„Vision Zero ist für jedes Unternehmen weltweit einsetzbar“

Wie kann die Vision Zero in der Bauwirtschaft erreicht werden? Dieses Thema steht vom 8. bis 10. Juni 2022 in Berlin im Zentrum des 31. Symposiums der Internationalen Vereinigung für Soziale Sicherheit (IVSS). Professor Karl-Heinz Noetel, Präsident der IVSS im Baubereich, erläutert, was Besucherinnen und Besucher erwartet.

Herr Professor Noetel, welche Ziele verfolgt die „Internationale Sektion der IVSS für Prävention in der Bauwirtschaft“ mit der Veranstaltung dieses Symposiums?

NOETEL: Viele Unternehmen agieren über nationale Grenzen hinweg und sind dabei in jedem Land mit anderen Voraussetzungen konfrontiert. Arbeits- und Produktionsbedingungen können stark variieren – und ebenso das Niveau von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit. Grundsätzlich sind die Herausforderungen für den Arbeitsschutz in allen Ländern ähnlich. Welche Maßnahmen wie umgesetzt und gewichtet werden, kann sich jedoch stark unterscheiden.  

Hier setzt das Symposium an. Es richtet sich an Bauunternehmen, Architektinnen und Architekten, Behörden, Arbeitsschutzorganisationen, Forschungsinstitute, Universitäten, Ausbildungseinrichtungen sowie Bauherren weltweit. Und es hat zum Ziel, Best Practices im Bereich des Arbeitsschutzes auf Baustellen zu definieren. Wir wollen Erfahrungen, neue Ansätze und Innovationen, insbesondere im digitalen Bereich, diskutieren und international bekannt machen. So wollen wir dazu beitragen, die Zahl der Unfälle und Berufskrankheiten auf Baustellen weltweit zu reduzieren, und dem Ziel der Vision Zero näher kommen.

Wie hoch sind die Zahlen für Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten in der Bauwirtschaft in Deutschland und weltweit?

NOETEL: Eine gute Nachricht vorweg: 2020 lag die Zahl der meldepflichtigen Arbeitsunfälle je 1.000 Vollarbeiter in der deutschen Bauwirtschaft erstmals knapp unter 50. Doch das ist immer noch mehr als doppelt so viel wie der Durchschnitt der gesamten Wirtschaft in Deutschland. Auch wenn die weltweiten statistischen Erhebungen nicht immer vergleichbar sind: Die internationalen Zahlen bei den Arbeitsunfällen sind hier ähnlich.

Bei den Berufskrankheiten ist in der deutschen Bauwirtschaft in den vergangenen Jahren ein leichter Anstieg zu verzeichnen. Das liegt insbesondere daran, dass Hautkrebs infolge Sonneneinstrahlung seit 2015 als Berufskrankheit anerkannt wird.

Ein weltweiter Vergleich ist hier aber nicht möglich. Denn die statistische Erfassung ist sehr unterschiedlich, teilweise werden die in Deutschland anerkannten Arten von Berufskrankheiten in anderen Ländern gar nicht erfasst.

Karl-Heinz Noetel: „Um Sicherheit und Gesundheit im Unternehmen zu verbessern, muss man nicht zwangsweise Ausgaben erhöhen.“ | © Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft/Marc Darchinger
Karl-Heinz Noetel: „Um Sicherheit und Gesundheit im Unternehmen zu verbessern, muss man nicht zwangsweise Ausgaben erhöhen.“ ©Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft/Marc Darchinger

Welches sind die größten Risiken bei Bauarbeiten in Deutschland?

NOETEL: Das höchste Risiko verzeichnet die Bauwirtschaft im Bereich der Absturzunfälle. Das Abstürzen, etwa von Dächern, Decken oder Leitern, ist in der Regel mit schweren gesundheitlichen Folgen und menschlichem Leid für die Betroffenen verbunden. Wenige Unfälle verursachen sehr hohe Kosten für die Unternehmen und die betroffenen Unfallversicherungsträger – ein Hinweis darauf, dass die gesundheitlichen Folgen so massiv sind. Ein weiterer Schwerpunkt im Unfallgeschehen liegt bei herabfallenden oder kippenden Teilen sowie bei Maschinenunfällen.

Die häufigsten Berufskrankheiten sind Lärmschwerhörigkeit, Hautkrebs durch Sonneneinstrahlung und Lungenkrebs durch Asbest.

Welche Strategien haben sich besonders bewährt, um schwere Unfälle oder Berufskrankheiten zu reduzieren?

NOETEL: Es gibt viele Strategien, jedoch hat sich die Vision Zero-Strategie als übergreifender Ansatz besonders bewährt. In mehr als hundert Ländern dieser Welt ist sie bereits Bestandteil der Arbeitsschutzpolitik. Vision Zero ist ein Präventionsansatz, der die drei Dimensionen Sicherheit, Gesundheit und Wohlbefinden bei der Arbeit auf allen Ebenen verbindet.

Das Vision Zero-Konzept der IVSS ist flexibel und kann an die Anforderungen für Sicherheit, Gesundheit und Wohlbefinden in jedem denkbaren Umfeld angepasst werden. Deshalb ist Vision Zero für jeden Arbeitsplatz, für jedes Unternehmen und jede Branche in allen Regionen der Welt einsetzbar und nützlich.

In Deutschland hat die BG BAU das Programm „BAU AUF SICHERHEIT. BAU AUF DICH“ ins Leben gerufen. Es geht darum, die Betriebe dabei zu unterstützen, dass alle gemeinsam sicher arbeiten. Wichtige Bestandteile sind die sogenannten „Lebenswichtigen Regeln“ für verschiedene Gewerke, die STOPP-Botschaft und anschauliche Printmedien, die die Versicherten für spezielle Risiken wie beispielsweise Absturz sensibilisieren sollen.

Darüber hinaus können Unternehmen, die in technische Schutzmaßnahmen investieren, Fördermittel durch die BG BAU erhalten. Außerdem unterstützt die BG BAU auch bei der Umsetzung eines Arbeitsschutzmanagementsystems.

Dass wir die Vision Zero im Blick behalten und solche Programme umsetzen, hat maßgeblich dazu beigetragen, in den vergangenen Jahrzehnten die Arbeitsunfälle deutlich zu reduzieren.

Was wurde auf dem Weg zu Vision Zero in den vergangenen Jahrzehnten bereits in der Bauwirtschaft erreicht?

NOETEL: Weltweit hat eine konsequente Anwendung der Vision Zero-Strategie gezeigt, dass die Vision von null Unfällen und Berufskrankheiten in der Arbeitswelt zur Realität werden kann. Sichere und gesunde Arbeitsbedingungen sind nicht nur eine rechtliche und moralische Verpflichtung. Sie lohnen sich auch wirtschaftlich. Investitionen in Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz vermeiden menschliches Leid und schützen unser wertvollstes Gut – unsere physische und psychische Unversehrtheit.

Von besonderer Bedeutung ist auch, dass sich die Vision Zero-Strategie positiv auf die Motivation der Beschäftigten, auf die Qualität von Arbeit und Produkten, auf den Ruf des Unternehmens und auf die Zufriedenheit von Beschäftigten, Führungskräften sowie Kundinnen und Kunden auswirkt und damit zum wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens beiträgt.

Um Sicherheit und Gesundheit im Unternehmen zu verbessern, muss man nicht zwangsweise Ausgaben erhöhen. Viel wichtiger ist es, dass das Management sensibel handelt, widerspruchsfrei führt und ein Klima des Vertrauens und der offenen Kommunikation auf allen Ebenen fördert. Um die Vision Zero-Präventionsstrategie im Unternehmen einzuführen, bedarf es der aktiven Unterstützung und Beteiligung aller Akteurinnen und Akteure im Betrieb.

Eines ist klar: Erfolg oder Misserfolg der Vision Zero-Strategie hängt letztlich von engagierten und motivierten Unternehmerinnen und Unternehmern und Führungskräften sowie wachsamen Beschäftigten ab.

Welche Ziele hat die ISSA für die Zukunft?

NOETEL: Die Internationale Sektion mit derzeit fast 30 Mitgliedsorganisationen weltweit will Unternehmen und Organisationen in der Bauwirtschaft Hilfestellungen an die Hand geben, um schwere Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten weiter zu reduzieren.

Auf unseren Veranstaltungen stellen Expertinnen und Experten vor, wie die Vision Zero auf Baustellen dieser Welt umgesetzt wird. In Konferenzen und Workshops bieten wir den Unternehmen konkrete Hilfestellung, welche Maßnahmen sie selbst einsetzen können. Dazu entwickeln wir auch Leitfäden und eine Sammlung von Best-Practice-Beispielen. Auch das Thema Digitalisierung im Arbeitsschutz nehmen wir in den Blick, etwa im Hinblick auf die Umsetzung von BIM-Anwendungen[1]. 

Das Interview führte Dr. Dagmar Schittly, BG BAU