Keine Verpflichtung zum Online-Apothekeneinkauf nach einem Arbeitsunfall

Die zivilrechtliche Schadensminderungspflicht reicht nicht so weit

§ Landgericht München, Urteil vom 1. April 2022 – 26 O 18070/20

Nach schweren Arbeitsunfällen können Versicherte zum Teil lebenslang und damit Jahrzehnte auf Heil- und Hilfsmittel angewiesen sein. Wenn diese in einer Präsenzapotheke vor Ort gekauft werden, kann es dazu kommen, dass diese zum Teil doppelt so teuer wie bei einem Einkauf in einer Online-Apotheke sind. Wenn nun der Unfallversicherungsträger diese teureren Kosten zahlt und bei einem den Unfall des Versicherten verursachenden Schädiger beziehungsweise dessen Versicherer Regress geltend macht, erheben Letztere häufig den Einwand eines Verstoßes des Versicherten gegen die Schadensminderungspflicht. Ziel des Haftpflichtversicherers des Schädigers ist es dann, den voll zahlenden Sozialversicherungsträgern nur einen Teil der tatsächlichen Kosten zu erstatten – damit die Sozialversicherungsträger den Versicherten veranlassen, online statt in Präsenz einzukaufen, um die Kosten niedriger zu halten. Für Versicherte wiederum, die oftmals ein jahrelanges Vertrauensverhältnis zur Apotheke vor Ort aufgebaut haben und sich dort beraten lassen (können), besteht regelmäßig kein Grund, lieb (und teuer?) gewordene Gewohnheiten zu ändern. Schließlich zahlt der Unfallversicherungsträger den vollen Preis in der Präsenzapotheke und es ist dessen Problem, ob er diesen vollen Preis vom Schädiger/dessen Versicherer erstattet erhält.

Soweit ersichtlich wurde diese Thematik nun erstmals gerichtlich problematisiert. Der Haftpflichtversicherer des Unfallverursachers und damit des Schädigers des Versicherten zahlte nicht den vollen von der Berufsgenossenschaft ausgegebenen Preis der Heil- und Hilfsmittel der Präsenzapotheke, sondern nur den fiktiven niedrigeren Preis der Online-Apotheke. Im konkreten Fall hat nun zunächst das Amtsgericht Ravensburg zum Aktenzeichen 10 C 802/17 mit Urteil vom 28. Juni 2018 einem Verstoß gegen die Schadensminderungspflicht durch den Versicherten eine Abrede erteilt, weil es – wenn auch nur im Einzelfall – für den Versicherten den Einkauf in einer Online-Apotheke für unzumutbar erachtete, selbst wenn der Versicherte seit vielen Jahren die gleichen Produkte regelmäßig wiederkehrend benötigt. Denn der Einkauf über ein vom Versicherer vorgeschlagenes Vergleichsportal bedeutet einen relativ hohen und unzumutbaren Aufwand. Zudem bestünden keine ausreichenden Anhaltspunkte für die Zuverlässigkeit der Online-Apotheke.

Der Haftpflichtversicherer des Schädigers verstand dieses erste Urteil als Segelanweisung, dem Versicherten nicht mehr ein Vergleichsportal, sondern eine konkrete, angeblich zuverlässige und billigere Online-Apotheke zu empfehlen. Es kam daher zu einem zweiten Rechtsstreit, dieses Mal vor dem Landgericht München I, das durch Urteil vom 1. April 2022 ebenfalls zugunsten der Berufsgenossenschaft entschied. Erneut wurde darauf hingewiesen, dass der Versicherte nicht auf eine Versandapotheke verwiesen werden dürfe. Aus dem gesetzlichen Leitbild des Schadensersatzes ergebe sich, dass der Geschädigte Herr des Restitutionsverfahrens sei und eine Verweisung auf vermeintlich günstigere Alternativen nur in Ausnahmefällen zulässig sein könne. Wenn dem Geschädigten ein Verhalten auferlegt werden solle, das den Grundsätzen und der bisherigen Lebensweise des Geschädigten widerspreche, sei dies für ihn unzumutbar.

Auch wenn das Urteil noch nicht rechtskräftig geworden ist – beklagtenseits wurde Berufung zum Oberlandesgericht München eingelegt –, ist zu begrüßen, dass gerichtlich festgestellt wurde, dass der Geschädigte die freie Wahl der Mittel zur Schadensbehebung besitzt. Sicherlich wird in jedem Einzelfall die Zumutbarkeit eines Online-Apothekeneinkaufs zu beurteilen sein. Die jüngeren Generationen mögen hier in Bezug auf die Zumutbarkeit im Nachteil sein, weil man Versicherten, die alles online kaufen, eher zumuten darf, auch Heil- und Hilfsmittel so günstig wie möglich zu beschaffen. Voraussetzung ist aber auch hier der Nachweis der Zuverlässigkeit der Online-Apotheke. Denn auf das billigste Angebot allein ohne Zuverlässigkeit der Apotheke muss sich niemand verweisen lassen. So weit reicht auch die zivilrechtliche Schadensminderungspflicht nicht.