.
Die BK-Nummer 4201 lag 2020 auf dem fünften Platz. Verantwortlich dafür war ein Anstieg der Gesamtkosten pro Fall und der Zahl der Todesfälle (von einem auf vier Fälle) gegenüber 2014. Beide Variablen sind ein Maß für die Schwere der Berufskrankheit.
Die BK-Nummer 5103 (Plattenepithelkarzinome oder multiple aktinische Keratosen der Haut durch natürliche UV-Strahlung) wurde zum 1. Januar 2015 in die Liste der Berufskrankheiten aufgenommen und war daher 2014 noch nicht Teil des statistischen Rankings. Sie wurde ebenso wie die Lärmschwerhörigkeit aufgrund des Votums der Fachgespräche als Schwerpunkt identifiziert. Im Jahr 2020 lag sie auf Platz 35. Zwar ist sie die am dritthäufigsten bestätigte Berufskrankheit und ist branchenübergreifend relevant, weist jedoch eine lange Latenzzeit auf. Dies führt dazu, dass die versicherten Personen 2020 im Durchschnitt bei der Bestätigung der Berufskrankheit knapp 73 Jahre alt waren. Die Gesamtkosten pro Fall sind vergleichsweise gering, da der helle Hautkrebs gut therapierbar ist und die Beeinträchtigungen mit Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit relativ gering sind. Knapp 85 Prozent der Fälle mit Anerkennung beinhalten lediglich Krebsvorstufen in Form von aktinischen Keratosen und Morbus Bowen. Bezüglich der Anzahl der neuen BK-Renten belegte BK-Nummer 5103 im Jahr 2020 den zweiten Platz: In 820 Fällen wurde erstmalig eine rentenberechtigende Höhe der Minderung der Erwerbsfähigkeit festgestellt. Im Jahr 2020 sind 23 versicherte Personen an den Folgen dieser Berufskrankheit verstorben.
Auch die Lärmschwerhörigkeit im Sinne der BK-Nummer 2301 lag im Ranking mit Platz 34 im Jahr 2020 (Platz 33 im Jahr 2014) nicht auf den vorderen Plätzen, obwohl sie die am zweithäufigsten bestätigte Berufskrankheit ist. Die präventive Beeinflussbarkeit gemessen am Alter der versicherten Personen und der Latenzzeit ist nicht sehr hoch. Die Gesamtkosten pro Fall sind ebenfalls vergleichsweise gering. Im Jahr 2020 verstarb niemand an den mittelbaren Folgen dieser Berufskrankheit. 191 versicherte Personen erhielten 2020 eine neue BK-Rente (Platz 8).
Bei den BK-Nummern 5301 und 5103 kann neben der beruflichen Exposition auch die private Einwirkung der versicherten Personen eine Rolle bei der Krankheitsentstehung spielen. Mit präventiven Maßnahmen am Arbeitsplatz wird aus Sicht der Präventionsfachleute auch Einfluss auf das Verhalten der versicherten Personen in der Freizeit genommen. Daher stehen beide Berufskrankheiten kontinuierlich im Fokus der Prävention.
Fazit
Das Projekt Schwerpunktsetzung im Rahmen der Vision Zero hat die hohe Wirksamkeit gezeigt, die eine zentrale Fokussierung und Strategieentwicklung in Kombination mit einer dezentralen branchenspezifischen Konkretisierung entfalten kann, und hat damit wesentlich zur Umsetzung der Vision Zero durch die Unfallversicherungsträger beigetragen. Für zukünftige Vorhaben besteht viel Potenzial in der Zusammenarbeit und Nutzung der Daten anderer Sozialversicherungsträger, um auch andere Risiken und Belastungen im Arbeitsumfeld in eine umfassende Analyse einzubeziehen.