Entwicklung einer Präventionskennzahl zum Ranking von Betriebsstätten

Da Präventionsressourcen einer Unfallversicherung grundsätzlich begrenzt sind, ist die Verteilung von Leistungen zu steuern. Wesentliche Elemente sind Gefährdungen und Leistungen. Gefährdungen sind jedoch nicht direkt messbar und Leistungen müssen in Bezug auf ihre Wirkung gewichtet werden. Der Beitrag erörtert die von der BGHW eingeführte Kennzahl und ihre Weiterentwicklung.

Die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung haben die Durchführung der Maßnahmen zur Verhütung von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren in den Unternehmen zu überwachen sowie die Unternehmer, Unternehmerinnen und Versicherten zu beraten. Nach den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit (§ 69 SGB IV) und wegen der grundsätzlich begrenzten Präventionsressourcen ist dabei jedoch eine Priorisierung erforderlich. Diese muss sich an der primären Aufgabe der Prävention orientieren, mit allen geeigneten Mitteln für die Verhütung von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren zu sorgen. Damit wird die in den Unternehmen herrschende Gefährdung der Versicherten als Ursache dieser Ereignisse zum wesentlichen Maßstab.

Überwachung und Beratung sind jedoch nur ein Teil der Präventionsleistungen. Grundsätzlich ist anzustreben, dass alle Präventionsleistungen gemäß der jeweiligen Gefährdung auf die Unternehmen verteilt werden, soweit sie einzelnen Unternehmen zugeordnet werden können[1] und steuerbar sind[2].

Gefährdung ist eine abstrakte Größe, die auf unterschiedliche Weise konkretisiert werden kann. Dabei sind wesentliche Faktoren sicherlich die Anzahl der Personen, die einer Gefahrenquelle, also den Arbeitsmitteln und -situationen, ausgesetzt sind, sowie ebendiese Gefahrenquellen. Es wäre daher notwendig, diese Gefahrenquellen auf geeignete Weise zu quantifizieren.

Die prospektive Herangehensweise anhand von Gefahrenquellen wirft aber erhebliche Probleme bei der praktischen Umsetzung auf, da auch auf der Ebene der Arbeitsmittel und -situationen kein geeignetes Maß für die Gefährdung verfügbar ist und in aller Regel die für eine Berechnung erforderlichen Detailinformationen dem Unfallversicherungsträger nicht vorliegen. Schon die Anzahl der Personen in den Unternehmen kann von den Unfallversicherungsträgern nicht umfassend erhoben werden.

In der Verwaltungspraxis ist daher seit Bestehen der gesetzlichen Unfallversicherung ein retrospektiver Ansatz etabliert. Die Gefährdungen von Mitarbeitenden eines Unternehmens sind Ursache der Versicherungsfälle, die in diesem Unternehmen aufgetreten sind. Sie bilden zwar nur die Gefährdungen der Vergangenheit ab, sind aber ein geeignetes Maß, wenn die Berücksichtigungszeiträume adäquat gewählt werden. Bei zu langen Zeiträumen können zum Beispiel veränderte Arbeitsverfahren das Ergebnis verzerren. Die Versicherungsfälle sind umfassend dokumentiert und im Zusammenhang mit den Unternehmensinformationen vollständig einer statistischen Betrachtung zugänglich.

Der retrospektive Ansatz bildet in der gesetzlichen Unfallversicherung eine wesentliche Grundlage der Beitragsbemessung.[3] Unter anderem wird er eingesetzt, um über ein Bonus-/Malussystem (Beitragsausgleichsverfahren) Unternehmen mit unterdurchschnittlicher Zahl von Versicherungsfällen zu entlasten oder bei überdurchschnittlicher Zahl zu belasten und damit Präventionsanreize zu setzen.[4] Da die Versicherungsfälle ein breites Spektrum von etwa leichten Prellungen bis hin zu Invalidität und Tod umfassen, ist die reine Fallzahl ungeeignet.  Vielmehr muss nach der Anzahl und nach der Schwere der Unfälle differenziert werden. Hierzu wurde eine grobe Abstufung nach der versicherungsrechtlichen Einstufung entwickelt, wobei die Stufen in ihrem Verhältnis die monetären Aufwendungen in der jeweiligen Gruppe widerspiegeln. Die folgende Rechnung zeigt das am Beispiel der BGHW:

  • Anzeigepflichtiger Unfall (1 Punkt)
  • Unfall mit Verletztengeldzahlung (10 Punkte)
  • Unfall mit Renten- oder Sterbegeldzahlung (50 Punkte)

Werden diese Punkte über einen festen Zeitraum für ein Unternehmen aufsummiert, kann die Punktsumme mit der mittleren Punktsumme aller Mitgliedsunternehmen der BGHW verglichen werden. Deutliche Abweichungen vom Mittelwert in die eine oder andere Richtung zeigen so erhöhte oder verringerte Gefährdungen an. Damit ergibt sich eine erste Gefährdungskennzahl.

Die Zahl der gefährdeten Personen ist in dieser Kennzahl berücksichtigt, weil bei einer gegebenen Gefahrenquelle die Zahl der Unfälle von der Zahl der Personen abhängt, die Kontakt mit ihr hatten.

Gliederung und Gewichtung

Aus der gewählten Gewichtung im Beispiel darf nicht der Schluss gezogen werden, dass ein Unfall mit Renten- oder Sterbegeldzahlung 50 anzeigepflichtigen Unfällen entspräche. Diese Aussage ist einzig in Bezug auf die Kosten gerechtfertigt. Eine wie auch immer geartete Gliederung und Gewichtung von Unfällen darf niemals auf die Fälle an sich bezogen werden. Sie kann ihre Bedeutung immer nur auf den betrachteten Aspekt hin haben.

Der Ansatz der BGHW

Die Prävention der BGHW hat den Algorithmus des Beitragsausgleichsverfahrens der BGHW grundsätzlich übernommen, jedoch Gliederung und Gewichtungen stärker an die Belange der Prävention angepasst. Prävention in der gesetzlichen Unfallversicherung sollte sich primär nicht nur an den Kosten orientieren. Stattdessen sollte sie wesentlich vom ethischen Grundsatz geleitet sein, Leid und Tod mit allen geeigneten Mitteln zu verhindern.

Die gewählte Gruppeneinteilung berücksichtigt auch leichte, nicht meldepflichtige Unfälle und differenziert zwischen erstmals entschädigten (Renten-)Fällen sowie Berufskrankheiten auf der einen und tödlichen Arbeitsunfällen auf der anderen Seite (Tabelle 1). Wegeunfälle werden nicht berücksichtigt.

Die Gewichtung wurde als Folge einer längeren Diskussion von konkreten Basisdaten wie den Kosten losgelöst und gibt eine Gesamtbetrachtung der gewünschten Präventionseffekte wieder. Die Spreizung ist gegenüber dem Beitragsausgleichsverfahren der BGHW um den Faktor 50 größer und bezieht zusätzliche Fälle mit ein, sodass die Spreizung insgesamt bei 25.000 liegt.

Tabelle 1: Gruppeneinteilung und Gewichtung | © Klockmann
Tabelle 1: Gruppeneinteilung und Gewichtung ©Klockmann

Präventionsspezifisch ist ebenfalls die eingefügte zeitliche Entwicklung der Gewichtung. Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass Prävention bei schweren Unfällen unmittelbar aktiv werden sollte. Eine zeitlich verzögerte Untersuchung hat in aller Regel eine deutlich geringere Präventionswirkung – zum einen, weil Unfallsituation und Rahmenbedingungen schlechter rekonstruiert werden können, und zum anderen, weil die Bereitschaft zu Präventionsmaßnahmen kurz nach einem Versicherungsfall vor allem bei schweren Fällen in der Regel höher ist. Der Beitrag schwerer und tödlicher Arbeitsunfälle sinkt daher über den Beobachtungszeitraum von fünf Jahren auf den Wert eines meldepflichtigen Arbeitsunfalls ab.

Für jede Betriebsstätte im Kataster der BGHW lässt sich so aus Unfallart, Gewichtung, Anzahl der Versicherten[5] und zeitlicher Entwicklung die Summe der sogenannten Versicherungsfalläquivalente berechnen. Ein Versicherungsfalläquivalent entspricht einem meldepflichtigen Arbeitsunfall einer Person. Dieses Absolutmaß ist zum direkten Vergleich der Gefährdung in Betriebsstätten grundsätzlich geeignet, enthält aber nicht die Anzahl der gegebenenfalls betroffenen Personen.

Wird die Personenzahl durch Multiplikation des Versicherungsfalläquivalents mit der Versichertenzahl einbezogen, ergibt sich die Anzahl der gewichteten Versicherungsfälle für diese Betriebsstätte. Bildet man das Verhältnis der Punktsumme einer Betriebsstätte zum Gesamtmittel aller Betriebsstätten, erhält man analog zum Beitragsausgleichsverfahren wieder die Gefährdungskennzahl (im Folgenden Score genannt). Die Spanne reicht in der Praxis der BGHW von 0 bis etwa 1.000.

Versicherungsfalläquivalente und Score können auf beliebigen Ebenen gebildet werden – unter anderem auch für ein Unternehmen oder einen Gewerbezweig. Dies wird bei der BGHW genutzt, um über eine Mittelwertbildung der Versicherungsfalläquivalente über die drei Ebenen auch dort einen Score zu bestimmen, wo noch keine Daten für ein Unternehmen oder eine Betriebsstätte vorliegen.

Tausend-Mann-Quote

Die Summe der Versicherungsfalläquivalente kann auch bei der Berechnung der Tausend-Mann-Quote anstelle der Zahl der meldepflichtigen Arbeitsunfälle eingesetzt werden. Dadurch erhält man eine gewichtete Tausend-Mann-Quote, die die Unfallschwere berücksichtigt.

Wird der Score in Beziehung zu einer Präventionsleistung gesetzt, die auf der betrachteten Ebene quantifizierbar ist[6], ergibt sich häufig eine Proportionalität. Dies überrascht nicht, da die Präventionsleistungen sich in aller Regel an Gefährdungen orientieren. Interessant sind deutliche Abweichungen von dieser Proportionalität, insbesondere zu überhöhten Score-Werten hin. Sie sind ein erster Hinweis auf Handlungsfelder, Besonderheiten der Gruppe oder mögliche (aber nicht zwingend) Präventionsdefizite (Abbildung 1). Beim Gewerbezweig mit dem Score 10 in der Abbildung handelt es sich vor allem um die Gruppe der Zusteller. Hier sind häufig geringfügig Beschäftigte auf Dienstwegen unterwegs, die kaum jemals die Betriebstätte oder gar ein Seminar besuchen. In diesem Fall müssen vorrangig andere Präventionsleistungen genutzt werden, um den Score zu senken.

Das langfristige Monitoring des Score wird es in Zukunft auch ermöglichen, frühzeitig Trends zu erkennen und Präventionsleistungen zu evaluieren.

Abbildung 1: Score im Verhältnis zu Teilnehmertagen in BGHW-Seminaren. Das Hauptfeld liegt etwa auf einer durch die Farbgebung angedeuteten Diagonalen. Zwei Gewerbezweige weichen deutlich positiv bzw. negativ ab. ©Klockmann | © Klockmann
Abbildung 1: Score im Verhältnis zu Teilnehmertagen in BGHW-Seminaren. Das Hauptfeld liegt etwa auf einer durch die Farbgebung angedeuteten Diagonalen. Zwei Gewerbezweige weichen deutlich positiv bzw. negativ ab. ©Klockmann

Der aktuelle Stand

Bei der BGHW werden derzeit anhand der jährlichen Betreuungskapazitäten aus dem Score drei Kategorien von Betriebsstätten abgeleitet, die dem Außendienst eine schnelle Orientierung erlauben.

Die erste Kategorie kennzeichnet dabei die jährlich zu besuchenden Betriebstätten mit hoher Gefährdung oder größere Unternehmenszentralen, die über andere Algorithmen dieser Kategorie zugewiesen werden. Die dritte Kategorie mit geringen Gefährdungen wird vor allem von Präventionsberatern und Präventionsberaterinnen in längeren Zyklen aufgesucht.

Der Score wird weiterhin eingesetzt, um bestehende Handlungsfelder zu evaluieren und neue zu identifizieren. Ein Beispiel hierfür ist das oben diskutierte Verhältnis des Scores zu Teilnehmertagen. Ein weiteres Beispiel ist die Korrelation des Scores mit der Anzahl der Überwachungen, was recht gut belegt, dass auch in der Vergangenheit im Wesentlichen die Gefährdung die Überwachungsfrequenz bestimmt hat.

Der Score repräsentiert nur die Gefährdung. Er ist aber bereits ein Maß, das an vielen Stellen eine verbesserte Präventionssteuerung ermöglicht.

Er lässt jedoch noch keine Aussage zur Qualität der Prävention zu. Hierfür ist die Entwicklung einer Präventionskennzahl notwendig, die auch die Präventionsleistungen einbezieht.

Anforderungen an eine zukünftige Präventionskennzahl

Das Ziel einer Priorisierung von Unternehmen oder besser von zu betreuenden Betriebsstätten kann am besten mittels einer einfach anwendbaren, direkt auch zwischen sehr unterschiedlichen Betriebsstätten vergleichbaren Kennzahl erreicht werden. Diese Präventionskennzahl sollte möglichst viele relevante Parameter auf der Gefährdungs- wie auf der Leistungsseite abbilden.

Der Score in der oben beschriebenen Form ist als Maß geeignet und hat in der Präventionsarbeit der BGHW seine Berechtigung. Er kann aber aus verschiedenen Gründen nicht als Präventionskennzahl gelten:

  • Der Score beschreibt nur die Gefährdung. Eine gut betreute Betriebsstätte, die alle Anstrengungen zur Prävention unternimmt, ist bei einer Gefährdungskennzahl gleichgestellt mit einer Betriebsstätte, die nicht betreut wird und selbst keine Prävention betreibt. Dies ist grundsätzlich zwar durch die gleich hohe Gefährdung gerechtfertigt, entspricht aber nicht dem Subsidiaritätsprinzip und benachteiligt Betriebsstätten, die eigene Anstrengungen zur Gefährdungsminimierung unternehmen. Da danach das Verhältnis von Gefährdungen und empfangenen Leistungen für alle Unternehmen annähernd gleich sein sollte, müssen wesentliche Abweichungen von diesem Verhältnis ebenfalls in eine Präventionskennzahl einfließen.
  • Prävention führt zur Minimierung der Gefährdung. Eine Präventionskennzahl sollte also darstellen, welche Leistungen zu dieser Minimierung erbracht werden.

Sollen Gefährdung und Leistung in Beziehung zueinander gesetzt werden, eignen sich Absolutwerte wie die gewichteten Versicherungsfälle oder die Anzahl von Seminartagen nicht. Auf der Seite der Gefährdung ist mit dem Score eine geeignete Größe verfügbar. Auf der Leistungsseite kann grundsätzlich ähnlich vorgegangen werden, indem bestimmt wird, welcher Anteil einer spezifischen Präventionsleistung auf eine konkrete Betriebsstätte entfällt.

Ein fiktives Beispiel mit einfachen Zahlen soll das mögliche Vorgehen verdeutlichen:

In einem Kataster mit 500.000 Betriebsstätten betrage die Gesamtsumme der gewichteten Versicherungsfälle pro Jahr 100.000 Fälle. Eine exemplarische Betriebsstätte mit einem gewichteten Versicherungsfall pro Jahr hätte somit einen (Gefährdungs-)Score von 5, da der Durchschnitt nur bei 100.000/500.000 = 0,2, also einem Fünftel davon, liegt.

Die Anzahl der Überwachungen betrage 50.000 pro Jahr. Wiederum hätte eine Betriebsstätte, die im Jahr einmal überwacht wurde, einen (jetzt Überwachungs-)Score von 10, da für die Überwachung der Durchschnitt nur bei 50.000/500.000 = 0,1, also einem Zehntel davon, liegt.

Wird jetzt das Verhältnis von Gefährdung zu Leistung, also der beiden Scores, gebildet, ergibt sich für die exemplarische Betriebsstätte ein Verhältnis von 5 zu 10, also eine Präventionskennzahl von 0,5. Unsere Betriebsstätte wäre damit besser betreut als der Durchschnitt der Betriebsstätten.

Eine Präventionskonstante

Die Durchschnittswerte der fiktiven Berufsgenossenschaft im Beispiel können auch zu einer Größe zusammengezogen werden, die als konstant angenommen werden kann, da sie die Mitglieder- und Gefährdungsstruktur sowie die Betreuungskapazität widerspiegelt. Diese sogenannte Präventionskonstante läge mit den oben gewählten Zahlen für die beiden Scores bei 0,2/0,1 = 2.

Auf diese Präventionskonstante können nun einzelne Betriebsstätten mit ihren Anteilen an Gefährdung und Leistung normiert werden, indem das tatsächliche Verhältnis durch die Präventionskonstante geteilt wird. Das Ergebnis ist für eine durchschnittliche Betriebsstätte 1 und weicht bei einem ungünstigen Verhältnis (mehr gewichtete Versicherungsfälle/weniger Präventionsleistung) nach oben respektive im umgekehrten Fall nach unten ab.

Im obigen Beispiel mit einer Überwachung und einem gewichteten Versicherungsfall pro Jahr wäre das Verhältnis für die Betriebsstätte gleich 1. Geteilt durch die Präventionskonstante von 2 erhält man wieder wie oben die Präventionskennzahl von 0,5.

Ausblick

Verschiedene Randbedingungen sind für eine zukünftige Umsetzung noch zu diskutieren. So ist festzulegen, wie bei Betriebsstätten zu verfahren ist, die noch nicht oder nicht im vorigen Jahr besucht wurden, da hier das Verfahren nicht zu einem Ergebnis führt.

Bei der Einbeziehung unterschiedlicher Präventionsleistungen sollten außerdem Gewichtungen für jede Leistung eingeführt werden, um ihre unterschiedlich starke Präventionswirkung zu beschreiben.

Grundsätzlich ist dies auch bei weiteren Parametern erforderlich, die eventuell zukünftig hinzukommen – beispielsweise falls es einmal gelingt, Gefährdungen auch prospektiv zu beschreiben.

Eine nach gemeinsamen Maßstäben bestimmte Präventionskonstante könnte als Kennzahl zwischen den Unfallversicherungsträgern entwickelt werden.