Unfallschwerpunkte analysieren durch händische Auswertung von Stichproben
Kenntnisse des Unfallgeschehens im eigenen Zuständigkeitsbereich sind die Voraussetzung für eine gezielte Präventionsarbeit. Die Statistik der Unfallversicherungsträger erlaubt häufig keine detaillierten Rückschlüsse auf ein bestimmtes Unfallgeschehen. Thematisch eingegrenzte Stichproben können durch Auswertung der Unfallakten analysiert werden.
Heterogenes Tätigkeitsspektrum – heterogenes Unfallgeschehen
Je vielseitiger die Gewerbezweige eines Unfallversicherungsträgers aufgestellt sind, desto vielfältiger können auch Unfallschwerpunkte ausgeprägt sein. Zu den Gewerbezweigen der Berufsgenossenschaft Verkehrswirtschaft Post-Logistik Telekommunikation (BG Verkehr) zählen beispielsweise der Güterkraftverkehr, die Entsorgungswirtschaft, Luftfahrt, Binnenschifffahrt und Seeschifffahrt. Die Beispiele lassen erahnen, wie breit das Tätigkeitsspektrum im Zuständigkeitsbereich ist. Charakteristisch für die Gewerbezweige der Transport- und Verkehrswirtschaft ist zudem, dass ein erheblicher Teil der Tätigkeiten nicht in eigenen Betrieben, sondern mobil innerhalb einer Verkehrsinfrastruktur oder in Fremdbetrieben erbracht wird. Die Merkmale der allgemeinen Unfallverschlüsselung orientieren sich naturgemäß stark an Tätigkeiten, die mehr oder weniger ortsfest innerhalb einer Betriebsstätte erbracht werden.
Fragestellungen der Prävention
Aus Sicht der Prävention stellt sich regelmäßig die Frage, auf welche Teile des Unfallgeschehens die Präventionsarbeit bevorzugt konzentriert werden soll. Im Sinn einer Präventionsstrategie können unterschiedliche Gesichtspunkte für die Auswahl von Schwerpunkten herangezogen werden, zum Beispiel besonders schwere und tödliche Arbeitsunfälle (Vision Zero), ein typischer Bezug zu einer Branche (Unfälle beim Be- und Entladen von Lkw), ein Zusammenhang mit bestimmten Tätigkeiten (Instandhaltung, Teilnahme am Straßenverkehr, innerbetrieblicher Transport) oder übergreifende Unfallschwerpunkte, die nicht auf bestimmte Tätigkeiten, Branchen oder einen Schweregrad der Folgen festgelegt sind (Stolpern, Ausrutschen, Stürzen). Um einem derart eingegrenzten Unfallgeschehen eine gezielte Präventionskampagne gegenüberstellen zu können, müssen jeweils typische Ursachen erkannt und gezielt wirkende Maßnahmen abgeleitet werden. Das setzt eine systematische Analyse des jeweiligen Unfallschwerpunktes voraus. Beispielsweise stellen Absturzunfälle von Lkw einen Schwerpunkt dar: Für das Jahr 2020 weist die Unfallstatistik der DGUV 5.423 Absturzunfälle in Zusammenhang mit Lkw, deren Aufstiegen, Aufbauten und Ladeflächen aus – darunter 356 neue Unfallrenten und drei tödliche Arbeitsunfälle. Diese Zahlen sind alarmierend, liefern aber keinerlei Aufschluss darüber, welcher Anteil dieser Unfälle sich beim Ein- und Aussteigen ins Fahrerhaus, bei Tätigkeiten auf Lade- und Arbeitsflächen oder auf hoch gelegenen Arbeitsplätzen (zum Beispiel auf Tank- und Silofahrzeugen) ereignet hat. Ergänzende Informationen sind daher erforderlich, um gezielte Prävention betreiben zu können.
Erweiterung der Statistik auf bekannte Unfallschwerpunkte
Die erste strukturierte Information über einen Arbeitsunfall ergibt sich in der Regel aus einer Unfallanzeige oder aus dem Bericht eines Durchgangsarztes oder einer Durchgangsärztin. Vorwiegend auf diese Dokumente wird auch bei der Verschlüsselung für die allgemeine Unfallstatistik der DGUV zurückgegriffen, für die 6,7 beziehungsweise zehn Prozent der Arbeitsunfälle erfasst werden. Es liegt nahe, diese statistische Erfassung auf ausgewählte bekannte Unfallschwerpunkte auszuweiten. Beispielsweise werden bei der BG Verkehr auf diese Weise Arbeitsunfälle erfasst, die in Zusammenhang mit unkontrolliert wegrollenden Fahrzeugen stehen. Für jeden derartigen Unfall wird ein Datensatz entsprechend der DGUV-Statistik angelegt, der mit einer spezifischen Sonderziffer für „Wegrollendes Fahrzeug“ gekennzeichnet wird. Die Auswertung der Sonderziffer vermittelt nicht nur einen Überblick über das betreffende Unfallgeschehen im aktuellen Bezugsjahr, sondern ermöglicht auch die Darstellung eines zeitlichen Verlaufs, beispielsweise über zehn Jahre. Darüber hinaus stellen die mit der Sonderziffer gekennzeichneten Unfälle eine Stichprobe dar, die durch händische Auswertung der zugehörigen Unfallakten weiter analysiert werden kann. Die Erfassung der Sonderziffern ist jedoch mit erheblichem Aufwand verbunden, da nicht nur der Mikrozensus, sondern sämtliche eingehenden Unfallanzeigen beziehungsweise Durchgangsarztberichte (D-Arztberichte) händisch durchgesehen werden müssen, um entsprechende Unfallhergänge zu identifizieren. Weiterhin ist erforderlich, dass die mit der Verschlüsselung betrauten Personen die mit Sonderziffern versehenen Unfallhergänge aus den Unfallschilderungen herauslesen können.
Händische Auswertung thematisch eingegrenzter Stichproben
Die in Unfallanzeigen und D-Arztberichten enthaltenen Unfallschilderungen sind von sehr unterschiedlicher Qualität. Teilweise werden sie von Hilfspersonal erstellt, das nicht unmittelbar mit den Arbeitsabläufen sowie den technischen und organisatorischen Gegebenheiten vertraut ist. Gelegentlich besteht auch Unsicherheit darüber, ob versicherungs- oder haftungsrechtliche Schlüsse aus der Unfallschilderung gezogen werden. Tatsache ist, dass ein nennenswerter Anteil der Unfallschilderungen nicht aus sich heraus verständlich ist. Die Einsicht in die zugehörige Unfallakte liefert häufig relevante ergänzende Informationen zum Unfallhergang, die sich aus Schriftwechseln oder Stellungnahmen ergeben. Aufgrund des Arbeitsaufwands kann eine Akteneinsicht aber nicht für das gesamte Unfallgeschehen, sondern allenfalls für eine ausgewählte Stichprobe erfolgen.
Dazu wird im ersten Schritt eine Stichprobe aus dem Unfallgeschehen festgelegt. Es bietet sich an, ein bestimmtes Unfallgeschehen durch die Merkmale der DGUV-Unfallverschlüsselung einzugrenzen. Das können zum Beispiel Arbeitsunfälle sein, die sich in der Arbeitsumgebung „Bereich mit der Hauptfunktion Lagerung, Be- und Entladen“ mit dem Tätigkeitsmerkmal „Fahrerinnen und -Fahrer schwerer Lastkraftwagen/Busse“ ereignen. Je nach Bedarf und Interessenlage kann eine Stichprobe aus dem Mikrozensus enger eingegrenzt oder weiter gefasst werden. Eine weitergehende Auswertung der Unfallakten wurde bislang für Stichproben zwischen circa 100 und 1.400 Unfallereignissen realisiert. Dazu wird jeweils ein auf die Stichprobe bezogenes Auswerteschema erstellt, also eine Zusammenstellung von spezifischen Merkmalen, nach denen die zu einem Unfall vorhandenen Dokumente durchgeschaut werden. Die Herangehensweise bedingt zwar einen hohen Arbeitsaufwand, dafür ermöglicht sie aber eine an der DGUV-Unfallstatistik orientierte (kongruente) weitergehende Analyse des Unfallgeschehens. Verwirklicht wurden bislang ausschließlich Einzelauswertungen, also Momentaufnahmen ohne Aussage über die zeitliche Entwicklung eines Unfallgeschehens. Betrachtet wurden zum Beispiel Absturzunfälle von Lkw, Unfälle beim Be- und Entladen von Lkw, neue Unfallrenten, die jeweils weitergehend analysiert wurden. Geplant ist unter anderem die Analyse des Unfallgeschehens für ausgewählte Gewerbezweige der BG Verkehr und für Arbeits- und Wegeunfälle im Straßenverkehr, jeweils bezogen auf den sogenannten Mikrozensus des Unfallgeschehens, der 6,7 beziehungsweise zehn Prozent der Arbeitsunfälle erfasst.
Aufsichtspersonen liefern fachkundige Einschätzungen
Die Ermittlungen von Arbeitsunfällen durch Aufsichtspersonen liefern eine professionell vorselektierte Auswahl an Detailinformationen und beinhalten fachkundige Einschätzungen zu Ursachenzusammenhängen. Es liegt auf der Hand, dass eine gezielte Ermittlung vor Ort einen weit höheren Informationsgehalt liefern kann als die bloße Auswertung eines Unfalls nach Aktenlage. Andererseits werden Unfalluntersuchungen anlassbezogen durchgeführt und ergeben kein statistisch repräsentatives Abbild des Unfallgeschehens. Es bietet sich an, ergänzend zu der statistischen Analyse eines Unfallschwerpunktes die verfügbaren Unfalluntersuchungen als vertiefende Praxisbeispiele auszuwerten und gegebenenfalls erkennbare Trends einzubeziehen. Darüber hinaus kann die statistische Analyse eines Unfallschwerpunktes zum Anlass genommen werden, um gezielt entsprechende Arbeitsunfälle zu untersuchen und dadurch zusätzliche Informationen mit hohem Praxisbezug zu erlangen. Da Unfalluntersuchungen einen guten Einstieg in die Betriebsberatung bieten, können sie als Bestandteil einer Präventionskampagne einen doppelten Nutzen entfalten.