Wer macht was? Ein Richter ärgert sich
„Das Gericht überprüft die Entscheidung der Verwaltung von Amts wegen und ‚ersetzt‘ hierbei nicht die fehlende Sachverhaltsaufklärung.“ „Im Zuge der Gewaltenteilung ist es eine wichtige Aufgabe der Gerichte, auch die Verwaltungspraxis auf verfahrensrechtliche und tatsächliche Fehler hin zu überprüfen und im Rahmen der geltenden Gerichtsordnungen zu handeln.“
§ Sozialgericht Hamburg, Gerichtsbescheid vom 7. Mai 2021 – S 40 U 292/20 – juris
Bei einem Basketballspiel am 22. Dezember 2019 verspürte der Kläger, ein Profibasketballer, ein Schnappgefühl im rechten Handgelenk mit anschließendem Schmerz. Bei einer Operation unter der Diagnose einer habituellen Sehnenluxation wurde eine Überbeweglichkeit der Sehne festgestellt. Der zuständige Unfallversicherungsträger lehnte, ohne ein medizinisches Gutachten einzuholen, einen Arbeitsunfall ab. Einerseits sei ein konkretes Unfallereignis nicht feststellbar; andererseits handele es sich bei der Überbeweglichkeit der Sehne um eine Schadensanlage, die bereits so stark und so leicht ansprechbar gewesen sei, dass die Auslösung akuter Erscheinungen keiner äußerer Einwirkung bedurfte, sondern dass jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis zu derselben Zeit die Erscheinung ausgelöst hätte. Nach einem erfolglosen Widerspruchsverfahren – wiederum ohne die Einholung eines medizinischen Gutachtens, sondern (nur) mit einer beratungsärztlichen Stellungnahme – kam die Angelegenheit zum Sozialgericht (SG) Hamburg, das die Entscheidungen des Unfallversicherungsträgers aufhob und die Sache zurückverwies mit der Aufforderung, ein medizinisches Gutachten einzuholen, ohne das die Angelegenheit nicht entschieden werden könne.
Im Rampenlicht steht hier eine Norm, die sonst eher ein Schattendasein fristet: § 131 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Danach kann das Gericht, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, behördliche Entscheidungen aufheben, wenn es weitere Sachaufklärung für erforderlich hält, „soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist“.
In der Auseinandersetzung mit den hier zentralen Begriffen der „Erheblichkeit“ der Ermittlungen und der „Sachdienlichkeit“ der Aufhebung, die zum Teil entgegen der überwiegenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur interpretiert werden, thematisiert das SG Hamburg auch grundsätzlich die Arbeitsverteilung von Exekutive und Judikative im Bereich medizinischer Ermittlungen. Ausgehend von der im vorliegenden Fall zwingend notwendigen medizinischen Begutachtung sei das Vorgehen des Unfallversicherungsträgers, also die Nichteinholung eines medizinischen Gutachtens, rechtswidrig; eine mit „Suggestivfragen“ (Rn. 43) versehene Anfrage an die Beratungsärztin könne das nicht kompensieren.
Die (eigene) gerichtliche, im pflichtgemäßen Ermessen stehende Amtsermittlung bezüglich der Einholung medizinischer Gutachten könne nicht dazu führen, dass der Unfallversicherungsträger insoweit von seiner Ermittlungsarbeit entlastet werde. Die gegenteilige Ansicht, das Gericht müsste „sowieso“ selbst ermitteln, wodurch die notwendige Sachaufklärung des Unfallversicherungsträgers nicht mehr erfolgen müsse, sei „ein eklatanter Verstoß gegen die Amtsermittlungspflichten nach den §§ 20, 21 SGB X (…) und würde dem Grundsatz der Gewaltenteilung gänzlich zuwiderlaufen. Das Gericht überprüft die Entscheidung der Verwaltung von Amts wegen und ,ersetzt‘ hierbei nicht die fehlende Sachverhaltsaufklärung“ (Rn. 46).
In dieser Passage – und nicht nur hier – wird deutlich, wie sehr sich der Richter über die Haltung des Unfallversicherungsträgers geärgert haben muss, notwendige Ermittlungsarbeit in Richtung des Gerichts zu verschieben. Ein Blick in die Gesetzesbegründung zu § 131 Abs. 5 SGG gibt dem sich ärgernden Richter recht; dort lesen wir: „(…) um dem Gericht eigentlich der Behörde obliegende zeit- und kostenintensive Sachverhaltsaufklärungen zu ersparen. Nach Beobachtungen der Praxis wird die erforderliche Sachverhaltsaufklärung von den Verwaltungsbehörden zum Teil unterlassen, was zu einer sachwidrigen Aufwandsverlagerung auf die Gerichte führt“ (BT-Drucks. 15/1508, S. 29).
So berechtigt also das Streben des Unfallversicherungsträgers nach einem schlanken und zügigen Verwaltungsverfahren ist, so berechtigt ist auch der Blick darauf, dass das Verwaltungsverfahren für sich genommen vollständig respektive rechtmäßig abläuft, ohne auf ein sich möglicherweise anschließendes Klageverfahren „zu schielen“. Das hat neben der grundsätzlichen Dimension der Dinge einen ganz einfachen Grund: Es klagen ja nicht alle – noch dazu vor einem Richter, der sich „gewaltenteilungsorientiert“ ärgert.